Читать книгу Charakter - Christian Nürnberger - Страница 4

1. Warum es ohne Charakter nicht geht

Оглавление

Im Sommer 2008 wurde die Kaste der Manager von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gegen öffentliche Kritik verteidigt.3 Der Anlass: Die Siemens-Spitze zahlte Schmiergelder, bei der Telekom gab es einen Schnüffelskandal, der Ex-Post-Chef Klaus Zumwinkel wurde vor Fernsehkameras von einer Staatsanwältin abgeführt und wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe angeklagt – und die Öffentlichkeit begann, über die «Moral der Manager» zu diskutieren.

Politiker, Bischöfe, Autoren von Leitartikeln, sogar Wirtschaftsjournalisten und mittelständische Unternehmer gaben kritische Statements zum bunten Treiben der Manager ab und fragten nach deren charakterlicher Eignung für Führungspositionen. Und da schrieb die FAS: Bitte aufhören mit dem Moralisieren, Manager brauchen keine Moral.

Begründung: «Die Marktwirtschaft schafft Wohlstand und erweitert durch Innovation und Wachstum die menschlichen Freiheitsoptionen unabhängig von der Frage, ob die handelnden Akteure einen guten oder schlechten Charakter haben. Eine Gesellschaft muss nicht erst moralisch gebessert werden, um wirtschaftlich zu funktionieren.»4

Dann kam der 15. September 2008, der Tag, an dem in New York die Investment Bank Lehman Brothers zusammenbrach. Seitdem passieren Dinge, die unter dem etwas harmlosen Begriff «Finanzkrise» subsumiert wurden und uns noch lange beschäftigen werden. Zu diesen Dingen gehört auch die Griechenland- und die Eurokrise, und während wir dieses Buch im Sommer 2010 zu Ende bringen, beginnt in Deutschland und Europa das Sparen bei denen, die an dieser Krise vollkommen unschuldig sind, und es sind Schulden gemacht worden, die noch unsere Enkel abtragen werden.

Heute würde vermutlich keine Zeitung mehr zu schreiben wagen, der Charakter von Managern brauche uns nicht zu interessieren. Denn was sich in den letzten Jahren an den Weltbörsen zugetragen hat, war etwas weit Gravierenderes als nur deren Verwandlung in ein globales Spielkasino. Im Spielkasino riskieren die Spieler ihr eigenes Geld. An den Börsen haben die Zocker Geld verspielt, das ihnen nicht gehörte. Im Spielkasino verliert man Geld, sonst nichts. Durch die Machenschaften an den Börsen verlieren Menschen ihre Arbeitsplätze, mittelständische Unternehmer ihre Unternehmen, Arbeitnehmer ihre soziale Sicherheit, Regierungen Gestaltungsmöglichkeiten, und verschuldete Städte und Gemeinden büßen an Lebensqualität ein. Allein schon aufgrund dieser Erfahrung haben wir uns für die Moral und den Charakter der Manager zu interessieren.

Es kommen aber noch ein paar weitere Vorfälle hinzu, die sich zeitgleich ereigneten, die Öffentlichkeit erregten und einen indirekten, aber sehr intimen Bezug zur Finanzkrise haben: In Konstanz wurde eine 58-jährige Altenpflegerin fristlos gekündigt, weil sie sechs für den Müll bestimmte Maultaschen mitgenommen hatte. Beim Baugewerbeverband in Dortmund sollten zwei Sekretärinnen gehen, weil sie insgesamt vier Brötchenhälften und eine Frikadelle von einem Büfett genommen hatten. Eine Metallfirma in Oberhausen feuerte einen Mitarbeiter, weil er sein Handy am Arbeitsplatz aufgeladen hatte. In Remscheid musste eine Supermarktverkäuferin gehen, weil sie Damenbinden im Wert von 59 Cent aus dem Regal nahm. Und in Hannover entließ die Caritas eine schwerbehinderte Pflegehelferin, weil sie eine Portion Teewurst aus der Heimküche gegessen hatte.5 Am berühmtesten wurde der Fall der Supermarktkassiererin Emmely, der wegen der Unterschlagung von zwei Leergut-Bons im Wert von 1,30 Euro gekündigt worden war.

In allen Fällen argumentierten die Arbeitgeber mit dem «Vertrauensverhältnis», das durch die Vorfälle «zerrüttet» worden sei. Verständnis für diese Sichtweise bekundete auch die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG), Ingrid Schmidt. «Es gibt keine Bagatellen», sagte sie im Interview mit der «Süddeutschen Zeitung». Arbeitnehmer, die ihrem Arbeitgeber etwas entwenden, zeigten ein Verhalten, das «mit fehlendem Anstand» zu tun habe.

Wenn also kleine Angestellte Pfandbons oder Maultaschen an sich nehmen, nennt man das Betrug und schweren Vertrauensbruch und bestraft es mit Entzug der Existenzgrundlage. Wenn schwerreiche Investmentbanker das Geld anderer Leute verzocken, Milliardenschäden anrichten und ganze Bankhäuser in den Orkus schicken, dann bezeichnet man das als «Systemfehler», für den jene, die ihr hohes Gehalt mit ihrer hohen Verantwortung rechtfertigen, persönlich nicht verantwortlich sind.

Wir teilen durchaus die strenge Sicht der BAG-Präsidentin Ingrid Schmidt. Man sollte von jedem erwarten, dass er sich auch bei Kleinigkeiten korrekt verhält. Dafür sollte man dann aber auch erwarten dürfen, dass sich Banker und Manager ebenso korrekt verhalten, wie es die Bundesrichterin von der Supermarktkassiererin verlangt.

Dass dem nicht so ist, hängt mit der im Vorwort gemachten Feststellung zusammen, dass unsere nationalstaatlich verfassten Demokratien nicht mehr so ganz auf die Wirklichkeit passen. Das Volk, der Souverän in allen demokratischen Verfassungen, ist in Zeiten der Globalisierung nicht mehr so souverän, wie es sein sollte. Daher beschleicht immer mehr Bürger das Gefühl, dass nicht mehr sie es sind, die in freien Wahlen darüber bestimmen, wie sie leben und arbeiten wollen, sondern der Markt. Dem kann es egal sein, wer unter ihm als Kanzler oder Präsident die sogenannten Sachzwänge vollstreckt und deren Opfer nachsorgend betreut. Die Märkte haben die eigentliche Gestaltungsmacht, aber leider keinen Plan von der Zukunft, sondern nur kurzfristige Gewinninteressen, die uns langfristig in eine Zukunft führen, die niemand gewollt haben wird.

Demokratisch gewählte nationale Regierungen sind der Komplexität weltweit vernetzter, voneinander abhängiger und sich gegenseitig beeinflussender Volkswirtschaften nicht mehr gewachsen. Alan Greenspan hat die Europäer nicht gefragt, ob sie seine Politik des billigen Geldes gutheißen. Der deutsche Steuerzahler ist nicht schuld an der amerikanischen Immobilienblase und dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, er kann nichts dafür, dass Typen mit Harvard-Abschluss und MBA die Börse zu einem Kasino umfunktionierten und das Geld verzockten, das bei ihm jetzt eingesammelt wird. Man hat bis vor kurzem nicht gewusst, wie stark deutsche Landesbanken in diese üblen Geschäfte verstrickt waren. Wir werden für die Schuldenpolitik aller griechischen Regierungen in die Pflicht genommen, und der Alleinerziehenden wird nun gesagt, dass sie auf den versprochenen Kita-Platz warten muss. Nicht nur für Kitas fehlt das Geld. An allen Ecken und Enden, im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden muss gespart werden wie noch nie, und zugleich steigen Gebühren, Sozialabgaben und sehr wahrscheinlich auch wieder die Steuern.

Wir sind nicht mehr Herr im eigenen Haus. Daher fällt es Politikern zunehmend schwerer, steuernd und gestaltend in das Weltgeschehen einzugreifen. Die viel zu vielen Kameras, die sich auf die Präsidenten, Kanzler, Minister und Ministerpräsidenten richten, zeigen hochverschuldete Könige ohne Macht, abhängig von Medien, Stimmungen, Lobbyisten, Parteifunktionären, Koalitionspartnern, Provinzfürsten, anderen Regierungen und Investitionsentscheidungen.

Wenn Europas Regierungen am Monatsende alle Beamtengehälter und -pensionen bezahlt haben, wenn Sozialtransfers, Zinsen, Tilgung und alle weiteren Fixkosten überwiesen wurden, dann bleibt kein Euro mehr übrig für die Gestaltung der Zukunft. Dafür müssen sie neue Schulden machen.

Aber selbst wenn sie keine Schulden hätten, wären die meisten Staaten nur noch eingeschränkt fähig, die Zukunft zu gestalten, denn siebenundzwanzig europäische Nationen haben sich zu einem Staatenbund namens EU zusammengeschlossen und damit Teile ihrer Souveränität nach Brüssel abgetreten. Dort, und nicht mehr in Berlin, Paris, London und den übrigen Hauptstädten der teilsouveränen Staaten, werden jetzt, für den EU-Bürger schwer kontrollierbar, Entscheidungen mit weitreichenden Folgen getroffen. Dort müssten eigentlich die vielen Fernsehteams ihre Kameras auf die EU-Kommissare, EU-Bürokraten und vor allem die zehntausend Lobbyisten um sie herum richten – jene unbekannten Gesichter, welche die Zukunft stärker bestimmen als die bekannten Politiker in den nationalen Hauptstädten.

Daher stehen wir heute vor einer Jahrhundertaufgabe: der Rückeroberung der Gestaltungsmacht durch den in den Verfassungen eigentlichen Souverän, das Volk. Ob und wie das unter den Bedingungen der Globalisierung gelingen kann, wissen wir noch nicht, aber versucht werden muss es. Erfolge, wenn es sie je geben sollte, werden jedoch Jahrzehnte auf sich warten lassen.

Bis dahin müssen aber weiterhin Probleme gelöst, Gefahren gebannt, Regeln eingehalten werden, und genau deshalb kommt es ab sofort auf jeden Einzelnen an. Nationale Regierungen sind jetzt auf unser aller Hilfe angewiesen. Nicht nur auf die Mächtigen und Reichen dieser Welt kommt es an, sondern auch auf uns Normalbürger, die vielen kleinen Lohnsteuerzahler, Sozialversicherten, Konsumenten, Sparer und Kleinanleger. Von unserem Anstand und Charakter wird abhängen, ob wir die Probleme in den Griff bekommen.

So gut wie jede banale Konsumentscheidung – für oder gegen das Ei vom Huhn aus Käfighaltung, für oder gegen Himbeeren im Winter, für billigen Atom- oder teuren Ökostrom, für Billigware aus China oder teure Qualität aus regionaler Produktion, für oder gegen Rindfleisch aus Argentinien – hat Folgen für die Welt und kommt daher einem politischen Akt gleich.

Ob wir die explodierenden Gesundheitskosten in den Griff kriegen, hängt nicht nur vom jeweiligen Gesundheitsminister ab, sondern auch davon, ob jeder Einzelne sich gesund ernährt, sich ausreichend bewegt und die Gesundheitsdienste nur dann beansprucht, wenn er sie wirklich braucht. Es hängt davon ab, ob jeder einzelne Arzt korrekt abrechnet und sich bei der Verschreibung von Medikamenten und Therapien nicht von den Bestechungsgeschenken der Pharmalobby leiten lässt, sondern vom medizinisch Gebotenen. Es hängt davon ab, ob es gelingt, jeden Einzelnen so gut auszubilden, dass er seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen und in die Sozialkassen einzahlen kann, statt diese zu belasten. Es hängt davon ab, ob es gelingt, Menschen so zu erziehen, dass sie bestrebt sind, durch Eigeninitiative möglichst schnell auf eigenen Beinen zu stehen. Dazu gehört dann aber auch die Bereitschaft der Arbeitgeber, anständige Löhne zu zahlen.

Der soziale Frieden in jedem Gemeinwesen hängt davon ab, dass der erarbeitete Wohlstand ebenso wie die Lasten und Pflichten einigermaßen gerecht verteilt sind. Auf Gesellschaften, in denen Löhnen und Gehältern weder nach oben noch nach unten Grenzen gesetzt sind, ruht kein Segen.

Wir brauchen mündige Bürger, die einsehen, dass es nicht reicht, alle vier Jahre ein Kreuz zu machen und sich dann zurückzulehnen. Es ist zu bequem, sich über unfähige Politiker zu beklagen, ohne selbst aktiv zu werden. Man muss auch selber Verantwortung übernehmen für sich, für andere, fürs Ganze.

Charakter

Подняться наверх