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3. Goethe schützt vor Goebbels nicht

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Das Land, das den Idealvorstellungen heutiger Eliten entspricht, hat es schon einmal gegeben, wird aber nie wieder kommen. Es war das Deutschland vor dem Jahr 1933. Bis zu diesem Jahr war Deutschland eine global geachtete Wirtschafts-, Wissenschafts-, Technologie- und Militärmacht und eine bewunderte Kulturnation, deren Kunst, Musik und Literatur international geschätzt wurden. Seit 1945 ist es eine relativ unbedeutende Mittelmacht, die heute nur im Verbund mit den anderen europäischen Klein- und Mittelmächten noch etwas in der Welt erreichen kann.

Während der zwölf Jahre dazwischen hat dieses Land seine größten Geister und kreativsten Menschen ins Ausland getrieben, in Gefängnissen und Konzentrationslagern ermordet oder im Krieg aufgerieben.

Das Verstörende an dieser Selbstzerstörung ist: An «Bildung», wie sie heute von unseren Eliten verstanden und lautstark gefordert wird, hatte es dieser ungeheuer erfolgreichen Wissenschafts- und Kulturnation nicht gefehlt. Ihre Universitäten waren Horte der Gelehrsamkeit, zahlreichen damaligen Fakultäten würde man heute das Label «Exzellenz-Center» aufpappen. Unter «Made in Germany» hatte man im Ausland nicht nur deutsche Wertarbeit, deutschen Fleiß und deutsche Disziplin verstanden, sondern auch eine in der Welt seltene Befruchtung von Geist und Geld, Erfindungsreichtum und Wagemut.

Die deutsche Ingenieurskunst vor 1933 war legendär. Ob Hoch- oder Tiefbau, Elektrotechnik, Chemie, Pharmazie, Maschinenbau, Werkstofftechnik, Optik oder Flugzeugbau – in all diesen Sparten spielten deutsche Ingenieure ganz vorne mit, und Konrad Zuse baute den ersten funktionstüchtigen Computer der Welt. Wo immer auf der Welt ein ehrgeiziges technisches Projekt realisiert wurde, waren deutsche Ingenieure dabei. Das Wort «Innovation» kannten sie nicht, «Schlüsseltechnologien» wurden damals nicht wortreich beschworen und mit staatlicher Hilfe mühsam auf den Weg gebracht, sondern vom gesamten 19. Jahrhundert bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von mutigen Technikern entwickelt und in der ganzen Welt erfolgreich vermarktet.

Oft trug die jeweilige Technik den Namen ihres deutschen Erfinders – wie etwa der Otto-Motor, der Diesel-Motor, das Zeiss-Mikroskop oder die Röntgenstrahlen. Elektrischer Widerstand wird bis heute in Ohm gemessen, benannt nach dem Physiker Georg Simon Ohm (1789 bis 1854). Frequenzen misst man in Hertz, benannt nach dem deutschen Physiker Heinrich Rudolf Hertz (1857 bis 1894).

Überhaupt glänzte die deutsche Naturwissenschaft mit weltberühmten Namen wie Albert Einstein, Otto Hahn, Werner Heisenberg, Lise Meitner, Max Planck oder Wilhelm Conrad Röntgen. Ihnen verdankt die deutsche Grundlagenforschung einen Spitzenplatz in der Welt. Der Ausstoß an Nobelpreisträgern war beachtlich. Um nur ein paar Zahlen zu nennen: Zwischen 1902 und 1933 gingen gerade mal zwei Chemie-Nobelpreise in die USA, die deutschen Chemiker holten vierzehn. Den Physik-Nobelpreis bekamen im gleichen Zeitraum die Amerikaner dreimal, die Deutschen elfmal. Nach 1933 drehte sich dieses Verhältnis um: Fünfzehn deutschen Chemie-Nobelpreisträgern stehen inzwischen vierundfünfzig amerikanische gegenüber, auf sechzehn deutsche Physik-Nobelpreisträger kommen achtundsiebzig amerikanische.

Auch die deutsche Medizin spielte in der Weltliga. Robert Koch hat in Berlin 1882 den Erreger der Tuberkulose entdeckt. Rudolf Virchow entwickelte in Berlin die moderne Pathologie. Ernst Ferdinand Sauerbruch war einer der bedeutendsten Chirurgen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

In den deutschsprachigen Geisteswissenschaften ist es nicht anders. Ihre große Zeit endete 1933. Bis dahin brachte sie so berühmte Philosophen wie Martin Heidegger, Edmund Husserl oder Max Scheler hervor, und mit den Werken von Theologen wie Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, Rudolf Karl Bultmann, Friedrich Gogarten oder Adolf von Harnack muss sich noch heute jeder Theologiestudent auseinandersetzen.

Der Philosoph und Physiker Max Bense hatte versucht, Naturwissenschaft, Kunst und Philosophie zusammen zu denken. Er war einer der Ersten, die über Kybernetik, Rückkopplung und Information nachdachten und damit zur Entwicklung des Computers beitrugen. Und er war einer der ganz wenigen, die das Verhältnis von Mensch und Maschine philosophisch zu durchdringen versuchten. In seiner Dissertation über «Quantenmechanik und Daseinsrelativität» verteidigte er Albert Einstein gegen die nationalsozialistischen Eiferer der «Deutschen Physik» und verbaute sich damit eine Universitätskarriere. Erst nach dem Krieg durfte er wieder forschen und lehren.

Noch dramatischer ist der Bruch von 1933 auf kulturellem Gebiet zu beobachten. Die deutschsprachigen Schriftsteller produzierten vor Hitler Weltliteratur. Überall bekannt, oft übersetzt waren Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Ödön von Horváth, Franz Kafka, Thomas Mann, Heinrich Mann, Robert Musil, Erich Maria Remarque, Rainer Maria Rilke, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Franz Werfel, Stefan Zweig. Dann wurden ihre Bücher von den Nazis öffentlich verbrannt. Ähnliches widerfuhr den Malern. Die Bilder von Künstlern wie Gustav Klimt, Otto Dix, Max Ernst, George Grosz, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, August Macke, Franz Marc, Oskar Kokoschka hängen heute in den berühmtesten Museen der Welt, aber die Nazis verboten ihre Kunst und diffamierten sie als «entartet». Die Musik von Komponisten wie Alban Berg, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Hanns Eisler wird auf der ganzen Welt gespielt, unter den Nazis waren diese Komponisten verfemt, galt ihre Musik als «zersetzend», «entartet», «jüdisch», «unerwünscht».

Die Babelsberger Filmstudios konkurrierten mit Hollywood auf Augenhöhe. Beim Übergang vom Stumm- zum Tonfilm waren die Deutschen führend, hier spielten sich Technik und Kunst gegenseitig in die Hände. In Babelsberg stand vor dem Krieg das modernste Tonstudio der Welt, in dem Filme wie Fritz Langs «Metropolis» oder Josef von Sternbergs «Der blaue Engel» mit Marlene Dietrich entstanden. Fritz Lang emigrierte in die USA, Marlene Dietrich folgte Josef von Sternberg ebenfalls nach Amerika und wurde dort ein Weltstar.

Deutsch war eine Weltsprache. Wer es im Ausland zu etwas bringen wollte, bemühte sich um Deutschkenntnisse. Wer es sehr weit bringen wollte, ging zum Studieren nach Deutschland. Ohne groß zu übertreiben, ließe sich behaupten: Bis 1933 lag «Harvard» nicht an der Ostküste Amerikas, sondern an der Spree in Berlin und nannte sich Kaiser-Wilhelm-Institut. Oder Charité, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Humboldt-Universität.

Dorthin pilgerten Studenten aus aller Welt, dort spielte die Musik. Bis 1933 wurde die Weltkultur in Europa gemacht, und ein sehr großer Teil davon im deutschsprachigen Raum. Heutige Kultusminister, Bildungspolitiker und Universitätspräsidenten würden bersten vor Stolz, wenn sie solch eine Erfolgsbilanz vorlegen könnten.

Aber dieses blühende Geistesleben im deutschen Kulturraum ist unter den Stiefeln der Nazis innerhalb von zwölf Jahren so gründlich zertrampelt worden, dass dieser sich bis heute nicht ganz erholt hat. Unter Jubel war die so überaus tüchtige und gebildete Kulturnation der Deutschen Hitler in den totalen Krieg gefolgt. Im Namen des Deutschtums wurde Deutschland erledigt. Mit all ihrem «Brain», ihrer Bildung und exzellenten Wissenschaft, ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit, ihren Schlüsseltechnologien und Innovationen wussten die deutschen Eliten nichts Besseres anzufangen, als ihren eigenen Untergang herbeizuführen, die Welt in Schutt und Asche zu legen und Verbrechen zu begehen, die man auf immer mit Deutschland verbinden wird.

Wie war das möglich? Wie konnte man in Weimar Goethe verehren und zugleich zehn Kilometer nordwestlich in Buchenwald eine Mordmaschine errichten? Wie konnte man Spitzenforschung betreiben, ohne zu fragen, wem man mit seiner Wissenschaft und Kunst dient, für welche Ziele das eigene Wissen und Können benutzt und welche Zukunft damit gemacht wird?

Hatte es an Ethik gemangelt? Fehlten Vorbilder, Autoritäten? Haperte es bei der «Werte-Vermittlung»? Versagten die Religionen? War das Bildungssystem zu einseitig ökonomisch und technokratisch orientiert und zu wenig humanistisch?

Nichts davon trifft zu. Beide christlichen Kirchen erfreuten sich deutlich höherer Mitgliederzahlen als heute, Religionsunterricht wurde fleißig erteilt. Taufe, Kommunion, Firmung, Konfirmation, kirchliche Trauung und kirchliches Begräbnis gehörten zur deutschen Standardbiographie.

Der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels wurde auf einem «Gymnasium des Internates der Armen Brüder vom Heiligen Franziskus» christlich erzogen, hat später Literatur und Philosophie studiert und galt als der Schöngeist des Hitler-Regimes. Der SS-Führer und Reichsinnenminister Heinrich Himmler war Absolvent des humanistischen Wilhelmsgymnasiums in München, sein Vater leitete als Rektor das humanistische Wittelsbacher-Gymnasium in München. Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess verbrachte seine Schulzeit in einem evangelischen Internat, der SA-Chef Ernst Röhm im humanistischen Maximiliansgymnasium in München. So könnte man noch viele aufzählen, die christlich-humanistisch erzogen wurden, sich einer erstklassigen Bildung erfreuten und sich trotzdem zu barbarischen Massenmördern entwickelten.

Sie hatten Goethe-Verse auswendig gelernt und Schiller-Gedichte. Sie hatten Dürer-Bilder betrachtet, Bach-Choräle gesungen und Beethoven-Sonaten gehört. Sie hatten Jesusworte auswendig gelernt und in ihrem Leben anschließend das Gegenteil dessen getan, was diese Worte besagten.

Nicht einmal die Bischöfe und Pfarrer, die das Wort Gottes viele Jahre studiert und Griechisch, Hebräisch und Latein gelernt hatten, fühlten sich aufgerufen, dieses Wort Gottes zu beherzigen und gegen Hitler zu kämpfen. Im Gegenteil. Kaum war Hitler an der Macht, hingen die «Deutschen Christen» ihre Kirchen mit Hakenkreuzfahnen voll, warfen die konvertierten Judenchristen aus der Kirche und predigten von der Kanzel, dass Hitler zu gehorchen die erste Christenpflicht sei.

Worin die Gründe für diese deutsche Katastrophe lagen, darüber ist viel nachgedacht und geforscht worden. Eines darf seitdem als gesichert gelten: Bildung schützt vor Dummheit nicht, nicht einmal vor Barbarei. Selbst Ethik, Humanismus, eine christliche Erziehung bieten nicht automatisch Schutz davor. Alles, was sich heutige Politiker, Bildungsforscher, Professoren, Manager und Unternehmer für unser Land erträumen, hatte Deutschland schon einmal gehabt, und es war alles andere als eine Garantie für die Zukunft.

Als ebenso gesichert darf seitdem gelten: Ein Mangel an Bildung verhindert Klugheit und Charakter nicht. Den Beweis liefert der Schreinergeselle Georg Elser. Lange vor der Anti-Hitler-Verschwörung der Wehrmachts-Offiziere um Stauffenberg und lange vor der Organisation des zivilen Widerstands durch Helmut James Graf Moltke und dessen Kreisauer Kreis wusste dieser Georg Elser, was von Hitler zu halten und gegen ihn zu tun sei.

Darum bastelte er ganz allein eine Bombe und deponierte sie im Münchner Bürgerbräukeller. Am 8. November 1939, fünf Jahre vor dem Stauffenberg-Attentat, explodierte sie. Leider hatte Hitler wegen eines dummen Zufalls den Saal schon vorher verlassen. Sonst hätte die Weltgeschichte wahrscheinlich einen völlig anderen Verlauf genommen, sechs Millionen Juden wären nicht ermordet worden, der Zweite Weltkrieg wäre nicht ausgebrochen, und das nur wegen eines einfachen Mannes, des einfachen Schreiners Georg Elser, der lediglich die Volksschule besucht hatte.

Den jahrelangen Anschauungsunterricht, den andere nötig gehabt hatten, um sich – wie etwa der gebildete Stefan-George-Jünger Stauffenberg – angesichts der Verbrechen der deutschen Wehrmacht in Russland allmählich von Hitler abzuwenden und schließlich das NS-Regime zu bekämpfen, hatte Georg Elser nicht gebraucht. Mitverschwörer, komplizierte Generalstabspläne, philosophische Erwägungen und langwierige Diskussionen über viele Jahre, das alles war für diesen Schreiner nicht nötig. Er hatte Hitler gesehen und gehört, er hatte sich durch seine Nähe zum Kommunismus eine politische Meinung gebildet und damit genug gewusst. Elser kam zu dem Schluss, dass ein Tyrannenmord in diesem Fall ethisch geboten sei.

Geboren 1903 im württembergischen Hermaringen, wuchs Georg Elser in Königsbronn in schwierigen Verhältnissen auf. Der Vater trank, die Familie verarmte. In Königsbronn absolvierte er sieben Volksschuljahre. «Ich war ein mittelmäßiger Schüler», hat er später über sich selbst gesagt. Gute Noten hatte er im Zeichnen, Schönschreiben und Rechnen, schlechtere im Diktat, Aufsatz und anderen Fächern, in Religion befriedigend. «Schläge bekam ich nicht mehr als die anderen und immer nur dann, wenn ich meine Hausaufgaben nicht richtig gelernt hatte. ... Soviel ich mich erinnern kann, haben sich meine Eltern um die Zeugnisse, die ich aus der Schule heimbrachte, wenig gekümmert. ... Dadurch, dass ich bei den landwirtschaftlichen Arbeiten zu Hause mithelfen musste, wurde mir das Lernen ziemlich erschwert.»

Wie ist es möglich, dass so ein einfacher Handwerker zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, Millionen weit gebildeterer Deutscher dies aber nicht vermochten? Wie kann es sein, dass so einer mehr politischen Verstand, mehr Mut und Tatkraft beweist als die gesamte akademische Elite?

Es ist ein Rätsel, dessen Lösung wir nicht kennen. Für unsere Bildungsdebatte lässt sich aber daraus zumindest schon mal lernen, dass wir sehr genau fragen müssen, worauf es wirklich ankommt bei der Bildung. Denn wenn die Art von Bildung, die in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts «state of the art» war, die große Katastrophe nicht verhindern konnte – wie können wir dann sicher sein, dass zweisprachige Kindergärten, G8-Gymnasien, Bologna-Universitäten, Exzellenz-Cluster und MBA-Kaderschmieden die Art von Bildung liefern, die uns in eine gute Zukunft führt?

Diktaturen wie das Dritte Reich scheiden die Geister, teilen die Menschen ein in Täter und Opfer, in Mitläufer und Widerständler, in Gleichgültige und Leidende. Das Interessante daran ist, dass der Bildungsabschluss keine Prognose darüber zulässt, zu welcher dieser Gruppen ein Mensch gehören wird. In allen Diktaturen gibt es unter den Tätern Gebildete und Ungebildete, unter den Opfern auch. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der Mitläufer und Gleichgültigen. Es gilt für die Widerständler, die heimlich oder offen gegen Diktaturen rebellieren, ihr Leben riskieren, und es gilt für die Ängstlichen, die beschämt unter dem Unrecht gelitten haben. In jeder dieser Gruppen trifft man Angehörige aller Bildungsschichten.

Bildung ist also keine Garantie gegen Irrtum, Feigheit, Brutalität, Diktatur und Massenmord. Nicht einmal Religion, Ethik, Humanismus scheinen eine Gewähr dafür zu bieten, dass ein Land eine gute Zukunft hat.

Erst wenn man sich dieser Tatsache bewusst wird und sie vor dem Hintergrund unserer Geschichte reflektiert, erkennt man das ganze Ausmaß an Dummheit, das in der Gleichung «Bildung gleich Euro» steckt. Der heute vorherrschende Glaube, dass es genüge, «exzellent» zu sein, damit diese Zukunft exzellent werde, ist falsch, ist eine fatale Ideologie.

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