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2. Das neue Mantra: Bildung gleich Euro

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Es ist wahrscheinlich nur wenigen bewusst, daher sei es hier ausgesprochen: Wir, die Nachkriegsgeborenen von Westeuropa, sind die Glückskinder der Weltgeschichte. Wenn wir auf unser Leben zurückblicken, können wir sagen, nie etwas anderes kennengelernt zu haben als Frieden und Freiheit bei wachsendem Wohlstand.

Wie anders war das bei der Generation unserer Eltern und Großeltern. Zwei Weltkriege, zwei Inflationen, Hunger, Not, zerbombte Städte, Vermisste, im Krieg gefallene Väter, Ehemänner und Brüder, an Leib und Seele Versehrte Kriegsheimkehrer. Wer als Kind Flucht und Vertreibung oder die Bombennächte in den Luftschutzbunkern überlebt hat, ist oft noch heute traumatisiert davon. Überall in Europa hatte diese Generation Ähnliches erlebt und erlitten. Und wer jüdischen Glaubens war, dessen Leben endete mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer von Deutschen betriebenen Gaskammer.

Von dem schönen Leben, das wir seit Jahrzehnten führen dürfen, hatten diese Vorkriegsgeborenen nie zu träumen gewagt. Und für drei Viertel der heutigen Weltbevölkerung bleibt unsere Lebensweise ein unerfüllbarer Traum. Was uns als selbstverständlich erscheint, ist vor historischem Hintergrund und angesichts der globalen Gegenwart ein extrem unwahrscheinlicher Ausnahmezustand. Wir sind Bewohner einer Oase inmitten einer großen Wüste. Sicher, auch hier geht es nicht allen gleichermaßen gut, aber allen geht es besser als früheren Generationen und als denen, die anderswo ihr Leben fristen.

Drei Wunder haben sich zwischen 1945 und heute in Europa ereignet. Das erste: Wir haben die viele Jahrtausende alte Institution des Krieges überwunden, zumindest innerhalb der EU. Dass Deutsche und Franzosen jemals wieder aufeinander schießen, ist nach heutigem Ermessen ausgeschlossen. Wer das vor hundert Jahren prophezeit hätte, der hätte sich als Utopist lächerlich gemacht. Heute erscheint uns diese Leistung als so selbstverständlich, dass unser Verdruss über die Brüsseler Eurokratie größer ist als die Freude über den Frieden in Europa. Seit 1989, als die Grenze zwischen zwei waffenstarrenden Blöcken ohne Blutvergießen fiel, gehören auch große Teile Osteuropas dazu.

Das zweite Wunder ist auf dem Weg seiner Verwirklichung: die volle Gleichberechtigung der Frau. Die ehemalige Verfassungsrichterin Jutta Limbach hat das vor Jahren auf folgenden Nenner gebracht: Im Gegensatz zu ihren Urgroßmüttern dürfen Frauen von heute politische Versammlungen besuchen, wählen und gewählt werden, Universitäten besuchen, Ärztinnen, Richterinnen, Professorinnen werden. Im Gegensatz zu ihren Großmüttern haben Frauen von heute bei ihrer Heirat das Recht, ihren Mädchennamen zu behalten. Im Gegensatz zu ihren Müttern werden Frauen von heute so gefördert, dass sie gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilnehmen können. Dieser Prozess ist natürlich noch nicht vollendet. Noch immer stellen sich Frauen Hürden in den Weg, aber genügend Frauen kämpfen dagegen an, und wie weit sie es dabei gebracht haben, lehrt ein Vergleich mit arabischen oder asiatischen Ländern.

Das dritte Wunder erscheint uns als so selbstverständlich, dass uns sein einstmals utopischer Charakter gar nicht mehr bewusst ist: die volle Teilhabe der Arbeitnehmer an politischen Entscheidungsprozessen, an Kultur und Bildung, und die möglichst gerechte Verteilung des durch Arbeit erwirtschafteten Wohlstands. So gut wie alles, was die ersten Arbeitervereine zur Zeit des Dreiklassenwahlrechts als Ziele in ihre Programme hineingeschrieben haben, ist heute verwirklicht.

Hartz-IV-Empfängern wird diese Beschreibung unserer Realität möglicherweise als Schönfärberei erscheinen – aber circa eine Milliarde Menschen auf dieser Welt würden sofort mit ihnen tauschen. Dieser Milliarde fehlt es an sauberem Trinkwasser und Nahrung, an menschenwürdigen Behausungen, an einem funktionierenden Gesundheitssystem, sozialem Frieden, einer rechtsstaatlichen Justiz und einer freien Presse, es fehlt ihr an Schulen, Straßen und einem öffentlichen Nahverkehr, es fehlt ihr an Strom, Licht, Parks, Erholungsräumen und an Schutz vor kriminellen Banden, Ausbeutern und Betrügern. Es fehlt ihr an allem, was hierzulande auch für Hartz-IV-Empfänger selbstverständlich ist.

Es ist also gewiss keine Übertreibung: Wir, die Nachkriegsgeborenen der westlichen Hemisphäre, haben den weltgeschichtlich günstigsten Zeitpunkt und Ort erwischt, den man sich zum Leben nur denken kann. Keine Generation vor uns hatte größeres Glück als wir. Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Sicherheit sind ganz junge, schwererkämpfte Ausnahmeerscheinungen in der Weltgeschichte, und wir gehören zu den ersten Nutznießern.

Wenn wir trotzdem nicht täglich in Jubel über diese erstaunliche Tatsache ausbrechen, dann nicht nur, weil uns das alles als zu selbstverständlich und nicht genug erscheint, sondern weil bei unserem Vergleich mit der Vergangenheit und der Gegenwart noch ein entscheidender Aspekt fehlt: die Zukunft unserer Kinder.

Unsere Eltern hatten zu uns immer gesagt: Ihr sollt es einmal besser haben als wir. Und tatsächlich haben wir es besser, als sie es je hatten. Aber unseren Kindern müssten wir, wenn wir ehrlich wären, sagen: Ihr werdet es sehr wahrscheinlich einmal schlechter haben als wir.

Während die Älteren zielstrebig auf ihren Vorruhestand hinarbeiten und ein Rentnerleben auf Mallorca planen, machen Zehnjährige unter heftiger Anteilnahme ihrer Eltern «Grundschulabitur», hetzen durch das G8-Gymnasium, erwerben zügig ihren Bachelor und satteln den Master obendrauf, auf dass sie flexibel und mobil jederzeit allen wechselnden Anforderungen einer globalisierten Wirtschaft gerecht werden und die Sicherheit unserer Renten garantieren können. Auch die Kosten all der Krankheiten, von denen immer mehr und immer ältere Menschen geplagt werden, die neunzig bis hundert Jahre leben, müssen von einer relativ kleinen Gruppe der Jüngeren bezahlt werden, nicht zu vergessen die Schuldenberge, die wir künftigen Generationen hinterlassen.

Gleichzeitig legen wir gutversorgten Älteren den Jüngeren immer mehr Eigenverantwortung nahe. Die Jungen sollen für ihr eigenes Alter lieber selber vorsorgen und sich gut gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit versichern, denn auf den Staat werden sie sich kaum noch verlassen können. Wobei wir dem Hauptschüler die Antwort schuldig bleiben auf die Frage, wie er für sich selber sorgen soll, wenn er noch nicht mal eine Lehrstelle bekommt. Und dem hochqualifizierten Uni-Absolventen, der sich von Praktikum zu Praktikum hangelt, sich vom Einjahresvertrag zum Zwei- und Dreijahresvertrag vorarbeitet, während er fragt, wie er all das schaffen soll, was wir ihm aufbürden, sagen wir: Das ist dein Problem, und vergiss bitte nicht, Kinder in die Welt zu setzen, damit die Renten und das Wirtschaftswachstum gesichert sind.

Wir Älteren übergeben den Jüngeren eine übervölkerte, waffenstarrende, vom Klimawandel bedrohte und von Wasser- und Rohstoffknappheit geschüttelte Welt voller Konflikte zwischen Ethnien, Religionen und Kulturen. Wir setzen sie einem Wettbewerb aus, der viele überfordert, krank und labil macht und auch Eltern verunsichert.

Wir müssen unser Bild also korrigieren. Die Welt, die wir unseren Kindern übergeben, ist an ihren Grenzen und teilweise auch schon im Innern von Verwahrlosung bedroht, mit Schulden überfrachtet und auch mit Schuld beladen – Schuld gegenüber den Ausgeschlossenen, Schuld gegenüber der Natur, auf deren Ausbeutung ein Großteil unseres Wohlstands beruht, Schuld gegenüber künftigen Generationen, deren Ressourcen wir verbraucht haben, Schuld wegen unserer imperialistischen und kolonialistischen Vergangenheit, die ebenfalls zu unserem heutigen Wohlstand beigetragen und die Erben der ehemaligen Kolonien von ihm ausgeschlossen hat.

Es wäre schöner, wenn unsere Oase, die wir den nächsten Generationen vererben, intakt, auf Expansion programmiert und auf Frieden mit der Natur gegründet wäre. Das haben wir nicht geschafft.

Wie können wir diese Oase dennoch erhalten? Die Eliten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft meinen, das Rezept gefunden zu haben, ein Rezept, das geradezu als Wundermittel gehandelt wird: Bildung. Mehr Bildung, bessere Bildung werde jungen Menschen helfen, von unserer Oase so viel wie möglich in die Zukunft zu retten. Auch die ganz großen politischen Vorschläge setzen also beim Einzelnen an. Bei den jungen Menschen, bei unseren Kindern und Enkelkindern.

Das sehen wir grundsätzlich auch so. Nur sehen wir nicht, wo nach der Finanz- und Eurokrise noch das dafür nötige Geld herkommen soll. Aber vor allem sehen wir nicht, wie das, was seit rund einem Jahrzehnt von der Mehrheit unserer Eliten in Deutschland, Europa, den USA bis hin zur OECD als «mehr Bildung» oder gar als «bessere Bildung» verkauft wird, unsere Oase retten soll: Denn es handelt sich um verzweckte Bildung, Bildung als Magd der Wirtschaft, als Set von Kompetenzen, als Anpassung an den Weltmarkt, als die Fähigkeit, sich ökonomisch gegen Inder und Chinesen zu behaupten.

Innovationen durch Bildung, internationale Wettbewerbsfähigkeit durch Bildung, Wohlstand und Zukunftssicherung durch Bildung – so lauten die neuen Hoffnungswerte, und sogar die Grünen hatten im Bundestagswahlkampf 2009 die Parole «Wachstum durch Bildung» plakatiert. Da herrscht eine erstaunliche Einigkeit von links bis rechts und von der Politik bis zur Wirtschaft und zur Wissenschaft. Kaum hatte die im September 2009 neugewählte Regierung ihre Amtsgeschäfte übernommen, forderte deren Sachverständigenrat eine «Bildungsoffensive»,6 um höheres Wachstum zu erreichen. Klaus Kleinfeld, Chef des US-Aluminiumkonzerns Alcoa und früher Vorstandsvorsitzender bei Siemens, nennt «Bildung den entscheidenden Wohlstandsbringer», denn die Konkurrenz hervorragend ausgebildeter ausländischer Spitzenkräfte wachse, und da müssten wir mithalten.7 Und wenn sich das Münchner ifo-Institut um Deutschlands Zukunft sorgt, weil laut einer Studie jeder fünfte Schüler im Alter von fünfzehn Jahren beim Rechnen und Lesen über das Grundschulniveau nicht hinauskommt, und der hohe Anteil leistungsschwacher Schüler eine Bremse für das deutsche Wirtschaftswachstum darstellt8, so darf sich das Institut der breiten Zustimmung sicher sein.

Immerzu und allerorten kann man hören: Wir sind ein rohstoffarmes Land, darum müssen wir auf den Rohstoff setzen, den man selber machen kann: «Brain». Für dessen Produktion sind Schulen und Universitäten zuständig, überdies auch Familien, Kindertagesstätten und Kindergärten. Also lasst uns hier investieren, dann werden sich die meisten Probleme von selbst lösen, heißt es. Bildung ist hier ein reines Zukunftsbewältigungsinstrument. Kinder gelten als Investitionsobjekte.

Die OECD rechnete in einer ihrer zahlreichen Studien vor, dass die jetzt lebende Schülergeneration durch ein paar Punkte mehr beim PISA-Test im Lauf ihres Berufslebens acht Billionen Dollar mehr erwirtschaften könnte. Bildung = Dollar – platter, kürzer und prägnanter als in dieser OECD-Studie9 kann man den zur Herrschaft gekommenen Glauben an das Mantra der Bildung nicht mehr auf den Punkt bringen.

Diesem Aberglauben widersprechen wir. In der gegenwärtig herrschenden Bildungsideologie sehen wir das Problem, dessen Lösung zu sein sie vorgibt. Der Notwendigkeit, sich im Wettbewerb gegen Inder und Chinesen zu behaupten, widersprechen wir gar nicht, und wir werden in diesem Buch einiges sagen über den Weg zu diesem Ziel. Am ökonomischen Erfolg unseres Landes sind wir genauso interessiert wie Politiker, Manager und Unternehmer. Aber diesen Erfolg sehen wir gerade durch die beinahe schon zwangsneurotische Fixierung aufs Wirtschaftswachstum gefährdet. Gerade weil ökonomische Ziele oberste Priorität genießen, werden wir sie und eine gute Zukunft für unsere Kinder verfehlen.

Darum möchten wir in diesem Buch die Blickrichtung umdrehen und die Köpfe der Eliten für einen ganz einfachen, ganz selbstverständlichen Gedanken gewinnen: Sorgt euch zuerst um das Wohl der Kinder. Kümmert euch um deren Leib, Geist, Seele und Charakter! Das wird auch der Wirtschaft zugutekommen.

Sie braucht keine angepassten Ja-Sager, sondern starke, widerständige Menschen mit eigenen Ansichten, Werten und Visionen. Sie braucht kreative, originelle Charakterköpfe. Die kann man nicht züchten. Aber man kann die Grundlagen dafür bereitstellen.

Dies muss die Politik tun, dies kann in jeder Familie geschehen. In den letzten zwanzig Jahren war dies häufig fast nur noch mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts, gegen den Staat und die Wirtschaft, durchsetzbar. Das höchste Gericht im Staat musste diesen in der Vergangenheit immer wieder zwingen, Kindern und Familien wenigstens finanziell das Minimum dessen zu gewähren, was Familien zum Überleben brauchen. Andere Lebensnotwendigkeiten, wie etwa Liebe, Zuwendung, Zeit, Geborgenheit, Spiel, Sport, Musik, echte Bildung oder ein Fernsehen, das die Hirne von Kindern und Jugendlichen nicht vergiftet, sind leider vor keinem Gericht einklagbar und für viele Kinder nicht mehr selbstverständlich.

Je mehr wir aus lauter Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit unsere Kinder vernachlässigen, desto mehr Sorgenkinder werden wir bekommen, desto größer werden unsere wirtschaftlichen Probleme sein. Es gilt aber auch: Je mehr wir aus lauter Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit unsere Kinder pushen, schon im Kindergarten dem Wettbewerb aussetzen, sie nicht mehr Kind sein lassen, desto schwerer werden sie es haben, sich normal und gesund zu entwickeln.

Wer Kinder und Jugendliche «zukunftssicher» machen will, indem er versucht, sie wettbewerbsfähig zu machen, wird nicht einmal das erreichen, denn wer sich nur ökonomisch behaupten kann, wird unfähig sein, jene anderen Herausforderungen zu bestehen, von denen das Leben voll ist – und manche davon haben ein ganz anderes, persönlicheres Kaliber als der Kampf um Marktanteile.

Auf ökonomischen Erfolg programmierte Eliten werden den Wert unserer Oase mit deren Geldwert verwechseln und daher die wirklichen Innovationen, die nötig sind, um unsere Oase zu erhalten und auszubauen, nicht ersinnen und dem Vordringen der Wüste nichts entgegenzusetzen haben.

Die Gleichung «Bildung gleich Euro» ist nicht nur primitiv und dumm, sie ist auch zutiefst inhuman. Ihre Inhumanität zeigt sich in der scheinbar berechtigten Sorge des ifo-Instituts um die lese- und rechenschwachen Kinder. Denn in Wirklichkeit bereitet dem Institut ja nicht etwa die bedrückende, aussichtslose Situation dieser Kinder Anlass zur Sorge, sondern die Tatsache, dass diese Kinder «Wachstumsbremsen» sind. Es geht nicht um die Probleme der Kinder, sondern um die Probleme der Wirtschaft.

In anderen Zusammenhängen werden Kinder als künftige Rentenzahler, Produzenten und Konsumenten beschrieben, als Kostenfaktoren, als Problemgruppe, als Bildungsprodukte, die der ständigen «Qualitätssicherung» und «Evaluation» bedürfen. Nur um die kindliche Seele, um persönliches Glück und Chancen geht es nie. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln zu ihrem Nachwuchs ein Verhältnis, das dem Verhältnis des Bauern zu seinem Vieh gleicht. Wir bekommen es, überspitzt gesagt, mit einer ökonomischen Form von Kindesmissbrauch zu tun.

Das ganze von diesem Verwertungsinteresse gesteuerte Denken entlarvt sich schon an seinem Vokabular: Input, Output, Prozessmanagement, Benchmarking, Qualitätssicherung, Standardisierung, Soft Skills, Kompetenzen, Exzellenzcluster, Effizienz. Solches Geschwurbel tropft aus den Mündern unserer tonangebenden Bildungsmanager in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Wer so spricht, mag kompetent sein für die Produktion von Schrauben, Autos und Computern, in unserem Zusammenhang aber beweisen die Benutzer dieses aus dem zeitgenössischen Wörterbuch des ökonomischen Unmenschen stammenden Vokabulars vor allem ihre Inkompetenz für kindliche Seelen, für Erziehung und Bildung.

Um die Jahrtausendwende hatten wir gegen die Vorstellung von der Schule als Fabrik gekämpft. Wir wollten kein Bildungssystem, in das man vorne ein Kind hineinschiebt und hinten einen Ingenieur oder Betriebswirt herauszieht.10 Diesen Kampf scheinen wir verloren zu haben. Die Verfechter der Bildungsfabrik, die heutigen Bildungsforscher oder Pädagogen sind nicht mehr automatisch Anwälte und Beschützer unserer Kinder.

Im Gegenteil. Erziehungswissenschaftler wie etwa Jürgen Oelkers, Professor an der Universität Zürich und Experte für Schulreformen, formulieren forsch, worum es «bei Schule» geht: «in erster Linie darum, Abschlüsse zu erwerben und Absolventen für den Arbeitsmarkt zu produzieren. Wir brauchen ein System, das elastisch genug ist, einerseits zum Abitur zu führen, andererseits den Lehrstellenmarkt zu bedienen.»11 Der Geist, der aus solchen Worten spricht, das Bildungsverständnis, das ihnen zugrunde liegt, das ist derzeit die eigentliche Gefahr für die Zukunft unserer Kinder.

Die tüchtigen Nützlichkeitsautomaten, die unsere Bildungsfabriken ausstoßen sollen, werden den Wert und die geistigen Grundlagen unserer Oase gar nicht erkennen und daher weder willens noch fähig sein, sie zu erhalten. Geschweige denn, sie auszubauen und für die Ausgeschlossenen zu öffnen. Denn dafür bedarf es neben Wissen, Tüchtigkeit, Fleiß und Disziplin auch Verantwortungsgefühl, Haltung, Charakter, Empathie, Herzensbildung, Leidenschaft und ein Gespür für die Rangfolge unterschiedlicher Werte.

Daher wird es einen großen Unterschied machen, ob wir Lehrer zu reinen Wissensvermittlern und emotionslosen Organisatoren von Lernprozessen ausbilden oder ob wir Wert legen auf Lehrerpersönlichkeiten, die über eine innere Haltung verfügen und bemüht sind, so mit ihren Schülern umzugehen, dass sich auch bei ihnen eine innere Haltung bilden kann. Es wird auch einen Unterschied machen, ob wir bei der Auswahl unseres Führungspersonals nur auf dessen fachliche, wirtschaftlichtechnische Ausbildung achten oder auch auf eine allgemeine Bildung, charakterliche Eignung und Persönlichkeit.

Verhängnisvoll ist es auch, wenn Eltern sich vor ihrem Erziehungsauftrag drücken und die Charakterbildung an Kindergarten und Schule delegieren. Noch verhängnisvoller ist es allerdings – und das ist bereits Realität und Ansicht vieler Politiker –, wenn Kindergarten und Schule die Aufgabe vollständig an die Eltern zurückdelegieren. Die logische Folge ist, dass sich am Ende niemand mehr verantwortlich fühlt.

Unsere Kinder werden trotzdem erzogen, allerdings von Leuten wie Dieter Bohlen und Heidi Klum, von Marketingmanagern, Werbeagenturen, Computerspiele-Herstellern und Internet-Geschäftemachern. Die Produkte dieser Erziehung werden unsere Oase nicht erhalten, sondern weiter austrocknen lassen.

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