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4. Schicksal und Charakter

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Weltkrieg, Inflation, millionenfacher Tod, millionenfaches Leid – das war die Kollektiv-Erfahrung der Generation unserer Eltern und Großeltern. Ohne Zweifel haben viele gelitten.

«Wir sind von Hitler um unsere Jugend betrogen worden», hat man nach dem Krieg oft gehört. Viele Deutsche fühlten sich selbst als Opfer, Hitler sei ihnen widerfahren wie eine Naturkatastrophe. «Wir sind von ihm verführt worden», «wir sind auf ihn hereingefallen», «hätten wir gewusst, dass ...» – so lauteten die gängigen, uns vertrauten Antworten, die wir zu hören bekamen, wenn wir unsere Eltern fragten. Sind das glaubhafte Erklärungen?

Nicht alle haben Hitler gewählt, nicht alle ihm zugejubelt, viele seiner Gegner wurden umgebracht oder sind ins Ausland geflohen. Warum sind diese Menschen nicht auf Hitler hereingefallen? Warum haben sie sich nicht von ihm verführen lassen? Sie sind doch der Beweis, dass man hätte wissen können, wer Hitler war. Sie sind der Beweis, dass man sich auch anders entscheiden konnte.

Niemand hat unsere Eltern und Großeltern zum Nationalsozialismus gezwungen. Dass viele aus Angst geschwiegen, die Hakenkreuzfahne aus dem Fenster gehängt, den Hitlergruß entboten haben, dass viele sich dazu gedrängt fühlten, in die Partei einzutreten, das kann man glauben, nur: Es hatten ja auch demokratische Parteien zur Wahl gestanden.

Das kollektive Schicksal unserer Eltern und Großeltern war selbstgemacht. Man kann trotzdem Mitleid mit ihnen haben, muss dann aber fragen, warum sie kein Mitleid hatten mit den in aller Öffentlichkeit schikanierten, verfolgten, auf den Straßen zusammengetriebenen Juden.

Warum aber hatten sie kein Mitleid? Warum wählten sie lieber die Nazis als die SPD? Warum waren so viele vom «Führer» fasziniert? Wir versuchen hier eine Antwort, um zu erfahren, was daraus für die heutige Bildungsdebatte folgt. Wie müssen wir heute Kinder und Jugendliche bilden und erziehen, damit sie sich nicht das nächste katastrophale Kollektivschicksal selber fabrizieren?

Wer verstehen will, wie es kommen konnte, dass sich ein ganzes Volk ruinierte und dazu auch noch andere Völker und Nationen, und wer fragt, was da bei der Erziehung und Bildung dieses Volkes fundamental schiefgelaufen ist, muss bedenken, was in unseren gegenwarts- und zukunftsbesessenen Debatten über Bildung, Erziehung, Schule und Universität zu wenig bedacht wird: Bildung und Erziehung ereignen sich nicht in abgeschlossenen Schonräumen, in Anstalten und Instituten, sondern finden in einem bestimmten geistigen Klima statt, innerhalb einer bestimmten Großwetterlage. Dieses Klima ist geschichtlich gewachsen. Es kann nicht über Nacht verändert werden, und es herrscht überall, in jeder Wohnung, in jedem Klassenzimmer, jedem Universitäts-Seminar und an jedem Arbeitsplatz.

Es ist unsichtbar, aber wirksam. Es bemächtigt sich der Köpfe, noch ehe diese selbständig denken können. Es ist von Menschen gemacht, aber nur zum Teil bewusst und willentlich. Zum größeren Teil ist es das Resultat langer historischer Prozesse und geistiger Auseinandersetzungen – oder auch das Resultat fehlender oder niveauloser geistiger Prozesse. Dieses Resultat kann bildungsfreundlich, bildungshemmend, aber auch bildungsfeindlich sein. Es kann aufklärerisch sein oder anti-aufklärerisch, friedlich oder kriegerisch, kosmopolitisch oder provinziell, demokratisch oder autoritär. Und es kann denkfaul sein, indolent, utilitaristisch, libertär, infantil, konsumierend. In der Regel konkurrieren in einer Demokratie all diese verschiedenen Kräfte miteinander, und wenn diese Konkurrenz in weltoffener Atmosphäre und nach fairen Regeln ausgetragen wird, entsteht ein günstiges Bildungsklima, auch dann, wenn eine bestimmte geistige Strömung mal zeitweilig die Oberhand behält.

Bildungsfeindlich und ungünstig wird das Klima, wenn sich einzelne Mächte und Interessen durchsetzen, alles dominieren, die Spielregeln verletzen oder sogar nach Belieben ändern können. Dann entsteht eine Neigung zum kollektiven Wahn.

So war es in Deutschland während jener wilhelminischen Ära, in der ein kleiner Junge namens Claus, wie Millionen anderer kleiner Jungen auch, vom «Heldentod auf dem Feld der Ehre» träumte. Dieser Claus war nicht der Stärkste. Oft krank, aber mutig, balgte er sich gern mit seinen älteren Brüdern und den stärkeren Dorfbuben, und mit viereinhalb erklärte er, er wolle ein Held sein. Mit sieben verblüffte er nach einer Halsoperation die Ärzte und Krankenschwestern durch seine Tapferkeit und erklärte: «Nun war ich doch sehr heldisch und nun kann ich, wenn ich groß bin, als Soldat in jeden Krieg ziehen.» Im gleichen Jahr brach tatsächlich ein Krieg aus, und inmitten der Begeisterung der Erwachsenen klagte Claus schluchzend, die Brüder hätten gesagt, in zehn Jahren dürften sie in den Krieg und er dürfe nicht mit.

In einem Schulaufsatz über die Frage «Was willst du werden?» schrieb er als Sechzehnjähriger: «Des Vaterlandes und des Kampfes fürs Vaterland würdig zu werden und dann sich dem erhabenen Kampf für das Volk zu opfern» – das sei sein Wunsch und Ziel.

Der kleine Junge bekam seinen Krieg, zwar nicht nach zehn Jahren, aber nach fünfundzwanzig. Und der Wunsch des Sechzehnjährigen, sich für sein Volk zu opfern, wurde ebenfalls erfüllt, allerdings in einem ganz anderen Sinn, in einem viel tieferen, besseren und wahren Sinn. Claus wurde berühmt als jener Claus von Stauffenberg, der Hitler ermorden wollte, daran scheiterte und, zusammen mit anderen wirklichen Helden, als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde.

Entlang seines Lebens lässt sich erzählen, wie das geistige Klima einer Zeit Menschen beeinflusst, formt und schließlich so tief prägt, dass Umprägungen aus eigener Kraft nur noch den stärksten Charakteren möglich sind, und auch diesen nur unter Mühen und Schmerzen. Stauffenberg oder auch Martin Niemöller, von dem später die Rede sein wird, sind zwei von denen, die es geschafft haben, dem vorherrschenden Geist einer Zeit – treffender müsste man sagen: dem Ungeist einer Zeit – Widerstand entgegenzusetzen und sich zuletzt von ihm zu befreien.

Stauffenberg wie auch alle anderen Widerständler zählen zu jener kleinen Schar von Deutschen, die mit ihrem Leben dafür bezahlten, dass man heute über die Deutschen der Hitlerzeit sagen kann: «Nicht alle waren Mörder»12. Ihnen, den Widerständlern, und all denen, die unter Lebensgefahr Juden versteckt, protestiert, sich gegen Hitler engagiert hatten, ist es zu verdanken, dass Deutschland trotz der Schande des Holocaust wieder in die internationale Völkergemeinschaft zurückkehren durfte. Ihr Geist blieb lebendig über den Tod hinaus und hat dazu beigetragen, dass sich aus dem Land, in dem sie aufwuchsen, ein ganz anderes Deutschland entwickeln konnte, eines, in dem die Geschichte des kleinen Claus anmutet wie eine Geschichte über ein Land aus versunkener Zeit.

Träumte heute ein Vier- oder Fünfjähriger von einer Zukunft als Soldat, der sich im Krieg für sein Volk opfert, käme uns dieses Kind absonderlich vor. Unser Land heute will vom Krieg nichts mehr wissen und möchte seine Soldaten aus Afghanistan lieber heute als morgen abziehen sehen. Zwar wurden bis 1989 in der DDR Kinder und Jugendliche bei den Jungen Pionieren und der FDJ militärisch gedrillt, aber das geschah unter Zwang. Die Zahl der «Helden», die sich gerne für den Sozialismus geopfert hätten, war wohl eher gering. Heute beobachten wir eine etwas eigenartige freiwillige Selbstmilitarisierung jener Jugendlichen, die ihre Zeit mit Kriegs- und Egoshooterspielen vor den Computermonitoren verbringen und sich bei LAN-Partys blutige Schlachten liefern – zum Glück nur virtuell. Reale Kriegslüsternheit ist daraus noch nicht erwachsen, allenfalls zu Amokläufen oder zu brutalen Gewalt-Attacken vermag die Aggression aus den Monitoren einige Jugendliche animieren, aber vermutlich nur solche, die auch ohne Computerspiele durch Gewaltbereitschaft auffielen.

Davon abgesehen ist die Lebenswirklichkeit heutiger Jugendlicher eine völlig andere als die des jungen Stauffenberg. In den noch nicht einmal hundert Jahren dazwischen hat sich so etwas wie ein fundamentaler Bildungs-Klimawandel ereignet, und wer heute über Bildung, Erziehung und Charakter nachdenkt, muss über das Klima und die Bedingungen des Wandels nachdenken.

In dem Klima, das in Deutschland vor einem Jahrhundert herrschte, konnte jemand eine exzellente Erziehung und eine erstklassige Ausbildung bekommen und trotzdem ein autoritätsgläubiger, nationalistisch-aristokratischer Militarist mit beschränktem Horizont werden, wie es Stauffenberg und viele andere seiner Zeitgenossen zunächst tatsächlich waren. Die Bildung der Eliten wie des Volkes diente nicht dem Wohl des Einzelnen oder des Volkes, sondern dem Kaiser, einer Ersatzreligion namens Nationalismus, Kolonialismus und Imperialismus sowie wirtschaftlichen Interessen, die mit einer obskuren Idee von nationaler Größe, Ruhm und Ehre verbrämt wurden. Diese Erziehung endete in kollektivem Wahn und zwei katastrophalen Kriegen.

Um das Jahr 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, war der Traum des kleinen Stauffenberg eine völlig normale Knabenphantasie. Der Krieg galt als ein Abenteuer, auf das sich so gut wie jeder Junge freute, das jeder einmal erlebt haben musste. Krieg betrachteten die jungen Männer als willkommene Unterbrechung des langweiligen, unheroischen Alltags, als Fest, heilige Handlung und feierlichen Ausnahmezustand. Krieg erschien als ein Kräftemessen der Völker mit dem Ziel, die Stärksten und Tüchtigsten zu ermitteln und die Schwachen auszusondern, auszubeuten, und den Wohlstand der eigenen Nation zu erhöhen. Krieg war zugleich der Initiationsritus, in dem sich der Jüngling bewähren und zum Manne reifen konnte. Der Krieg, so wurde allgemein geglaubt, bringe die besten und stärksten Charaktere hervor.

Auch der Pastorensohn Martin Niemöller hatte das einmal geglaubt. So, wie heute viele Kinder und Jugendliche Krieg führen am Computer, so führte der junge Niemöller Seekriegsschlachten in seiner Phantasie und auf dem Papier. In seinem Zimmer hing ein Werbeposter der Marine, auf dem sämtliche Schiffe der deutschen Flotte verzeichnet waren. Martin Niemöller kannte sie auswendig. Die Wände hatte er von oben bis unten mit Schiffsbildern beklebt.

Zu Weihnachten wünschte er sich Marinekalender und den «Nauticus», das Jahrbuch für Deutschlands See-Interessen. «Sein Bett», schreibt sein Biograph Matthias Schreiber, «war ihm Barke, das Laken Segel, und seine Schwestern mussten ihm Flaggen für imaginäre Schiffe nähen, auch Wimpel für einen Signaldienst, über den er auf seemännische Manier Nachrichten mit seinen Freunden in der Nachbarschaft austauschte. In seinen Schulheften finden sich Skizzen und Zeichnungen von Kriegsschiffen.»13

Im Gegensatz zu heutigen Computerkids war es dem jungen Niemöller mit dem Kriegsspiel ernst, todernst. Mit islamischen Dschihadisten, die heute ihren Heiligen Krieg gegen den Westen führen, hatte er mehr gemein als mit der heutigen westlichen Jugend. Im Jahr 1910 wurde er Seekadett in der kaiserlichen Marine, vier Jahre später stürzte er sich als U-Boot-Kommandant begeistert in den Ersten Weltkrieg. In seinem Tagebuch berichtete er über Kriegserlebnisse so leidenschaftlich wie ein Sportreporter.

Das Ende dieses Krieges erlebten viele, die mit Gesang in den Kampf gezogen waren, nicht mehr. Von Niemöllers dreiundzwanzig Klassenkameraden überlebten nur fünf. Von den heimgekehrten Soldaten waren einige durch ihre Erlebnisse vom Hurrapatriotismus geheilt, andere nicht. Niemöller gehörte zu den anderen.

Er machte sich die Dolchstoßlegende zu eigen: Die Behauptung, nicht ein äußerer Feind habe die Niederlage herbeigeführt, sondern der innere, also Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Kommunisten, «vaterlandslose Gesellen». Noch vierzehn Jahre nach Kriegsende hing er dieser Lüge an, bekämpfte er die Weimarer Demokratie, sehnte einen Führer herbei – und bekam ihn. Später bekämpfte er ihn. Um Hitler als Verbrecher zu erkennen und daraus Konsequenzen zu ziehen, hat Niemöller ähnlich lange gebraucht wie Stauffenberg. Aber immerhin: Beide schafften es, sich von ihrer Erziehung und jahrelang verfochtenen Ansichten freizumachen.

Stauffenberg und Niemöller waren Kinder ihrer Zeit. Sie sind zwei typische Beispiele dafür, wie der vorherrschende Geist einer Zeit – im heutigen Jargon: das Bildungsklima – so etwas wie einen gemeinsamen Glauben hervorbringt, der von jungen Menschen vorgefunden und übernommen wird, noch bevor diese Menschen eines eigenen kritischen Urteils fähig sind. Wenn ein noch kaum Fünfjähriger dermaleinst den Heldentod herbeisehnt, und wenn ein Pfarrerssohn im Kinderzimmer Seekriegsschlachten führt, dann zeigt das etwas von der Macht dieses Geistes, der schon mit der Muttermilch eingesogen wird.

Der vorherrschende Geist zeugt auch so etwas wie einen vorherrschenden Charakter, einen dem Bildungsklima entsprechenden Menschentypus, vom dem es gleichwohl viele Varianten gibt, anständige und unanständige. Stauffenberg und Niemöller waren Vertreter der anständigen, außergewöhnlichen Variante. Die massenhaft vorkommende, gewöhnliche und unanständige Variante hat Heinrich Mann noch vor dem Ersten Weltkrieg in seinem Roman «Der Untertan» anhand der Figur des Diederich Heßling beschrieben: Als Kind geprügelt, als Vater prügelnd, obrigkeitshörig, feige, nach oben buckelnd, nach unten tretend, innerlich schwach, aber stark in der Gruppe, glaubt Heßling so fanatisch an die Dogmen seiner Zeit, dass kein Gedanke, keine Tatsache, kein Widerspruch stark genug sein kann, um Zweifel aufkommen zu lassen. Auf solche Menschen konnte der Kaiser bauen und später Hitler.

Gezeugt wurde dieser Typus aus dem Geist des Nationalismus, Militarismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus. An all dies wurde vor hundert Jahren in deutschen Adelsfamilien genauso geglaubt wie in deutschen Pfarrhäusern, besonders in preußisch-protestantischen. Auch in Beamten- und Professorenhaushalten, in Kaufmannsfamilien, auf Bauernhöfen, in Lehrerwohnungen, Anwaltskanzleien und Justizgebäuden wohnte dieser Geist, nicht nur in Deutschland, sondern in der jeweiligen nationalen Variante ebenso in Frankreich, England und anderen Staaten Europas. Aber nirgends war dieser Geist so verbreitet und ideologisch aufgeladen wie in Deutschland. Lange, bevor Hitler mit seiner Gleichschaltungspolitik das Denken verbot und jegliche Opposition beiseiteräumte, waren schon Millionen Hirne gleichgeschaltet. Ohne diese Gleichschaltung hätte Hitler gar nicht agieren können.

Heute ist es leicht, diesen Geist als jenen Ungeist zu identifizieren, der zwei Weltkriege und den Holocaust hervorgebracht hat. Dieser Ungeist war es, der die Menschen gegen Goethe, Jesus und jegliche Form wirklicher Bildung immunisierte. Er bewirkte, dass man in Weimar Goethe verehren und in Buchenwald ein Vernichtungslager bauen konnte, ohne einen Widerspruch darin zu sehen.

Es war gelungen, Goethe, Schiller und all die anderen Repräsentanten eines aufgeklärten Humanismus gegen die Aufklärung und den Humanismus in Stellung zu bringen. Es war gelungen, das gesamte Volksvermögen – seine Kultur- und Ingenieurleistungen, sein Organisationstalent, seine Wissenschaft – in den Dienst eines verbrecherischen Regimes zu stellen. Nur ganz starke Charaktere wie Stauffenberg, Niemöller und andere schafften es, unter solchen Umständen sich von dem zu lösen, was sie einst infiziert und so tief geprägt hatte.

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