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Die Reise nach Marseille.

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Es war im November des Jahres 1894, als ich in Stuttgart zwei Österreicher kennen lernte, mit denen ich in einem Gasthaus zusammensaß. Ein fremder Herr gesellte sich zu uns und mischte sich alsbald in unsere Unterhaltung. Die „Dreyfuß-Affäre“, welche sich seinerzeit in Frankreich abspielte und das Tagesgespräch bildete, war auch der Mittelpunkt unserer Unterhaltung. Der fremde Herr behauptete Frankreich gut zu kennen, da er in französischen Diensten gestanden sei. Er zeigte uns denn auch seine Fotografie als Soldat in französischer Uniform. Wir lauerten gespannt seinen Worten, weil er uns die afrikanischen Verhältnisse in den schönsten Farben schilderte. Er musste bemerkt haben, dass wir ihm großes Interesse entgegenbrachten, und wir waren unvorsichtig genug, ihm zu verraten, dass wir nicht wenig Lust hätten, das Angenehme seiner Erzählung selbst durchzukosten. Der leichte Dienst, die rasche Beförderung, das billige Leben, der gute Wein, viel Freiheit, das alles verlockte uns, in französische Dienste zu treten. Als der Fremde uns verließ, wünschte er uns Glück und drückte jedem freundlich die Hand. Mein Entschluss war fertig; ohne weiteres zu denken verließ ich meine Stellung und ohne meine Angehörigen in mein gewagtes Vorhaben einzuweihen — denn dann wäre natürlich nichts daraus geworden — zog ich von dannen. Am andern Morgen suchte ich zuerst die beiden Österreicher auf und fand sie auch „reisefertig“. Es war am 1. Dezember 1894, ein freundlicher, sonniger Tag, als wir frohgemut der schönen Residenz und der Heimat adieu sagten; unterwegs plauderten wir von dem Schönen und Guten, das unser wartete. Inzwischen hatten wir die badische Grenze hinter uns und nach einem kleinen Imbiss, den wir in der Reisetasche mitführten, kamen wir in Straßburg an. Die an Sehenswürdigkeiten reiche Stadt und mein Bekanntenkreis verlangten einen längeren Aufenthalt. Am 4. Dezember nachmittags setzten wir unsere Reise fort über Colmar, Mülhausen, Altmünsterol und langten abends 8 Uhr in Belfort an. Beim Wagenwechsel in Altmünsterol schlichen wir uns von den deutschen Bahnbeamten ungesehen zwischen den Geleisen in den danebenstehenden Zug nach Frankreich. Im Coupé versteckten wir uns unter den Sitzplätzen und verharrten dort, bis der Zug sich in Bewegung setzte. In Petite Croix stieg ein französischer Arzt in unser Abteil ein, er redete uns an, wir konnten ihm aber, weil wir der französischen Sprache nicht mächtig waren, keine Antwort geben. Wir sagten zu ihm, wie uns der fremde Herr in Stuttgart instruiert hatte: „Nous voulons nous engager à la légion etrangère en Algérie.“ Als er diese Worte vernahm, kannte er unsern Plan und sagte: „Attendez jusqu‘ à Belfort.“ Es war Nacht geworden, ein kalter Regen peitschte gegen die Fenster, wenig dazu beitragend, um unsere Gemüter für das Kommende zu erheitern, denn schon begann es mir im stillen über meine heimliche Abreise von der Heimat Vorwürfe zu machen. Der Zug fuhr in Belfort ein. Wir stiegen aus und folgten dem Arzt, der uns in der Rue de la gare eine Wirtschaft anwies. Der Wirt bemerkte sofort, dass wir Deutsche waren, sprach mit uns deutsch und fragte, was uns nach Belfort führe. Ich sagte, dass wir hierhergekommen sind, um in die Legion engagiert zu werden. In der Meinung, dass Bewerber für Algier zechfrei gehalten werden, wie es uns von dem Herrn in Stuttgart versichert wurde, wollten wir uns unbezahlt entfernen. Wir wurden aber schnell eines andern belehrt. Die Wirtsleute und deren dienstbare Geister packten uns beim Ärmel und machten auf Französisch einen Mordsskandal.

Die Ruhe konnte erst wieder hergestellt werden, nachdem ich dem Wirt 5 Frs. einhändigte. Nach dieser ersten Enttäuschung verließen wir die Wirtschaft. Auf dem Weg zum Bahnhof fragten wir einen agent de police, wo die Freibillette zum Übernachten erhältlich sind, er gab uns zu verstehen, dass es zu spät sei. Wiederum mussten wir auf unsere Kosten ein Nachtquartier aufsuchen. Er bot uns seine Dienste an und begleitete uns zu dem in der Nähe des Bahnhofs gelegenen Gasthaus von Geschw. Müller, wo wir von den deutschen Frauen freundlich aufgenommen wurden. Sehr ermüdet, die Aufregung, das Gespanntsein auf das Kommende ließ mich nicht in Schlaf kommen.

Ich war froh, als der Tag graute. Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg zum Werbebüro. Bei der Mairie begegnete uns ein Offizier, ich hielt denselben an und bat um Auskunft, wo das Büro sich befindet, er schien mich nicht zu verstehen, denn er lief seinen Weg weiter. Bereits eine Stunde schlenderten wir in dem unfreundlichen alten Stadtteil und bei den Festungen herum, bis wir endlich von einem Wirt in der Nähe der Trainkaserne Bescheid erhielten.

In einem schmutzigen dunklen Winkel bemerkten wir das Rekrutierungsbüro, welches mit großen Buchstaben weithin sichtbar bezeichnet war. Beim Eintreten in das Dienstzimmer wurden wir freundlich begrüßt, bekamen Stühle angeboten und mussten warten bis der Militärarzt Visite abhielt. Nach einer halben Stunde erschien der Arzt, der tags zuvor in unserm Coupé die Fahrt nach Belfort machte. Wir wurden gemustert und für tauglich befunden, gleichzeitig mit noch drei jungen Leuten, die sich auch für die Legion anwerben ließen. Nun wies man uns in das daneben befindliche Zimmer, wo ein alter Infanterie-Kapitän an seinem Schreibtisch stand. Seine strengen Gesichtszüge flößten uns gewaltigen Respekt ein, vollends als er in militärischem Ton auf Deutsch uns Instruktionen erteilte, wie wir uns auf der Reise und im Regiment verhalten müssen. Wir hörten aufmerksam seine Ermahnungen an, beim Weggang drückte er jedem die Hand und wünschte uns eine gute Ankunft in Sidi-Bel-Abbés.

Vor der Türe wartete schon ein Korporal im Dienstanzug, um uns zur Intendantur zu führen, wo wir einen Kontrakt auf 5 Jahre lautend mit unserer Unterschrift beglaubigen mussten. Unter uns 6 Mann befand sich auch ein junger, schlechtgekleideter 17 jähriger Mensch, welcher erzählte, er sei schon 4 Wochen auf der Landstraße und könne keine Arbeit finden. Er war Sattler.

Aus diesem Grund habe er sich entschlossen, nach Afrika zu gehen, jedoch fein knabenhaftes, schwächliches und mageres Aussehen ließ befürchten, dass er den bevorstehenden Strapazen wohl nicht gewachsen sein dürfte.

Er erzählte ferner von seinem Schicksal: elternlos und arbeitslos habe er seine Vaterstadt Wien verlassen. Sein Name war Ladislaw.

Meine Befürchtung hat sich leider bestätigt. Den grässlichen Tod, den er nach einem Dienstjahr selbst suchte, werde ich später schildern.


Belfort und der Löwe.


Marseille: Fort St. Jean.

Nachdem ich nun für 5 Jahre verkauft war, und mit der Versicherung, von heute ab auf Staatskosten verpflegt zu werden, ging ich auf die Mairie, dort erhielt ich einen Schein für ein Mittag- und Abendessen, ebenso ein Quartierbillett. Hier schon muss ich bemerken, dass die Liebenswürdigkeiten der Anwerber und Offiziere, die Räumlichkeiten, überhaupt alles, nur Lockvögel für unerfahrene Bewerber der Fremdenlegion sind, bis zu dem Augenblick, wo man seine Unterschrift abgegeben hat. Ist das geschehen, o weh, wo sind jetzt die freundlichen Gesichter? Nichts von dem vielen Versprochenen wird eingelöst! Jammer und Elend öffneten mir die Augen, nur zu rasch war ich mir klar über den furchtbaren Schritt, den ich gewagt — es war zu spät. Schon beim Eintreten in das Speisehaus verging mir der Appetit, ich war neugierig, aus was meine Mahlzeit bestehen werde. Ein alter Invalide servierte uns und brachte einem jeden einen hochaufgetürmten Blechteller mit Brotsuppe und Kartoffeln. Als mir der mangelhaft gereinigte Essnapf vorgestellt wurde, verging mir der Appetit und unzufrieden verließ ich den Speisesaal und ging in das daneben befindliche Restaurant, um eine kräftige Suppe zu genießen.

Der Wirt wusste schon Bescheid, dass ich ein Bewerber der Legion bin. Er erzählte mir, dass er selbst 15 Jahre im 1. Regiment gedient habe, er sei Adjutant gewesen und habe sich in den Kolonien Tonkin, Dahomey und Sudan 5 Auszeichnungen erfochten, darunter die Medaille militaire, welche er in Kleinformat in seinem Rockkragenknopfloch am gelben mit zwei grünen Streifen durchwirkten seidenen Band trug. Der alte Krieger, eine magere kräftige Gestalt, sprach gut Deutsch, er gab mir verschiedene Anhaltspunkte auf die Reise mit, die Zeche schenkte er mir mit der Bemerkung, dass es ihn freuen würde, wenn ich nach Beendigung meiner Dienstzeit ihn wieder besuchen würde.

Ein fröhliches Wiedersehen wünschend nahm ich Abschied, suchte meine Waffenbrüder auf und fand sie am Ofen sitzend im Speisehaus.

Es war abends 8 Uhr, als man uns das Nachtlager anwies, es war ein altes von den Kugeln der Deutschen im Jahre 1870 durchlöchertes morsches Gebäude. Halsbrecherische Treppen führten zu den Räumlichkeiten empor; um unser Ziel zu erreichen brauchten wir ein Schächtelchen Zündhölzer. Ein halbes Dutzend von Schmutz und Ungeziefer starrender Betten harrte unser. Der Wind pfiff heulend durch die Dachziegel und klatschend fiel ein eisiger Regen darauf, dass es mir grauste. Ich konnte nicht viel schlafen, auch den andern ist es nicht besser gegangen. Mit einem unbeschreiblichen Gefühl stand ich bei Tagesgrauen auf und marschierte sinnend und frierend auf und ab. Um 8 Uhr legten wir unsere Decken zusammen und nahmen herzlich gerne von dieser unheimlichen Schlafstätte Abschied. Indessen kam ein Korperal, der uns nochmal zur Intendantur brachte, um die Aufnahmeformalitäten und das Signalement vollends zu erledigen.

Anschließend erhielt jeder von uns 3.75 Frs. Das war die Reisezehrung für die 10 stündige Fahrt nach Marseille. Der Korporal begleitete uns zur Bahn und während wir den Zug bestiegen, wartete er so lange, bis wir abgefahren waren. An ein Entweichen war von jetzt ab nicht mehr zu denken, denn die allgemeine Fahrkarte für die Legionssoldaten war gut erkennbar, so dass es unmöglich wäre, unbeachtet die Bahnsteigsperre zu passieren. Von Lyon ab benützten wir den Schnellzug und kamen über Valence, Avignon und Rognac bei Sonnenuntergang in Marseille an. Am Bahnhof wartete schon ein Sergeant auf uns, von diesem erkannt, mussten wir unsere Reisepapiere abgeben und ihm nachfolgen.

Einen unvergesslich schönen Anblick bot diese Stadt im Glanz der untergehenden Sonne, die über den Hafen und den Wald von Schiffsmasten herübergrüßte. Vom Bahnhof führte der Weg durch eine steile, schlecht gepflasterte Straße, durch die eine wimmelnde Menschenmenge dahinzog, bis wir am Transport-Sammelhaus ankamen. Es ist ein Gebäude, welches an Größe und Höhe das Belforter weit überragte. Nachdem wir nochmal verlesen waren, führte uns der Sergeant drei Treppen hoch hinauf in die Kantine der Angeworbenen. Einen Höllenlärm vernahm ich aus dem großen Saal, als ich die Türe öffnete, hier strömte ein hässlicher Geruch vermischt mit Tabakrauch heraus, vor dem ich angeekelt zurückwich. An langen Tischen saßen nahezu 100 Legionäre, die sich mit Kartenspielen die Zeit vertrieben und dabei den schweren Wein wie Wasser hinunterschlürften. Wir neue Ankömmlinge hatten kaum Zeit, etwas zu genießen, so musste alles antreten, um eine Decke für die Nacht in Empfang zu nehmen. Nochmal wurde ein Appell abgehalten, und so wie man gerufen wurde, ging einer hinter dem andern noch zwei Treppen empor, um in dem großen Schlafsaal irgendein Bett für sich zu belegen.

So viele Mäuse und Ratten wie dort habe ich nie in meinem Leben gesehen. An ein Schlafen war nicht zu denken, da man befürchten musste, mit denselben ernstlich in Konflikt zu kommen. Wir waren herzlich froh, als wir am andern Tag nach der Festung St. Jean übersiedelten. Dieses ist ein Sperrfort, durch das jahrzehntelang Frankreichs Kolonialtruppen ziehen. Dort fingen mir die Augen erst recht an aufzugehen, als ich in einer Höhe von 40 Metern den Meereswellen zuschaute und die schrecklichen Zustände beobachtete, die auf dem Fort herrschten. Hier hatte ich erstmal Gelegenheit das Wort „corvée“ kennen zu lernen, unter welchem man Arbeitsdienst versteht. In dieser Beziehung wird der junge Soldat gleich gut ausgebildet, da „corvées“„ den ganzen Tag auf der Festung auszuführen sind, z. B. Zusammenlesen der Steine, Kehren und Wassertragen; letztere ist auch im Regiment die unangenehmste und am meisten verhasste corvée. Lässt sich der junge Soldat das geringste Vergehen zuschulden kommen, wird er dem Kommandanten vom Fort gemeldet, dieser macht einen Bericht ans Regiment, so dass der Neuling gleich nach seiner Ankunft in Arrest wandert.

Die „Fütterung“ der bisher gut ernährten Legionäre lässt viel zu wünschen übrig. In großen Blechschüsseln wird das Essen aus der Küche geholt, inzwischen haben sich 10 Mann vereinigt und vertilgen mit wahrem Heißhunger den Inhalt der Schüssel. Da die meisten keine Essgeschirre besitzen wie Teller und Löffel, so nehmen sie ungeniert die Hände, was die andern Umsitzenden nicht im Geringsten genieren darf. Ehe ich mich besann, ob ich an dieser Mahlzeit teilnehmen solle, war die Schüssel schon leer. In dieser Herberge wo ein Entweichen ausgeschlossen ist, verbrachten wir zwei Tage.

Fünf Jahre Fremdenlegionär

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