Читать книгу Lazarus - Christian Otte - Страница 10

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Anna war am Verzweifeln. Es mochte ein Klischee sein, aber sie zog bereits seit einer halben Stunde Outfit um Outfit aus ihrem Kleiderschrank und betrachtete sich selbst damit im Spiegel. Ihre Zwillingsschwester Lena saß auf dem Bett zwischen dem „Nee“-Haufen und dem „Vielleicht“-Stapel.

„Wie ist das hier?“, fragte Anna und hielt sich ein rotes Kleid vor den Körper.

„Etwas gewagt,“ erwiderte Lena, die gerade einen Pullover aus dem „Nee“-Haufen fischte.

„Also nicht gut?“

„Du bist doch sonst nicht so nervös vor einem Date.“

„Es ist ja auch kein Date.“

„Wenn es kein Date ist, würde ich das da nicht anziehen.“

Anna verzog den Mund zu einem leichten Schmollen und schmiss dann das Teil auf den „Nee“-Haufen.

„Hast du noch irgendwas, was du mir leihen würdest?“

„Nichts Passendes für ein Nicht-Date.“

Anna griff ihre Wasserflasche von der Kommode und nahm einen tiefen Schluck.

„Vielleicht brauchst du was Stärkeres als Wasser?“

„Was ich brauche ist eine Eingebung.“

„Hol' dir mal ein Bier aus der Küche und bring mir gleich eins mit.“

Anna warf sich einen Bademantel über und ging zum Kühlschrank. Vom Küchenfenster konnte man in die gegenüberliegende Wohnung sehen. Bei dem pubertierenden Jungen und einem Vater am Rande der Midlifecrisis, die dort wohnten, wollte sie nicht schon wieder von der Frau und Mutter der beiden angekeift werden, weil sie in ihrer eigenen Wohnung in Unterwäsche umherlief.

Von den 2 Flaschen aus dem Kühlschrank machte sie eine direkt auf und setzte sich an den Küchentisch. Lena hatte nicht ganz unrecht. Normalerweise, wenn Anna ausging, war sie nicht so nervös. Auch nicht, wenn es sich um ein Date handelte. Aber das hier war kein Date, also zumindest sollte es keins sein. Eigentlich wollte sie sich nur bei Alex bedanken, dass er ihr geholfen hatte. Auf die Frage, wie sie sich dafür bedanken könne, hatte er geantwortet, dass sie sich von ihm zum Essen einladen lassen solle. Und sie hatte zugestimmt. Vielleicht stand sie dabei wirklich unter Schock, aber abzulehnen war ihr nicht in den Sinn gekommen. Sicher, Alex war sympathisch, höflich und – wenn er denn sprach – lustig, soweit sie das aus ihrer einen Unterhaltung mitgenommen hatte, aber eigentlich nicht wirklich ihr Typ. Aber da war etwas in seiner Stimme, dass ihren Verstand umnebelte und ihren Körper zum Vibrieren brachte. Metaphorisch gesprochen.

Sie sah kurz an sich runter und überlegte ihre Dessous gegen etwas weniger aufreizendes zu tauschen um ganz sicher zu gehen, dass aus dem Nicht-Date nicht doch noch ein Date wurde. Allerdings war sie gerade so froh sich schon für ein passendes Set entschieden zu haben, dass sie es nicht riskieren wollte zu spät zu kommen, weil sie nochmal ganz bei 0 anfing.

„Ich glaube ich habe was“, hörte sie Lena aus ihrem Schlafzimmer flöten.

Sie stellte ihre Flasche ab und nahm die geschlossene mit. Auf dem Bett hatte Lena eine Kombination aus Jeans, T-Shirt und Strickjacke in blau und schwarz gelegt. Auch die passenden Schuhe hatte sie schon vor das Bett gestellt.

Alex sah auf die Uhr. 20 nach 8. Um 8 waren sie an der U-Bahn-Station verabredet gewesen. In ihrer SMS hatte sie geschrieben, dass es ein paar Minuten später werden würde. In 2 Minuten würde die nächste U-Bahn aus ihrer Richtung einfahren. Er hatte schon schlimmeres überstanden, da würden ihn 22 Minuten Warten nicht umbringen. Er sah auf die Anzeige, die von der Decke hing. Noch eine Minute bis zur Einfahrt des Zuges. Als er aus dem Tunnel das Kreischen der Metallräder auf den Schienen hören konnte stand er von der Bank auf, auf die er sich gesetzt hatte und rieb sich den Hintern um das taube Gefühl loszuwerden. Er fragte sich, darum um alles in der Welt man diese Bank aus dem härtesten Holz gemacht und mit dem unbequemsten Lack überzogen hatte. Ben hatte einmal laut darüber nachgedacht aus diesen Komponenten schusssichere Westen, Panzerschränke oder Fahrzeugkarosserien fertigen zulassen. Mit dem fehlenden Gefühl in seinem Hintern war er sich nicht mehr sicher ob es ein Scherz gewesen war.

Die Bahn fuhr ein und Alex erkannte, dass Anna in einem der vorderen Waggons stand. Er ging ihr entgegen und stand bereits in der Nähe der Tür, bevor diese aufging.

„Entschuldige die Verspätung“, sagte sie und streichelte ihn zur Begrüßung versöhnlich am Arm.

„Gar kein Problem. Wollen wir?“, lächelte er zurück und deutete in Richtung Ausgang. Er glaubte ein leichtes Glühen an ihr zu bemerken. Vielleicht hatte er auch einfach nur Hunger.

Wenig später saßen sie an einem Tisch in einer dunklen Ecke eines Indischen Restaurants. Die Kellnerin hatte gerade die Kerze angezündet und die Karten gebracht, als sie mit den üblichen Floskeln über den Verlauf der ersten Uniwoche, sowie wortreicher Entschuldigungen von Anna wegen ihrer Verspätung fertig waren.

„Darf es schon etwas zu trinken sein?“, fragte die Kellnerin und zückte ihren Bestellblock.

„Für mich ein Bier“, preschte Anna vor.

„Groß oder klein?“

„Klein bitte.“

„Und für mich bitte ein großes Wasser“, bestellte Alex, als die Dame noch das Bier auf ihrem Block kritzelte.

„Großes Wasser ist bei uns eine Flasche“, erklärte sie und deutete mit ihren Händen die Größe der Flasche an.

„Das wäre mir sehr recht, danke.“

Als die Bedienung mit den Getränken wiederkam hatten sich beide schon auf ihr jeweiliges Gericht geeinigt und bestellten.

„So, und jetzt erklär' mir doch mal bitte“, forderte Anna, „warum man deinen Vornamen deutsch ausspricht, wenn dein Nachname aus dem angelsächsischen kommt.“

„Na, so ungewöhnlich ist das nicht. Schließlich bin ich in Deutschland geboren und aufgewachsen.“

„Aber Doyle ist nicht unbedingt ein Name, den man in Deutschland häufig antrifft.“

„Ja, das ist richtig“, sagte Alex, nahm eine möglichst aufrechte und steife Haltung an und benutzte seinen sonst nicht vorhandenen britischen Akzent.

„Oh, der edle Herr. Like a Sir.“

Alex hob die Nase etwas an. „Ich denke doch, man kann von Ladies und Gentleman eine gewisse Noblesse erwarten.“ Augenblicklich wollte er sich Ohrfeigen. In seinem Kopf hatte noch kurz zuvor alles so gut geklungen. Er hielt es für eine prima Idee den affektierten Engländer herauszukehren. Aber jetzt war er sich nicht so sicher, ob er affektiert genug war, um deutlich zu machen, dass es ein Witz sein sollte. Sie begann zu grinsen. Zum Glück. Und auch er konnte ein Grinsen nun nicht länger unterdrücken. Das widersprach seiner Rolle ein wenig.

„Noblesse hört man auch nur noch selten“, lachte Anna.

„Um alles zu erklären muss ich weiter ausholen“, begann Alex und holte tief Luft. Hauptsächlich der dramatischen Pause wegen und um seinen Akzent wieder zu unterdrücken.

„Mein Großvater war Brite und nach dem Krieg einige Zeit in Deutschland stationiert. Er hatte eine Liaison mit einer Deutschen. So kurz die Liaison auch war, war sie doch umso fruchtbarer. Als das Kind geboren war, war mein Großvater wieder in England. Er hat erst kurz vor seinem Tod erfahren, dass er ein Kind in Deutschland hat.“

„Und das war dein Vater“, folgerte Anna, als Alex einen Schluck trank.

„Leider daneben. Das Kind war Bens Vater. Mein Vater ist das Kind aus der Ehe unseres Großvaters mit meiner Großmutter, die er nach seiner Rückkehr nach England kennenlernte und heiratete. Mein Vater hat irgendwann alte Unterlagen und Bilder seines Vaters durchgesehen und ist dabei auf Bens Großmutter gestoßen. Er hat Kontakt aufgenommen und dadurch erfahren, dass er einen Halbbruder hat. Den wollte er dann besuchen. Erstmal zum Kennenlernen, und danach noch ein paar Mal. Und irgendwann hat er auf einer dieser Besuchsreisen meine Mutter kennen gelernt.“

„Ok, dann bedeutet das, dein Vater ist Engländer und für deine Mutter nach Deutschland umgezogen.“

„Irgendwie romantisch“, seufzte Anna.

„Ich will aber nicht die ganze Zeit über mich reden, was ist mit dir?“, fragte Alex, in der Hoffnung sie von weiteren Fragen zu seinem Namen abzulenken.

„Was soll mit mir sein?“, fragte Anna verdutzt.

„Ich habe dir grade meine halbe Familiengeschichte erzählt. Ich habe keine Lust den ganzen Abend nur über mich zu reden. Erzähl mir was über dich. Was machst du so?“, hakte Alex nach und goss sich aus der Wasserflasche nach um ihr Zeit zu geben nachzudenken und zu antworten.

Anna ließ etwas hören, das wie ein leichtes Seufzen klang und antwortete: „So viel gibt es nicht zu sagen. Ich studiere jetzt im 3 Semester Wirtschaftsrecht. Habe eine Zwillingsschwester mit der ich zusammen wohne. Treibe in meiner Freizeit viel Sport, liebe klassische Musik. … Tja. ... Das war es eigentlich auch schon. … Was ist so lustig?“ Bei der Erwähnung ihrer Wohnsituation hatte Alex unweigerlich lächeln müssen.

„Entschuldige, mir ist bei deiner Aufzählung nur der Gedanke gekommen, dass das eine typische Beschreibung ist, wie man sie in einem Onlineprofil findet. Möglichst viele Allgemeinplätze und möglichst wenig Informationen.“

„Was willst du damit sagen?“

„Sagen will ich nichts. Ich habe nur etwas festgestellt. Du hättest mir etwas darüber sagen können, dass du in deiner Freizeit Tennis spielst. Dass du klassische Musik nicht nur liebst, sondern auch selber Geige spielst. Du hättest auch eure Katze erwähnen können. All das hast du nicht getan. Ich schließe daher ...“

„Moment“, unterbrach ihn Anna, „woher weißt du das? Das steht nicht mal bei Facebook?“ Sie war sich gerade nicht sicher, ob sie schockiert oder verwirrt war. Woher konnte er das wissen? Unweigerlich tauchte das Wort „Stalker“ vor ihrem inneren Auge auf.

„Entschuldige bitte, wenn du so freundlich wärst dich wieder zu setzen, werde ich es dir erklären.“ Anna hatte sich bereits erhoben und nach ihrer Tasche gegriffen um unter Protest das Restaurant zu verlassen, doch jetzt setzte sie sich wieder hin. Sie wollte es wohl genauer wissen.

„Als wir von der Bahn hier her gegangen sind hast du dein Gewicht hauptsächlich auf den linken Fuß gelagert. Als du die Jacke ausgezogen hast konnte ich erkennen, dass dein linker Arm beweglicher ist als dein rechter. Das deutet auf die typische Tennismuskulatur und eine kürzlich verheilte Sportverletzung hin. Alternativ hätten es auch Verletzungen vom Kampfsporttraining sein können, aber ich hielt Tennis für wahrscheinlicher. Dass du Geige spielst sehe ich an dem Striemen an deinem Kinn. Die kleine Schramme an der rechten Augenbraue, die Tierhaare an deinem Ärmel und Kratzer an deiner Handkante deuten auf eine Katze.“

„Wow, das... war... erstaunlich“, stotterte Anna, die nun zusammengesunken in ihrem Stuhl saß.

Noch bevor sie wieder Worte fand stelle die Kellnerin einen Korb mit frittiertem Brot und einen mit Besteck auf den Tisch.

„Erstaunlich höre ich da nicht allzu oft“, sagte Alex und deutete der Kellnerin ihm eine weitere Flasche Wasser zu bringen. Anne nippte kurz an ihrem Bier und fragte: „Was hörst du sonst?“

„Normalerweise eine Beleidigung oder das Klatschen einer Ohrfeige.“

Anna prustete in ihr Glas.

„Du hast nicht wirklich viel Erfahrung mit Gesprächen mit Frauen, oder?“

Anna hatte Recht, aber das könnte er ihr auch später noch genauer erklären.

„Lag ich mit irgendwas falsch?“, wollte Alex wissen.

„Ja, wir haben 2 Katzen“, korrigierte Anna.

„So nah dran“, fluchte Alex leise.

Während sie sich trocken tupfte stellte sie eine der Fragen, die Alex eigentlich umgehen wollte: „Netter Trick. Du hörst das bestimmt ständig, aber bist du verwandt mit dem Schriftsteller Doyle, der Sherlock Holmes erfunden hat?“

Alex druckste etwas herum, nickte dann aber.

„Wirklich? Dass überrascht mich doch.“

„Ja, ist ein entfernter Verwandter. Bedauerlicherweise fand mein Vater, dass er irgendwie diese Verbindung deutlich machen müsse.“

„Und wie?“, fragte Anna, die endlich die Flecken getrocknet und für nicht so schwerwiegend befunden hatte.

Alex seufzte. „Mein voller Name lautet Alexander Conan Doyle.“

„Warum nicht gleich Arthur?“

„Weil meine Mutter ihn davon überzeugen konnte, dass ein Kind in Deutschland mit dem Zweitnamen Conan schon genug gestraft sei und stattdessen lieber den Vornamen seines Großvaters tragen sollte.“

„Kluge Frau“, schmunzelte Anna und griff nach dem Brot um es in der Mitte durchzureißen.

Der Abend entwickelte sich besser als beide erwartet hatten. Zur Freude Annas hatte sich Alex in der Zeit, die er wegen seines Herzfehlers in Behandlung war, einen umfangreichen Kenntnisstand zum Thema Literatur angeeignet. Neben den kompletten Werken von Sir Arthur Conan Doyle, die ihm seine Mutter, aus – seiner Überzeugung nach – sadistischen Motiven, mitgebracht hatte auch Klassiker wie Dantes „Göttliche Komödie“, Melvilles „Moby Dick“, Tolkins „Herr der Ringe“ und Dostojewskis „Der Idiot“. Insgesamt hatte er sich in seiner Zeit in Behandlung durch die halbe Weltliteratur gelesen. So hatten sie ein Thema an dem sie sich den Abend entlang hangeln konnten ohne sich zu sehr in persönliche Details zu verlieren. Natürlich hatte er ihr nicht erzählt, warum er so viel Zeit hatte, so viele Bücher zu studieren. Das war ihm dann doch etwas zu privat für den Anfang. Alles in allem war es ein sehr erfolgreiches Nicht-Date, so dass ihr Alex' Frage nach einer baldigen Wiederholung ein spontanes und ehrliches „Gerne doch.“ entlockte.

Als sie das Restaurant verließen, schlenderten beide in Richtung U-Bahn-Station. Sie waren so in das Gespräch vertieft, dass ihnen die beiden jungen Männer zwischen den Passanten nicht auffielen, die ihnen folgten.

Erst als sie in eine ansonsten entvölkerte Straße abbogen erhaschte Alex einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel auf die beiden. Vielleicht war es nur Zufall, dass die beiden in gleichbleibendem Abstand in dieselbe Richtung gingen, aber riskieren wollte er trotzdem nichts, so beschleunigte er seinen Schritt etwas und Anna passte ihre Geschwindigkeit an, jedoch ohne etwas zu sagen. Er überlegte kurz, welches der beste Weg zur Station war. Es waren nur noch etwa 200 Meter bis zu einer S-Bahn-Überführung, danach rechts und noch etwa 500 Meter. Während sie sich in einem Monolog über die Werke Hermann Hesses ausließ sah er noch einmal zurück. Die beiden hatten ihren Abstand verringert. Der eine steckte gerade ein Handy in seine Jacke.

Als er wieder nach vorne sah, wäre er fast in einen kleinen, muskelbepackten Glatzkopf gelaufen, der plötzlich unter der Überführung aufgetaucht war.

„'tschuldigung, habt ihr Feuer?“, fragte der Glatzkopf.

„Leider nein“, sagte der in seiner Vorwärtsbewegung abrupt gestoppte Alex.

„Auch Nichtraucher“, entschuldigte sich Anna und wollte gerade an dem Mann vorbei, als sich dieser wieder in den Weg stellte.

„Dann vielleicht etwas Kleingeld?“, fragte der Fremde, mit deutlich weniger Höflichkeit in der Stimme.

„Auch nicht“, antwortete Anna.

Alex griff an seine Armbanduhr während er sich zwischen Anna und den Mann schob, wobei er darauf achtete, ihr einen möglicherweise notwendigen Fluchtweg nicht zu versperren.

„Dann nehm' ich auch gern größere Scheine“, grinste der Glatzkopf, der wie aus dem nichts ein Butterfly-Messer in der Hand hielt.

Anna unterdrückte einen Schrei, indem sie sich den Mund mit beiden Händen zuhielt.

„Ich bin sicher, wir können das wie vernünftige Menschen regeln. In dem Portemonnaie in meiner Hose habe ich etwa 200 Euro. In meiner Jackentasche habe ich mein Handy, das ist so gut wie neu und noch etwa 500 Euro wert. Ich werde euch beides geben, wenn ihr uns ziehen lasst“, bot Alex an.

„Na her damit“, sagte der Räuber und hielt die andere Hand auf.

„Nette Handtasche“, hörte Alex eine Stimme hinter sich. Die beiden Männer hatten sich dazugestellt und versperrten ihm und Anna den Rückzug. Während der eine Anna, mittlerweile starr vor Schreck, die Handtasche von der Schulter nahm, hielt der andere ebenfalls ein Messer in der Hand. Alex zog, betont langsam, sein Portemonnaie aus der Hose und mit der anderen sein Handy aus der Jackentasche. Dabei behielt er den Mann mit dem Messer, der Anna bedrohte, stets im Blick. Der andere schüttelte den Inhalt ihrer Tasche auf den Bordstein, griff sich das herausgefallene Handy und schien ihre Geldbörse, die in einem Seitenfach noch immer in der Tasche hing, zu suchen. Alex reichte dem Räuber vor ihm sein Handy auf der offenen Handfläche und hielt mit der anderen seine Geldbörse so auf, dass dieser die Scheine einfach entnehmen konnte.

Hinter sich hörte Alex Anna leise wimmern, als der zweite Räuber mit dem Messer nah an ihr Gesicht kam.

„Wo ist es?“, brüllte der Typ am Boden, der noch immer den Inhalt ihrer Tasche auf dem Pflaster hin- und herschob.

Der zweite Messermann leckte sich kaum merklich über die Lippen.

„Wo ist es?“, fragte der Mann der die Handtasche durchsuchte erneut. Diesmal lauter und bedrohlicher. Dabei kam er auf Anna zu und griff sie am Arm um sie zu Boden zu zerren.

„Ganz ruhig“, versuchte Alex zu beruhigen.

„Halt die Klappe.“ Der Räuber, der Anna am Arm festhielt, deutete seinem Kollegen ihm das Messer zu geben, was dieser recht widerwillig tat. Kaum hatte er das Messer in der Hand hielt er es an Annas Hals und brüllte: „Und diese Schlampe zeigt mir jetzt wo sie ihr Geld hat.“

Anna hielt einen Schmerzlaut zurück als sich das Messer an ihren Hals drückte. Ein schmaler roter Streifen zeichnete sich ab.

Alex hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Als hätte ein unsichtbarer Zuschauer mit einer Fernsehfernbedienung die Farbe aus der Welt gedreht wurde vor seinen Augen alles zu einem Bild aus Grau in Grau. Er drehte seine Handflächen nach unten, setzte den rechten Fuß zur Seite.

Der Glatzkopf versuchte reflexartig nach der fallenden Beute zu greifen. Alex griff die Hand, in der er das Messer hielt. Er drehte seinen ganzen Körper ruckartig nach links. Dieser kurze Impuls reichte. Der Glatzkopf musste einen Schritt nach vorn machen. Alex packte mit der Linken nach der fixierten Hand, ließ mit der Rechten los, zog seine Arme auseinander. Sein Ellenbogen traf das Gesicht des Räubers knapp unter dem linken Auge. Er spürte das Knacken des Knochens. Der Glatzkopf fiel zu Boden. Alex' nächster Schlag führte unter dem Arm des Räubers, der das Messer an Annas Hals hielt, hindurch zu dessen Schulter. Sein Arm glitt nach oben. Er griff er das Jackenmaterial und streckte sich. Die plötzliche Aufwärtsbewegung riss den Gegner von den Füßen. Einer übrig. Wie Anna zur Statue erstarrt. Alex trat einen Schritt auf ihn zu, drehte sich ein und traf mit dem Ellenbogen das Kinn des Gegners. Der Unterkieferknochen gab spürbar nach. Sein Besitzer ging in einer leichten Drehbewegung zu Boden.

Annas Quieken war das erste, was er wieder hörte. Sie stand zwischen zwei der am Boden liegenden Räubern. Annas Fäuste waren vor Entsetzen und Anspannung geballt, ihre Schultern hochgezogen.

„Alles ok“, sagte Alex im beruhigenden Tonfall und tat einen Schritt auf sie zu, während die Spannung langsam von ihm abfiel. Er konnte ihr Zittern am ganzen Körper sehen. Sie sah ihn verwirrt an, während er dicht an sie herantrat und seine Arme um sie schloss. Sie lehnte ihr Gesicht an seine Schulter und begann leise zu weinen.

„Alles ok, es ist vorbei“, versuchte er sie zu beruhigen.

Sie löste ihr Gesicht von seiner Schulter und sah ihn an. Ihr Make-Up war verschmiert und hatte einen amorphen Fleck auf seinem Hemd hinterlassen.

„Wir sollten gehen“, flüsterte er und sie nickte.

Er sammelte ihre Sachen auf und gab ihr die Tasche zurück.

Mit ihrem Arm um seine Hüfte und seinem über ihrer Schulter gingen sie weiter.

„Ganz ruhig, es ist vorbei“, wiederholte Alex, kaum dass sie drei Schritte entfernt waren.

„Ja, das ist es“, antwortete eine Stimme hinter ihnen.

Er hörte das Klicken während er sich umdrehte. Er sah das Mündungsfeuer als die erste Kugel den Revolver verließ. Er roch das Schießpulver als die zweite und dritte Kugel ihn trafen. Er schmeckte das Blut in seinem Mund als Anna zu schreien begann. Er spürte wie sein Körper auf den Asphalt aufschlug.

Er wollte Anna beruhigen, die völlig aufgelöst neben ihm kniete. Doch er konnte nichts mehr sagen. Blut sammelte sich in seinem Mund.

Während sich die Welt um ihn herum verdunkelte sah er Anna und versuchte zu lächeln.

Ein Date wird dich nicht umbringen, hatte Ben gesagt. Dass er sich ausgerechnet hier irren sollte, hätte Alex nie geahnt.

Das klingelnde Handy weckte Wolk aus tiefem Schlaf.

Er stöhnte ein langgezogenes „Jaaahhhh...“ in die Leitung und hörte, was ihm der Mann am anderen Ende berichtete.

Milena drehte sich ihm zu und wollte sich gerade wieder an ihn kuscheln als er hochfuhr.

„Was?“, fragte Wolk, jetzt hellwach. Der Gesprächspartner wiederholte seinen letzten Satz.

„Alles klar. Danke für die Information. Ich bin unterwegs.“

„Was ist denn los?“, murmelte Milena deutlich zerknautscht.

„Mein Kontaktmann vom Orden. Ich muss mich mit ihm treffen.“

Milena ließ das Gesicht ins Kissen fallen. „Jetzt?“, nuschelte sie.

„Leider ja.“

Als sie wieder aufblickte hatte er sich bereits komplett angezogen. Ohne ein weiteres Wort, griff er seine Jacke und stürmte aus der Wohnung.

Milena war bereits wieder eingeschlafen als er nach zwei Schritten aus der Tür umdrehte, ins Schlafzimmer zurückkam und ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn drückte.

Lazarus

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