Читать книгу Lazarus - Christian Otte - Страница 13

8

Оглавление

„Sollten wir nicht irgendwem Bescheid geben, dass ich wiederauferstanden bin. Nicht das mich jemand für einen Zombie hält und mir spontan den Kopf abschlägt“, fragte Alex als er und Wolk die Treppe hinaufstiegen, die sie aus der Pathologie führte. Wolk hatte ihn überredet mit ihm an einem neutraleren Ort zu gehen und weiteres zu besprechen. Er wusste nicht was er davon halten sollte mit einem Fremden an einen ihm unbekannten Ort zu gehen, kurz nachdem dieser ihm gesagt hatte er sei angeblich ein Vampir. Andererseits, er war anscheinend gerade von den Toten auferstanden, was hatte er also zu verlieren. Wolk hatte den Kittel gegen ein dunkelgraues Sakko getauscht, an dessen Revers ein verzerrtes F als Anstecknadel steckte.

„Diese Fixierung auf Zombies ist faszinierend“, sagte Wolk und drückte die Tür für das Erdgeschoss auf.

„Popkultur“, antwortete Alex und zuckte mit den Achseln.

Alex betrachtete Wolk aus dem Augenwinkel. Er war gut anderthalb Köpfe größer, hatte kurze, dunkle Haare und war ihm mit Sicherheit an Körperkraft überlegen. Sein Anzug schien maßgeschneidert zu sein, denn Alex konnte sich nicht vorstellen, dass es Anzüge in dieser Größe von der Stange gab.

„Keine Angst, wir haben alle notwendigen Vorkehrungen getroffen. Offiziell liegen Sie auf der Intensivstation. Es wird niemandem auffallen, dass Sie tot waren“, erklärte Wolk.

„Aber die Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern“, hakte Alex nach.

„Lassen Sie die mal unsere Sorge sein. Darf ich du sagen? Dieses ewige Gesiezte geht mir auf die Nerven.“

Alex nickte.

„Danke. Also ich kann dir die Details gern später erklären, tun aber im Moment nichts zur Sache.“

Wolk öffnete die Tür ins Freie. Alex folgte ihm nach draußen. Sie standen zwischen einer Reihe unterschiedlich großer Backsteingebäude, von denen die Pathologie eines der kleineren war. Das größere, an dem sie vorbeigingen, erinnerte Alex auf dieser Seite an alte Schlösser oder Klöster mit den von Bögen eingefassten Balkonen. Zur Rechten konnte er zwischen den Gebäuden einen Blick auf den Hauptbahnhof werfen.

„Wo gehen wir hin?“, fragte Alex.

„Hier um die Ecke gibt es ein hervorragendes Restaurant. Sicher hast du Hunger.“

Zugegebenermaßen war Alex echt hungrig, aber mit einem Typen, der einen für einen Vampir hielt, essen zu gehen, war vielleicht nicht die beste Idee, der er je zugestimmt hatte. Andererseits hatte Alex wirklich Hunger. Solange sie in der Öffentlichkeit blieben, war es wohl vertretbar.

Tatsächlich waren sie nur etwa fünf schweigsame Minuten auf der Straße unterwegs, als Wolk ihm die Tür zu einem Restaurant aufhielt, das Alex bisher nur aus Bens Erzählungen kannte. Ein Ober begrüßte die beiden und brachte sie an einen Tisch im schlecht einsehbaren, unteren Bereich, der unter Straßenniveau lag. Alex meinte zwischen Wolk und dem Ober ein kurzes Nicken erkannt zu haben. Kaum hatten sich die beiden gesetzt wurden ihnen zwei Speisekarten gereicht.

„Die Herren wissen bereits, was sie trinken wollen?“

„Ein Wasser und ein Glas ihrer Hausmarke bitte“, bestellte Wolk, den Blick bereits in der Karte versenkt.

„Für mich auch bitte ein Wasser. Ein großes bitte“, sagte Alex, den Blick strickt auf Wolk gerichtet.

Der Ober ging. Da sein Gegenüber keine Anzeichen machte die Unterhaltung wiederaufzunehmen, griff Alex zur Karte und blätterte darin herum.

„Du solltest das Entrecôte probieren, das ist hier wirklich gut“, empfahl ihm Wolk, immer noch hinter der Karte verschanzt.

„Das sollte es auch, bei dem Preis“, staunte Alex, als er die Stelle in der Karte fand.

Als Alex die Karte weglegte kam gerade der Ober mit den Getränken.

Als er ein Weinglas vor Wolk abstellen wollte, wies dieser auf Alex und der Ober stellte das Glas vor diesen.

„Haben die Herren schon gewählt?“

Wolk wählte das von ihm empfohlene Entrecôte, medium rare, und Alex tat es ihm gleich.

„Ich trinke keinen Alkohol“, sagte Alex als der Ober wieder gegangen war und schob das Glas zu Wolk hinüber. Wollte der Kerl ihn abfüllen?

„Erstens, weiß ich, dass du keinen Alkohol trinkst, weil du regelmäßig Medikamente nimmst aufgrund deiner Transplantation“, begann Wolk aufzuzählen.

Die Information, dass er eine Herzoperation hatte, konnte jeder schlussfolgern, der Alex' nackte Brust mit seiner Transplantationsnarbe gesehen hatte. Das beeindruckte ihn noch nicht wirklich.

„Zweitens“, fügte Wolk hinzu, „bin ich selbst Arzt und hab deine Akte gelesen. Vom medizinischem Standpunkt sind kleine Mengen Alkohol durchaus vertretbar. Das Immunsuppressivum das du nimmst hat keine Wechselwirkung mit Alkohol. Drittens, und das ist entscheidend, ist dies kein 'Hauswein', sondern eine 'Hausmarke'. Trink das, dann wird es dir bessergehen.“

Alex hob das Glas vor den Mund und schnupperte daran. Blut war das nicht, was er nach dem bisher gehörten vermutet hatte. Aber nach Wein roch es auch nicht wirklich. Er nippte daran und kam dann zu dem Schluss, dass es sich um eine Art Mehrfruchtsaft handelte, allerdings hinterließ dieser einen leicht metallischen Nachgeschmack. Merkwürdigerweise empfand er eben diesen Nachgeschmack aber keineswegs als unangenehm, wie er es erwartet hatte, sondern genoss ihn und so trank er gierig das ganze Glas in einem Zug aus.

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was weißt du über Vampire? Inzwischen solltest du Zeit gehabt haben, darüber nachzudenken“, wollte Wolk wissen und lehnte sich auf dem Tisch vor.

Alex sah sich um, aber es war definitiv niemand in Hörweite, der ihn für verrückt hätte halten können.

„Eigentlich nur das, was die meisten wissen. Es handelt sich um einen Aberglauben, der vor allem in Osteuropa Verbreitung gefunden hatte.“

„Du spielst auf Arnold Paole und Peter Plogojowitz an.“

„Ich habe mir die Namen nicht gemerkt, aber vermutlich ja.“

Paole und Plogojowitz waren serbische Männer, die 1732 und 1725 starben. Von beiden erzählten die Dorfbewohner, dass man sie nach der Beerdigung noch durch das Dorf schleichen sah. Zeitgleich häuften sich die Todesfälle unter der Dorfgemeinschaft. Alle, die dieser Serie zum Opfer fielen, behaupteten kurz vor ihrem Tod den angeblichen Vampir gesehen zu haben. Als man die Leichen ausgrub sah man, dass diese nicht verwest zu sein schienen. Die Haare und Fingernägel der Toten waren weitergewachsen und um ihren Mund hatten sie frisches Blut. Bei einer dieser Exhumierungen war ein Stabsarzt anwesend, der dies dokumentierte, bei der anderen wurde die Maßnahme von einem Beamten bewilligt und niedergeschrieben.

„Das meine ich nicht“, ergänzte Wolk, „Vampire in der Literatur, in Filmen, in Geschichten, was weißt du darüber?“

Alex überlegte kurz und zählte dann alles auf, was ihm einfiel.

In der Kultur wurde viel über Vampire berichtet, aber wenig, was einer wissenschaftlichen Überprüfung standhielt. So war sich Alex sicher, dass die Fähigkeit sich in Nebel zu verwandeln ebenso ins Reich der Märchen gehörte, wie die Fähigkeit zu fliegen. Das sich Vampire ausschließlich durch Bluttrinken ernähren, andere Menschen hypnotisieren konnten und in Särgen schliefen, hielt er dafür am wahrscheinlichsten. Das alles war jedoch kein eindeutiges Zeichen für Vampire, sondern deuteten viel mehr auf ein psychologisches Phänomen hin. Irgendwo zwischen diesen beiden extremen lagen die anderen Eigenschaften, die Vampiren zugeschrieben wurden: Vampire waren immun gegen Alter, Krankheit und Gifte. Sie hatten Angst vor Kreuzen, Knoblauch und Kirchen. Der Kontakt mit Weihwasser und Sonnenlicht bereitete ihnen Schmerzen (letzteres, je nach Quelle, führte zu Verbrennungen oder zum Tod). Sie konnten sich in Wölfe und Fledermäuse verwandeln, hatten weiche Haut und Knochen und pflanzten sich fort, indem sie ihre Opfer bissen, bevorzugt entweder besonders leichtlebige Damen oder Jungfrauen.

Dass die statistisch höchste Todeswahrscheinlichkeit bei Vampiren ein Pflock durchs Herz war und der Körper eines Vampires bei dessen Tod zu Staub zerfiel, waren die letzten Punkte, die ihm einfielen.

Wolk nickte aufmerksam bei jeder genannten Eigenschaft und wartete geduldig, bis Alex fertig war.

Der Ober stellte gerade einen Korb mit Brot auf den Tisch, als Wolk Luft holte um zu antworten.

„Nun gut, fangen wir mit dem offensichtlichsten an. Vampire können sich weder in Nebel noch in irgendwelche Tiere verwandeln. Sie sind auch keine lebenden Tote, sondern haben die Fähigkeit zur Wiederauferstehung.“ Dabei deutete er auf Alex. „Sie funkeln nicht im Sonnenlicht und zerfallen darin auch nicht zu Staub. Auch nicht, wenn sie sterben. Richtig ist jedoch, dass sie stark auf die Sonne reagieren. Das reicht von einer ausgeprägten Lichtempfindlichkeit über Verbrennungen 3. Grades bis zu einer Sonderform der Xeroderma pigmentosa.“

„Die Mondscheinkrankheit?“, fragte Alex nach. Wolk nickte.

Alex hatte von dieser Krankheit gehört. Eine genetische Hautkrankheit, bei der eine starke Reaktion auf UV-Strahlen besteht. Die Haut bildet, sobald sie von UV-Strahlung getroffen wird, Entzündungen, welche sich später zu Hautkrebs weiterentwickeln können. Eine sehr seltene Krankheit. Da sich diese Krankheit nicht durch andere Indikatoren während der Schwangerschaft nachweisen lässt, erleben die meisten Patienten die erste Attacke kurz nach der Geburt. In einem Fernsehbericht hatten Eltern erzählt, wie sie das Kind ein einem weiß gestrichenen Raum auf die Wickelkommode legten und dann das Rollo vor dem Fenster öffneten. Durch die weißen Wände wurde das Licht mehrfach reflektiert und so traten die Hautreaktionen in Sekundenschnelle auf. Da die Betroffenen unbehandelt meist nicht älter werden als 10 und ihr Leben meist nur nachts führen können, hat sich der Begriff Mondscheinkinder, beziehungsweise Mondscheinkrankheit, etabliert. So schön der Name auch klingt, so schwer ist das Leben für die von der Krankheit betroffenen und deren Angehörigen.

Wolk fuhr fort: „Wahr ist dagegen, dass Vampire aufgrund einer veränderten Genstruktur wesentlich länger leben als normale Menschen und aufgrund ihrer Selbstheilungskräfte auch Gifte, Krankheiten und schwere Verletzungen nahezu unbeschadet überstehen.“

„Veränderte Genstruktur?“

Wolk überlegte kurz, wie er es einem medizinischen Laien verdeutlichen sollte und erklärte dann: „Strenggenommen ist der Vampirismus über den wir hier reden eine Viruserkrankung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Viren ersetzt der Nosferatu viridae nicht die komplette DNA im inneren der befallenen Zelle, sondern ändert einige Abschnitte, wie zum Beispiel die Telomere. Daraus ergibt sich auch die geringe Alterung und die Immunität gegen die meisten Dinge, die einen Menschen töten würden.“

Telomere, das wusste Alex, sind die Endstücke der DNA-Ketten, die sich, nach allgemeiner Auffassung, bei jeder Teilung verkürzten und so ab einer kritischen Länge den Zelltod einleiten. Diese Enden gelten als Schlüssel zum Alterungsprozess. Wenn es wirklich eine Möglichkeit geben sollte, Telomere so zu verändern, dass sie sich nicht mehr verkürzen, würde das die Medizin um Lichtjahre voranbringen. Bevor Alex diesen Gedanken abschweifen lassen konnte, wurde er von Wolk mit weiteren Erklärungen in die Wirklichkeit zurückgeholt.

„Die Reaktion auf Weihwasser und Kreuze ist eher psychosomatischer Natur. Ebenso sind das Nicht-betreten-können, oder besser Nicht-betreten-wollen, von Kirchen und das Schlafen in Särgen persönliche Entscheidungen. Oder beginnende Psychosen. Je älter Vampire werden, desto anfälliger werde sie auch für Geisteskrankheiten. Das menschliche Gehirn ist einfach nicht auf ewiges Leben ausgelegt. Irgendwann ist es einfach überfüllt.“

Alex versuchte aus der Mimik und der Gestik seines Gegenübers schlau zu werden. Nichts wies darauf hin, dass er log. Keine nervösen Gesten. Kein Zucken. Kein Ausweichen des Blicks. Aber auch sonst nichts, was auf eine emotionale Reaktion hindeutete. Alles an Wolk wirkte als wäre er hochkonzentriert. Als könne er die Geschichte, die er gerade erzählte, aus dem Gedächtnis abrufen und herunterbeten. Entweder war er ein verdammt guter Schauspieler, oder ein verdammt schlechter. So schlecht, dass er so verbissen auf den Text konzentriert war, dass er das Schauspielern drum herum völlig vergaß. Oder er glaubte wirklich, was er da erzählte.

„Fliegen im klassischen Sinne können Vampire nicht“, fuhr Wolk fort, „eher sehr hochspringen. Weil sie, auch das stimmt, sehr leichte Knochen haben. Hypnotisieren ist eine der psychischen Gaben einiger Vampire, aber nicht aller. Und dass sie Blutsauger sind ist auch nicht von der Hand zu weisen.“

Alex konnte immer noch kein Anzeichen für eine Lüge erkennen, stattdessen hörte er von Wolk: „Um einen Vampir zu erschaffen, braucht es einen Biss, aber nicht jeder der gebissen wird, wird zum Vampir.“

„Nicht?“

„Nein. Dafür benötigt es im Normalfall etwas, das wir Bluttaufe nennen. Der Vampir trinkt das Blut des zu Verwandelnden und der trinkt im Gegenzug das Blut des Vampirs.“

„Dann kann ich kein Vampir sein. Du hast leider einen Fehler in deiner Argumentationskette. Ich hatte nämlich keine solche Bluttaufe“, folgerte Alex triumphierend, „Ich wusste doch, dass du dir mit dieser Lügengeschichte früher oder später selber ein Bein stellen würdest.“

„Ich sagte 'im Normalfall'. Bei dir haben wir einen, ich würde mal sagen, spezial gelagerten Sonderfall“, unterbrach ihn Wolk.

Alex fühlte sich dabei an irgendwas erinnert, kam aber nicht darauf woran. Aber er sah, dass Wolks Blick auf seiner Brust ruhte.

„Meine Transplantation?“ Wolk nickte kurz. „Was ist damit?“, hakte Alex mit fragendem Unterton nach.

„Anscheinend gab es eine nicht autorisierte Bluttaufe. Bevor wir alle notwendigen Maßnahmen ergreifen konnten hatte der Verwandelte einen schweren Verkehrsunfall und starb. Da er vor seiner Verwandlung Organspender war und seinen Ausweis noch dabeihatte, wurde das Herz entnommen und transplantiert. Und schlägt nun in deiner Brust.“

Alex sah an sich herunter und griff unwillkürlich an die Stelle, wo seine Transplantationsnarbe unter dem Hemd saß.

Beide schwiegen. Alex versuchte das Gehörte zu verdauen. Versuchte die Erklärung, die Märchen und Legende so wissenschaftlich und rational erklärte, auf ebenso logische und eindeutige Weise zu widerlegen. Es kam ihm wie der Beweis vor, ob Gott existierte oder eben nicht.

Der Ober kam und stellte das Essen vor den Beiden ab. Wolk wünschte einen guten Appetit und begann bereits ein Stück von seinem Fleisch abzuschneiden, während Alex immer noch nachdachte.

Er konnte diese Diskussion nicht wissenschaftlich angehen, solange er nicht davon ausgehen konnte, dass sein Diskutant die gleichen Argumente als wissenschaftlich fundiert betrachtete. In der Wissenschaft gab es niemals absolute Gewissheit. In religiösen Diskussionen dagegen, betrachteten die Gläubigen ihre heilige Schrift als absolut richtig. Deswegen gingen die Argumente häufig aneinander vorbei. Wer an etwas bedingungslos glaubte, hatte verlernt zu zweifeln und blendete mitunter Argumente auch vollständig aus, die seinen Standpunkt widerlegten. Umso eine Argumentation gewinnen zu können, musste man sich auf das Niveau des anderen begeben und ihn mit den eigenen Argumenten aushebeln.

Schließlich griff Alex zum Besteck, und begann schweigend zu essen. Er schmeckte das zarte Fleisch auf seiner Zunge zergehen, schluckte herunter und wartete. Er legte das Besteck auf den Teller, nachdem er sein Fleisch zu drei Vierteln aufgegessen hatte und sah Wolk zu, der genüsslich kaute.

„Ich muss zugeben“, setzte Alex an, als er wieder das Messer ergriff, „fast wäre ich darauf reingefallen. Die Geschichte mit dem Vampir schön und gut, aber es fehlen die Beweise.“

„Die Tatsache, dass du von den Toten auferstanden bist, reicht dir nicht?“

„Es gibt keinen Beweis, dass ich überhaupt tot war. Angenommen die Schüsse waren nicht tödlich. Vielleicht hat sich jemand einen Spaß erlaubt und mich zum Aufwachen in die Pathologie geschoben.“

„Und wer sollte sich so einen Spaß erlauben?“

„Das weiß ich noch nicht. Aber, du sagtest selbst, Vampire sind Bluttrinker. Vampire können angeblich nichts außer Blut zu sich nehmen, da sie sonst erbrechen. Aber wie du siehst,“ Alex steckte sich betont langsam ein großes Stück Entrecôte in den Mund, kaute und schlucke es genüsslich runter, bevor er fortfuhr, „es schmeckt hervorragend und ich muss mich nicht übergeben.“

Wolk spülte mit einem Glas Wasser nach, räusperte sich und erklärte dann: „Ich habe nie behauptet, dass sich Vampire ausschließlich von Blut ernähren. Diese Annahme beruht auf dem Fehlschluss, dass andere Lebewesen, wie Vampirfledermäuse und blutsaugende Insekten, nur Blut zum Überleben brauchen, und dies dann auch auf menschliche Vampire zutreffen müsste. Der Gedankengang ist aber falsch. Und in der Kultur hat dieser Fehlschluss Einzug gefunden, weil Dracula in allen neueren Verfilmungen des Satz sagt 'Ich trinke niemals … Wein.' Vampire müssen Blut zusätzlich zur normalen Nahrung zu sich nehmen, um bei Kräften zu bleiben. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung hat das Trinken von Blut keine primär mystische Komponente, sondern dient der Versorgung des Vampirs mit einem wichtigen Mineralstoff: Eisen. Ein Enzym im Magen des Vampirs zersetzt das Blut in seine Bestandteile. So kann er zum einen die im Blut gelösten Nährstoffe besonders einfach aufnehmen und wird außerdem mit dem für ihn essentiellen Eisen aus dem Hämoglobin versorgt. Der Organismus des Vampirs arbeitet in vielerlei Hinsicht anders als der eines normalen Menschen. Der extrem gesteigerte Eisenbedarf ist da noch einer der geringsten Unterschiede. Der Whiskey vorhin wird mit eisenhaltigem Quellwasser hergestellt, die Hausmarke eben ist ein mit Eisen angereicherter Fruchtsaft und rotes Fleisch ist ein guter Eisenlieferant. Außerdem kommt das Fleisch hier von einem ökologisch geführten Bauernhof“, beendete Wolk seinen Vortrag und schob sich wieder ein Stück in den Mund.

„Alles schön und gut“, gab Alex zurück, „ich habe bei dem Überfall viel Blut verloren und soll viel Eisen zu mir nehmen. Von mir aus. Trotzdem noch kein Beweis.“

„Was ist mit den Schusswunden?“

„Was soll damit sein?“

„Du hast keine.“

„Ist mir auch schon aufgefallen, aber noch kein Beweis. Angenommen, ich habe im künstlichen Koma gelegen, bis die Wunden verheilt sind und ich hatte Glück und es sind keine erkennbaren Narben zurückgeblieben“, mutmaßte Alex.

„In 3 Tagen?“, fragte Wolk nach.

„Was wieder meine Theorie von einem groß angelegten Scherz unterstützt. Vielleicht ist gar nicht der 23. Oktober, oder ich lag ein Jahr im Koma und es ist wieder der 23. Oktober.“

„Ist es nicht.“

„Trotzdem alles wahrscheinlicher als dieses Märchen von Vampiren. Gibt es für ein Phänomen mehrere Erklärungsmöglichkeiten, sollte man immer die wählen, die die geringste Menge an zusätzlichen Hypothesen verlangt. Und in allen Hypothesen die ich hier aufstellen muss, ist Vampirismus noch die exotischste. Von daher...“ Alex legte seine Serviette neben den Teller. „...danke für das Essen, aber ich hätte jetzt gern mein Handy und meine Brieftasche.“

Wolk griff in eine Tasche seines Sakkos und zog das geforderte heraus.

„Ockhams Rasiermesser. Nicht schlecht.“

„Als nächstes kommst du mir noch mit Werwölfen“, lachte Alex, als er Bens Nummer im Handy suchte.

„Würden Werwölfe dich überzeugen?“

„Ja, klar. Wenn du mir einen Werwolf zeigst, bin ich auch bereit die Existenz von Vampiren in Betracht zu ziehen“, antwortete Alex, das Handy bereits am Ohr.

Während es in der Leitung klingelte sah er, wie Wolk aufstand, sein Sakko über die Stuhllehne hängte und sich sein Hemd am Hals und den Manschetten aufknöpfte.

Tuuut. Hoffentlich will er sich jetzt nicht in einem öffentlichen Restaurant ausziehen, dachte Alex. Tuuut. Es dauerte einen Moment bis Alex die Veränderung in Wolks Augen erkannte. Die Iriden waren jetzt fast schwarz, seine Sklera wechselte von weiß auf gelb. Finger und Fingernägel wurden länger. Tuuut. In Wolks Kopf konnte er ein Knacken hören. Tuuut. Sein Gegenüber hatte sichtbare Schmerzen als sich sein Gesicht nach vorne verzog und Mund und Nase eine Schnauze formten. Tuuut. Die Haare an den Armen und um Gesicht wuchsen in einer Geschwindigkeit, die Alex nur aus Aufnahmen in Zeitraffer kannte. Tuuut. Wolks Rücken bog sich. Seine Ohren wurden länger und spitzer. Tuuut. Seine Haut nahm einen dunkleren Ton an.

„Hallo?“, meldete sich Ben am anderen Ende der Leitung.

Alex beendete die Verbindung ohne einen Ton zu sagen. Sein Mund stand vor Erstaunen offen. Vielleicht waren Vampire doch möglich. Immerhin starrte er gerade auf einen Mann, der sich vor seinen Augen in einen Werwolf verwandelt hatte.

Lazarus

Подняться наверх