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„Und wie soll es weitergehen?“, fragte Alex den wieder zurück transformierten Wolk, als dieser sich gerade wieder das Sakko überzog. Sein Handy hielt er immer noch in der Hand.

„Nun, zunächst mal, werden wir dich in dein altes Leben zurückbringen. Wir haben ein Zimmer im Krankenhaus vorbereitet. Da werden wir dich reinlegen und deine Verwandten können in den nächsten Wochen deine Genesung mit ansehen.“

„Wochen? Ich fühle mich topfit“, protestierte Alex.

„Genau das ist das Problem. Du hast deine Verletzungen in 3 Tagen ohne nachweisliche Narben oder sonstige Nachwirkungen auskuriert. Deine Verletzungen, wenn du sie den überlebt hättest, erfordern aber in der Regel einen wenigstens 2-wöchigen Krankenhausaufenthalt. Plus Re Ha-Maßnahmen, Nachuntersuchungen und so weiter dauert es bis zur vollständigen Genesung mindestens 3 Monate. Und dass wäre schon schnell. Daher werden wir das notwendige mit dem Nützlichen verbinden.“

„Inwiefern?“

„Ich sagte doch, dass normalerweise zur Erschaffung eines Vampires eine Bluttaufe notwendig ist. Und dass dein Fall anders gelagert ist. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ein Fall wie deiner ist in den gesamten Archiven nicht verzeichnet. Und unsere Archive reichen sehr weit zurück.“

„Das heißt...?“

„Ich würde gern, deine Erlaubnis vorausgesetzt, ein paar Tests mit dir machen. Um herauszufinden ob du ein Vampir im klassischen Sinne bist, eine Untergattung oder etwas völlig neues.“

„Du willst mich als Versuchskaninchen?“

„Wenn du es so nennen willst, ja, aber eigentlich eher ein Feldversuch. Jeder Vampirstamm hat ganz spezifische Fähigkeiten, sozusagen Familienähnlichkeiten. Zum einen möchte ich herausfinden, welchem Stamm du angehörst und ob die Fähigkeiten stark ausgeprägt sind und wenn ja, wie stark.“

„Was soll das bringen?“

„Ich will vor allem versuchen herauszufinden, durch wen der Vorbesitzer deines Herzens zum Vampir wurde. Eine nicht genehmigte Bluttaufe ist nämlich strafbar. Zum anderen will ich wissen, ob diese Art der Umwandlung Nebenwirkungen hat.“

„Was für Nebenwirkungen?“, fragte Alex, jetzt doch etwas nervös.

„Das weiß ich ja eben nicht. Aber es gibt zum Beispiel eine starke emotionale Bindung zwischen dem taufenden und dem getauften Vampir. Da du deinen Blutgeber aber nie getroffen hast und er verstorben ist, existiert diese Bindung nicht.“

Alex grübelte, so dass Wolk Zeit hatte den Ober für die Rechnung zu rufen.

Als hätte er Alex' Gedanken gelesen sagte Wolk, als der Ober schließlich gegangen war:

„Ich weiß, dass du jede Menge Fragen hast. Mir ging es genauso als ich erfahren habe, dass ich ein Werwolf und nicht der einzige meiner Art bin. Aber wir gaben reichlich Zeit alle ausführlich zu beantworten.“

Eine halbe Stunde später lag Alex in Krankenhauskleidung in einem Einzelzimmer. Wolk hatte sich wieder einen Kittel angezogen und schob einen Beistellwagen mit einigen kleinen Teilen auf einem Tablett neben das Bett. Während er die Klebepads für den Herzmonitor auf Alexanders Brust befestigte erklärte er ihm, dass sie die Tests nachts durchführen würden. Nachdem er auch eine Kanüle für eine Infusion gelegt hatte, griff er nach einem Teil auf dem Tablett, das aussah, wie eine Mischung aus Asthma-Inhalator und Tacker.

„Das hier ist ein Schlafmittel“, erklärte er. „Wenn du nicht schlafen kannst, nimm es ruhig. Du kannst es nicht zu hoch dosieren, und selbst wenn, wäre es bei dir egal. Du drückst es am besten an deine Halsschlagader. Einfach fest drücken, dann wird die Dosis ausgelöst und ein paar Sekunden später schläfst du ein. Das Gerät injiziert das Mittel über die Haut, so dass keine Einstichstellen zurückbleiben. Vergiss nicht, dass du schwer verwundet wurdest. Halt dich deswegen bei allem Kontakt mit Menschen ein wenig zurück. Dein Immunsuppressivum solltest du absetzen. Dein Immunsystem wird dein Herz nicht mehr abstoßen. Wenn dir etwas auffallen sollte, irgendwas, was dir ungewöhnlich vorkommt, ruf mich an. Hier meine Karte.“ Ungewöhnlich war ein sehr fließender Begriff, wenn man gerade erfahren hatte, dass es Vampire gibt und man selber einer davon war.

Wolk nahm das Handy vom Tisch und legte es neben Alex auf den Nachttisch, daneben eine Visitenkarte. Dann setzte er sich auf den Stuhl und sah Alex an.

„Ich komme morgen Abend wieder für die Tests. Hast du bis dahin noch irgendwelche Fragen.“

„So viele, dass ich nicht weiß welche ich zuerst stellen soll“, antwortete Alex und zog das Kissen etwas höher.

„Verständlich“, sagte Wolk, „Ich möchte dir danken. Dich einfach auf all dies einzulassen erfordert viel Vertrauen.“

„Das hat weniger mit Vertrauen zu tun, als mit der Tatsache, dass du mir Antworten auf Fragen geben kannst, die mir noch vor einer Woche nie in den Sinn gekommen wären“, gab Alex zurück.

„Dann hoffe ich darauf, dass diese Zusammenarbeit für uns beide Antworten liefert.“

Wolk erhob sich und machte sich daran, das Zimmer zu verlassen. „Noch eins: Erzähl niemandem von Vampiren und Werwölfen.“

„Wer würde mir glauben?“, fragte Alex und musste bei dem Gedanken, wie er damit versuchen würde an die Presse zu gehen, lachen. Man würde ihn höchstens bei solchen Zeitungen oder Sendern erst nehmen, die er selbst nicht ernst nahm.

„Mehr als du ahnst. Also bis morgen.“ Wolk verließ das Zimmer und löschte das Deckenlicht.

Alex saß im Schein einer Leselampe in seinem Bett und schloss die Augen. Seine Gedanken kreisten noch um das eben gehörte. Es gab Werwölfe und Vampire. Was würde es noch geben? Und wie war es möglich das es solche Wesen in Sagen, Legenden und Märchen schon ewig gab, aber noch nie jemand Beweise dafür gefunden hatte. Was würde das für seine Familie bedeuten und was für ihn?

Er löschte das Licht seiner Leselampe und starrte ins dunkle Zimmer. Doch es war gar nicht so dunkel. Er konnte die Heizung und die Lampen deutlich erkennen. Den Rest des Zimmers konnte er auch noch wahrnehmen. Die Vorhänge waren zugezogen, und draußen war es bewölkt. Woher kam das Licht? Das kommt auf die Liste der Fragen, die er Wolk morgen stellen wollte, doch für heute sollte es reichen. Obwohl er 3 Tage geschlafen hatte, war er jetzt sehr müde. Er wollte die möglicherweise letzte Nacht nutzen, in der er noch schlafen konnte, bevor er seine Lebensweise auf Nachtschicht umstellen müsste. Den Kopf immer noch mit tausend Fragen gefüllt, schlief er schließlich ein.

In seinem Traum ging er wieder mit Anna unter der Überführung durch. Vier apokalyptische Reiter versperrten ihm den Weg. Hinter ihm hatte sich eine Wand aufgebaut und verhinderte eine Flucht. Alex schlug auf den Boden. Wieder und wieder. Schließlich gab der Boden nach. Das Pflaster zerbrach und er fiel. Fiel tief. Im Fall pflückte ihn eine gigantische Werwolfsklaue aus der Luft. Sie setzte ihn wieder da ab, wo er zuvor gestanden hatte, neben Anna. Die Reiter waren weg, der Weg war frei. Merkwürdiger Traum.

Es war etwa 10 Uhr, als es zaghaft an der Tür klopfte.

„Herein!“, rief Alex und legte eine Zeitung zur Seite, die ihm eine Schwester mit dem Frühstück gebracht hatte.

Die Tür öffnete sich einen Spalt und Alex konnte in der Lücke das Gesicht einer zierlichen Frau Mitte fünfzig erkennen. Nicht das Alter, sondern andauernde Sorge um ihre Familie hatten sich darin abgezeichnet. Sie drohte den Kampf gegen die Tränen wegen ihrer deutlichen Übermüdung zu verlieren, trotzdem versuchte sie tapfer zu lächeln. Es schien Alex, es müsse eine Ewigkeit her sein, dass seine Mutter ausgeschlafen hatte.

„Komm ruhig rein, dir passiert hier nichts“, forderte er sie auf.

Maria trat ein, gefolgt von Ben.

„Oh, Gott sei Dank“, brach es aus ihr mit den ersten Tränen hervor, als sie auf ihn zu lief und ihre Arme um seinen Hals schlang.

„Ist ja gut, Mom.“ Er konnte sehen, wie die Anspannung von ihr abfiel. Die dunklen Augenringe kannte er noch aus der Zeit nach seiner Transplantation. Er wünschte er hätte ihr erzählen können, dass sie sich keine Sorgen um ihn machen brauchte. Aber er hatte es ihr schon so oft gesagt und offensichtlich half das nicht. Wenn er ihr etwas über seine neue Zugehörigkeit zu einer bisher unbekannten Spezies erzählen würde, würde das weniger ihre Bedenken zerstreuen, sondern eher dazu führen, dass sie ihn „zu seiner eigenen Sicherheit“ in eine psychiatrische Anstalt einweisen würde. Verständlich.

„Wie geht es Oma?“, fragte er um das Thema von sich abzulenken.

„Der geht es gut. Benjamin hat einen Pflegedienst organisiert, der sich um sie kümmert, solange ich hier bin.“

„Paps und ich haben dir angeboten, den Service auch sonst in Anspruch zu nehmen, damit du dich mal ein bisschen um dich kümmern kannst“, sagte Ben, der noch immer neben der Tür stand.

„Ich will niemandem zur Last fallen“, winkte Maria ab.

„Du fällst damit niemandem zur Last. Dafür ist der Service da. Es ist niemandem geholfen, wenn du dich selbst dabei aufreibst“, redete Ben auf sie ein.

Mit einer Handbewegung wischte sie sein Argument beiseite und wandte sich wieder ihrem Sohn zu. „Wichtig ist, dass du schnell wieder gesundwirst.“

„Ich bin hier in den besten Händen“, versuchte er sie zu beruhigen.

„Ich hoffe der Service ist vorzüglich“, warf Ben ein.

„Bisher kein Grund zu Beanstandungen, und du,“ wieder an seine Mutter gerichtet, „schläfst dich erst mal aus. Raus hier. Der Arzt hat mir Ruhe verordnet, und wenn du hier bist, kriege ich die nicht.“

„Aber willst du mir nicht wenigstens erzählen, was überhaupt passiert ist?“, protestierte sie.

„Das ist die gleiche Geschichte, die ich dir morgen erzählen kann. Wenn du jetzt so freundlich wärst zu gehen.“ Alex schob sie ein Stück Richtung Tür.

„Ich bin bei Onkel Klaus und Tante Emma. Wenn was ist, erreichst du mich da“, offensichtlich merkte sie selbst, wie müde sie war und dass keine weiteren Diskussionen mit ihm möglich waren.

„Geh schon mal zum Wagen. Ich komme gleich nach“, sagte Ben, während er Maria aus dem Zimmer hinausbegleitete.

Einen Augenblick später kam er mit einem breiten Grinsen wieder herein. „Da ist noch jemand, der dir gute Besserung wünschen will.“ Er deutete jemandem auf dem Flur herzukommen und trat dann bei Seite.

Als er sie das letzte Mal gesehen hatte gesehen hatte, hatte sie sich mit verheulten Augen und verschmiertem Make-Up über ihn gebeugt. So im Sonnenlicht, mit ihren zum Zopf geflochtenen Haaren und einem leichten Lächeln auf dem Gesicht, sah sie um einiges hübscher aus.

„Hey“, sagte sie schüchtern und mit einem kaum hörbaren Zittern in der Stimme.

„Hey“, antwortete Alex und rutschte in seinem Bett nach oben.

„Ich sehe, ihr könnt gut mit Worten umgehen“, warf Ben in die Pause ein.

Anna trat näher an das Bett und umarmte Alex, während sie hörbar ein Weinen unterdrückte.

„Es tut mir so leid“, flüsterte sie, löste ihre Umarmung und begann mit der Rechten über seine Schläfe zu streicheln.

„Muss es nicht, ich nehme nicht an, dass du den Abend so geplant hattest. Daher trifft dich keine Schuld“, versuchte er auf sie einzureden.

„Das natürlich nicht, aber wenn ich nicht mit dir in dieses Restaurant gegangen wäre, wäre das alles nicht passiert.“

„Und wenn ich dich nicht eingeladen hätte, wäre das auch nicht passiert.“ Er hielt es nicht für Klug die Umstände ihres Kennenlernens auch noch anzuführen. Es ging ihr sichtbar an die Nerven, und da war es nur gut, diese wohl schlimmste Woche ihres Lebens hinter sich zu lassen. So führte er fort, „Das kann man beliebig fortsetzen. Es ist passiert und wir haben es überstanden. Das zählt.“

„Zum Glück hast du an deine Uhr gedacht“, kam es von Ben, der einen Stuhl geholt hatte und ihn Anna anbot.

„Uhr?“, staunte Anna.

„Die Uhr ist ein Geschenk von Ben. Sie beinhaltet einen Sender. Wenn ich den Alarm auslöse oder meine Vitalzeichen unregelmäßig werden, bekommt eine private Sicherheitsfirma ein Signal und schickt sofort Hilfe. Als ich erkannt habe, dass es sich um einen Raub handelt habe ich den Alarm ausgelöst“, erläuterte Alex.

„Deswegen war der Sanitäter so schnell da“, folgerte Anna.

„Ja, zu jedem Team gehören ein Ersthelfer und zwei... nennen wir sie mal Männer fürs Grobe. Und wegen seiner Transplantation war es mir lieber, wenn er eine von denen trägt“, gab Ben zu.

„Transplantation?“, fragte Anna.

„Oh, ich sehe, ihr habt euch noch viel zu erzählen. Deswegen werde ich mich hier wieder verabschieden. Und wo wir gerade bei Geschenken sind, hier habe ich noch was.“ Ben hielt eine Sporttasche hoch, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte und klopfte auf ein Seitenfach. „Da ist ein Tablet drin, damit du hier nicht noch an Langeweile eingehst.“ Er stellte die Tasche neben einen Schrank. „Der Rest ist das übliche, Wechselkleidung, Zahnbürste et cetera. Ich muss jetzt noch ein paar Telefonate führen und irgendwie scheinen die Pfleger hier nicht begeistert, wenn ich mit meinem Handy hier herumrenne. Morgen komm ich wieder vorbei. Dir gute Besserung und dir einen schönen Tag noch.“

Anna blieb noch einige Stunden neben Alex' Bett sitzen. Dabei erzählte er ihr von seiner Transplantation, deren Grund und der Zeit danach. Er erzählte auch, dass er bei Ben wohnte und von diesem einige Selbstverteidigungstechniken gelernt hatte. Ebenjene Techniken, die Alex reflexartig bei dem Raubüberfall angewandt hatte.

Techniken, die verschiedene Kampfsportarten verband, darunter Krav Maga, Ninjutzu, Escrima und – wenn sich Alex richtig erinnerte – Teile aus dem Ausbildungsprogramm der Armee eines Ostblockstaats. Alles Sportarten, von denen Anna noch nie etwas gehört hatte. Alex war dagegen bis zu seiner Herzerkrankung in erster Linie aktiver Handballer und Parcourläufer, gab dies jedoch nach der Transplantation schweren Herzens auf. Das ihm sein kurzer Ausflug ins Hapkido in Verbindung mit den Lektionen von Ben in der Gefahrensituation so zu Gute kam, überraschte ihn am meisten.

Im Gegenzug erzählte Anna ihm von ihrer Zwillingsschwester Lena, die begeisterte Schwimmerin war und gerade für die Olympiateilnahme trainierte. Dass sie lieber über ihre Schwester als über sich sprach, sagte ihm mehr sie glaubte. Sie verabschiedete sich schließlich mit dem Versprechen am nächsten Tage wieder zu kommen, als ein Chef-Arzt für eine Nachmittagsvisite den Raum betrat.

Gegen Abend traf Wolk ein und holte ihn zu seinen ersten Tests ab, die aus einer Kernspintomografie, einer Blutabnahme und einer Spiroergometrie, also der Messung von Herz, Kreislauf, Atmung und Stoffwechsel bei körperlicher Belastung, wie in diesem Fall auf einem Laufband.

Ergebnisse wollte Wolk erst am Ende aller Tests mitteilen. Den Rest der Nacht nutzte er lieber, indem er Alex die Geschichte der Metamenschen, die sich selbst als Yonin bezeichneten, und der Zentrale näherbrachte. Auf seine Nachfrage erhielt Alex die Antwort, dass der Begriff „Yonin“ aus dem Japanischen komme und in etwa „andere Menschen“ bedeutet.

So ließen sich die Yonin grob in drei Arten unterteilten: Vampire, Werwölfe und paranormal Begabte. Die Gesamtheit aller Yonin wurde im offiziellen Bürokratenslang als metamenschliche Gesellschaft bezeichnet, eine Subgesellschaft unter der Oberfläche der normalen menschlichen Gesellschaft. Innerhalb dieser hatten sich große Gruppen zu Clans zusammengeschlossen. Außerdem erfuhr Alex, dass bei den fünf existierenden vampirischen Clans die Hierarchie durch die Form der Erschaffung vorgegeben war. Jeder Vampir war der Person unterstellt, die ihn geschaffen hatte. Aufsteigen konnte man nur durch den Tod eines höheren Vampirs oder wenn man sich durch besondere Verdienste für den Clan bei den ältesten Vampiren beliebt machte. Die Clans führten meist ihre Gründung auf eine bekannte Persönlichkeit zurück. Die ältesten bekannten Vampire waren etwa 1000 Jahre alt. In den Wirren der Geschichte waren alle Beweise, dass die Persönlichkeiten, auf die man sich berief, je existierten, geschweige denn etwas mit der Gründung des Clans zu tun hatten, verloren gegangen. Bei den Söhnen Kains, den Kindern von Tlazolteotl, der Lilith-Schwesternschaft und den Söhnen des Pollux war dies der Fall. Einzige Ausnahme bildete die Chlodomeraner, die sich auf den angeblich im Burgunderkrieg im Jahre 524 gefallenen Chlodomer, einen Sohn Chlodwigs I., selbst scheinbar Sohn eines heidnischen Gottes und aus dem Geschlecht der Merowinger, stützte. Chlodomer überlebte die Schlacht jedoch und gründete seinen eigenen Clan, dem er bis ins 12. Jahrhundert selbst vorsaß.

Am folgenden Morgen erhielt Alex wie angekündigt Besuch von seiner Mutter. Maria war wohl in erster Linie besorgt, dass ihr Junge nicht genug zu Essen und saubere Kleidung hatte. „Junge, du bist so blass“, hatte sie gesagt und am liebsten hätte er „Kunststück, ich habe 6 Liter Blut verloren.“ gesagt. Er beschränkte sich jedoch auf ein einfaches „Ja, möglich.“ und versuchte sie weiter zu beruhigen und davon zu überzeugen, dass es nicht notwendig war eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung einzurichten.

Gegen Mittag traf Ben ein und berichtete, dass er sich mit ein paar Leuten in Verbindung gesetzt habe. Der Tenor dieser Gespräche war, dass dieses Semester nachträglich als Urlaubssemester betrachtet werden würde (auch wenn es sein erstes war), auf diese Weise konnte er in Ruhe wieder fit werden und wenn möglich einige Vorlesungen besuchen um die Zeit im nächsten Semester wieder aufzuholen. Alex war ihm dankbar dafür, hatte er doch selbst nicht mehr daran gedacht, dass er sich für einen Kurs angemeldet hatte, zu dessen bestehen eine Prüfung notwendig war, die er schon rein zeitlich nicht mehr schaffen konnte, da er zu dem Zeitpunkt voraussichtlich noch im Krankenhaus liegen würde. Zum Glück vergaß Ben nie etwas.

Nachmittags tauchte Anna auf und bot, nachdem er von Bens Einsatz erzählt hatte, an, ihm beim Lernen für die Fächer zu helfen, die sie beide hatten. Obwohl er es zu verhindern versucht hatte, kam das Gespräch irgendwann wieder auf den Raubüberfall und Alex stellte erleichtert fest, dass in ihrer Erinnerung fast alles verblasst war. Nur der Augenblick, da er die Räuber angegriffen hatte und dass er in einem Krankenwagen abtransportiert wurde war geblieben. In ihrem Kopf hatten sich die Fakten zu einer neuen Story arrangiert. Für sie war er mit einem Messer verletzt worden, als er versuchte einen der Räuber zu entwaffnen. Er hielt es für besser, dies nicht zu korrigieren. Das Erlebnis, wie sie es wahrnahm, wahr auch so traumatisch genug, da musste er nicht unbedingt noch darauf bestehen, recht zu behalten.

Nachdem er einige Stunden geschlafen hatte, brachte Wolk ihn zum nächsten Test in einen weißen Raum, in dem eine Batterie von Scheinwerfern auf ihn gerichtet war. Wolk drehte bei jedem der zehn Durchläufe das Licht etwas heller um danach ein Bild von Alex' Haut unter dem Mikroskop zu machen. Als nächstes folgten ein Hör- und ein Sehtest. Bei letzterem musste er in einem immer dunkler werdenden Raum Zahlenreihen erkennen. Als der Raum für ihn zu dunkel war um die Zahlen zu lesen, sah er sich im Raum um und konnte Wolk in seinem Kittel erkennen. Er hatte schon eine Ahnung, was dies zu bedeuten hatte, wollte aber nichts sagen, bevor er sich sicher war. Statt weiterer Tests folgte in dieser Nacht eine weitere Lektion zur Geschichte der Yonin.

Neben den Vampirclans gab es noch fünf lykantrophe, also Werwolf-Clans, benannt nach Romulus, Fenrir, Skalli, Hati und Managarm. Bis auf den ersten allesamt Wölfe der nordischen Mythologie. Da Lykantrophen meist in kleinen Rudeln unterwegs waren, hatten sich diese erst zur Zeit des dreißigjährigen Krieges zu großen Clans zusammengefunden und daher keine so lange Geschichte wie die Vampirclans. Der Name Lykantoph leitet sich von der Geschichte des Königs Lykaon ab, der zur Strafe, dass er den Göttern Menschenfleisch zum Essen angeboten hatte, in einen Wolf verwandelt wurde. Soweit zumindest die Geschichten. Ob die Werwölfe wirklich mit diesem König in Verbindung standen, konnte bisher jedoch nicht belegt werden. Und die Lykantrophen legten auch keinen gesteigerten Wert darauf, diese nachzuweisen.

Da sie, im Gegensatz zu den Vampiren, einem – wenn auch verlangsamten – Alterungsprozess unterlagen, war ihre Struktur anders aufgebaut. Werwölfe sind ein sehr aggressives Volk und so verwundert es nicht, dass jeder Werwolf das Recht hat, einen anderen innerhalb des Clans herauszufordern um dessen Position einzunehmen. Glücklicherweise waren sie aber dennoch mittlerweile zivilisiert genug um sich bei diesen Kämpfen nicht mehr gegenseitig zu töten. Die Tatsache, dass es weltweit nicht einmal mehr eintausend gibt, könnte zu diesem Sinneswandel erheblich beigetragen haben. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung geben Werwölfe ihre Gabe – so Wolks Worte – nicht durch einen Biss weiter. Berichte über Gebissene, die danach für Werwölfe gehalten wurden, ließen sich durch Tollwut oder die sogenannte klinische Lykantropie erklären. Bei letzterer hält sich der betroffene aufgrund von Drogen oder einer Psychose für einen Werwolf. Echte Lykanthropie ist nur vererbbar. Neben den Clans gab es noch gut ein Dutzend kleinerer freier Rudel, die sich nicht den Clans anschließen wollten. Das war aber auch kein Problem, solange sie sich friedlich verhielten und die von den Clans festgelegten Regeln einhielten.

Die folgenden Tage liefen nach demselben Schema ab: morgens bekam er Besuch von seiner Mutter, nachmittags von Anna. Nachts führte Wolk verschiedene Test mit ihm durch, darunter Fitnesstests, Reaktionstest, mehrere Blutabnahmen und verschiedene bildgebende Verfahren. Er konnte nur erahnen, was diese Tests ergeben sollten, ließ sich aber gern auf eine spätere Analyse vertrösten, da ihn die metamenschliche Gesellschaft zu interessieren begann. Antworten, gegen Antworten. Ein guter Deal.

So erzählte ihm Wolk von den drei Gruppierungen, deren Mitglieder weder Vampire noch Werwölfe waren: Dem Heron-Orden, den Theurgen und den acht Unsterblichen. Letztere waren weder acht, noch gänzlich unsterblich. Der Name ließ sich auf die Acht Unsterblichen der Chinesischen Mythologie zurückführen, allesamt mächtige Zauberer, die – den Geschichten zur Folge – im ersten Jahrtausend lebten. Ebenso wie die Theurgen, deren Name Gotteswirker bedeutet, zeichnet sich diese Gruppe durch Fähigkeit aus, die weit über das menschliche Verständnis hinausreichten. Von mächtigen Heilern über Gestaltwandler bis hin zu vermeintlichen Halbgöttern war alles vertreten.

„Willst du mir erzählen, Zauberer und Hexen gibt es auch?“, fragte Alex, wieder einmal erstaunt über die neuen Grenzen seines Realitätsbegriffs.

„Magie ist nur Technik, die man noch nicht kennt. Vor fünfhundert Jahren wärst du als Hexer verfolgt worden, weil deine Kutsche ohne Pferde fährt. Vor hundert Jahren wärst du für verrückt erklärt worden, wenn du überall in eine kleine Kiste in deiner Hand sprichst. Vor fünfundzwanzig Jahren hätte kaum niemand erwartet, dass man heute mit einer Fingerbewegung alles über jeden Menschen herausfinden kann. Magie ist nur ein Wort, für etwas, dass die Menschen noch nicht begreifen können“, erklärte Wolk.

In der Nacht darauf kam Wolk auf die Zentrale zu sprechen. Diese hatte sich erst seit Beginn des 17. Jahrhunderts entwickelt. Vorher gab es zwar immer wieder Versuche sich zusammenzutun, doch erst die einsetzende Aufklärung machte die Bedrohung für die Yonin durch die Menschen, zwischen denen sie sich bis dahin unbehelligt bewegen konnten, deutlich. Es war der Heron-Orden, ein rein menschlicher Orden von genialen Erfindern, Wissenschaftlern, Philosophen und Vordenkern, dem es gelang, die unterschiedlichen Interessengruppen zu vereinen. Der Großmeister des Ordens schlug ein Bündnis aller Yonin vor, dass er „Die Bruderschaft der Nacht“ nannte. Alle Clans dieses Bündnisses sollten von einer zentralen Anlaufstelle überwacht werden und diese im Gegenzug durch ihre entsandten Abgeordneten überwachen. Auf diese Weise sollten Unstimmigkeiten zwischen rivalisierenden Clans durch alle Clans gemeinsam beseitigt werden. Außerdem konnte man Probleme durch die Zusammenlegung aller Ressourcen besser lösen. Das Vorhaben scheiterte zwar nicht, doch statt alle Yonin unter einem gemeinsamen Ziel zu vereinen, erklärten einige kleinere Familie, Rudel, lose zusammengewürfelte Gruppierungen und Einzelpersonen sich von den Clans als unabhängig. Dem Frieden zuliebe erkannten sie jedoch die Bruderschaft als Instanz an und unterwarfen sich den Gesetzen, die jene für alle Yonin verbindlich aufstellte. Nun ging es daran ein zentrales Organ zu schaffen. So wurde zunächst beschlossen einen Rat aus 13 Teilnehmern – je einer aus jedem Clan – zu bilden. Man wählte je einen Teilnehmer im Rang eines Meisters, was nach den Großmeistern, Patriarchen oder Matriarchinnen der zweiten Hierarchiestufe entsprach. Da es bei solch großen Vereinigungen immer wieder Gründe gab den Rat der 13 Meister einzuholen, wurden den Meistern im Laufe der Zeit mehr und mehr Mitarbeiter zur Unterstützung zugeteilt. Jeder Meister bekam Helfer aus Clans, die nicht sein eigener waren. So waren die Mitarbeiter des Rates die Augen und Ohren der Clans und ermöglichten so eine gegenseitige Kontrolle. Bei Unstimmigkeiten im Clan konnte der Helfer diese an seinen Meister im Rat berichten, bei Problemen im Rat berichtete er an seinen Meister im Clan. Dieses System aus Transparenz und gegenseitiger Kontrolle führte zu einem stabilen Machtverhältnis zwischen den Clans und ermöglichte so eine Ära der friedlichen Koexistenz. Auch mit den Menschen, die nichts von diesem Treiben mitbekamen.

Im Laufe der Zeit entwickelte sich der Rat zu einer Art Behörde und übernahm damit immer weitreichende Aufgaben. Eine dieser Aufgaben war die Aufklärung von Straftaten einzelner Yonin. Da in solchen Fällen die Spuren für menschliche Strafverfolgungsbehörden häufig nicht zu verwerten waren, oder im schlimmsten Fall Menschen von der Existenz der Yonin erfuhren, hatte sich diese Aufgabe zwangsweise ausgebildet. Dieser Abteilung gehörte Wolk an.

Dass er die Ausnahme in der Struktur der Ratsbehörde, die sich 1888 den etwas sperrigen Namen „Zentrale Anlauf- und Koordinierungsstelle für trans- und metamenschliche Aktivitäten“ gegeben hatte, war, behielt Wolk für sich. Da er ohne Rudel aufgewachsen war, war er der einzige in der Bruderschaft, dessen beide Meister im Rat saßen. Meister Aeolus gehörte zur Spitze der Strafverfolgungsabteilung. Wolks Vorgesetzter Schulz war Meister Aeolus unterstellt und Wolk seinerseits Schulz. Meister Claudius hatte ihn damals aufgefunden und sich seiner angenommen. Claudius gehörte den acht Unsterblichen an, und verdiente den Namen, im Gegensatz zu vielen aus dem Clan, auch zu recht. Trotz des Widerstandes, der ihm von allen Seiten entgegenwirkte, hatte er Wolk großgezogen und schließlich als Mitarbeiter in die Zentrale bringen dürfen.

In den folgenden Nächten hatte Wolk keine Tests mehr vorgesehen und kam auch nicht mehr selber vorbei. Da er nun, abgesehen von seiner kleinen Vorstellung für seine Besucher, nichts mehr zu tun hatte, durchforstete er mit seinem neuen Wissen bis spät in die Nacht das Internet nach Berichten über Vampire, Werwölfe und alles Paranormale. Hauptsächlich fand er Sagen und Märchen. Aber was, wenn die alle einem wahren Kern entsprangen? Berichte über Vampire im weitesten Sinne gab es aus fast allen Kulturen. Auch ohne Teil einer Geschichte zu sein. Was, wenn die Geschichten nur Testläufe waren, um zu schauen ob die Menschheit reif genug für die Wahrheit war. Wollten die Yonin sich überhaupt den übrigen Menschen zu erkennen geben? Wenn sie schon so lange im Verborgenen lebten, nahmen sie von dort Einfluss auf die Geschicke der übrigen Menschheit, und wenn ja welcher Art? So musste sich Herkules im Kampf mit der Hydra gefühlt haben: Für jeden Kopf den er der Bestie abschlug, wuchsen zwei neue nach. Für jede Antwort die Alex fand, tauchten zwei neue Fragen auf. Wolk hatte ihm einen Schnellkurs zum Thema metamenschliche Gesellschaft gegeben. Viel Information in kurzer Zeit. Aber es steckte noch so viel mehr dahinter. Das wusste Alex. Um die Details zu verstehen, musste er das Gesamtbild betrachten.

In der Nacht auf Dienstag der folgenden Woche, führte Wolk ihn aus dem Krankenhaus heraus, wieder zu den Backsteingebäuden. „Wo gehen wir hin?“, fragte Alex.

„Jetzt“, antwortete Wolk emotionslos, „kommen die richtigen Tests.“

Lazarus

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