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Der Wagon war dicht gefüllt. Etwas anderes hatte Anna auch nicht erwartet. Nicht um diese Zeit und nicht an dieser Station. Wenn andere Leute auf der Arbeit schon ihre erste Frühstückspause hatten, fuhren Studenten wie sie zur Uni. Klar gab es auch die eifrigen Studenten, die früh morgens um 8 Uhr zur ersten Veranstaltung gingen, weil diese leerer waren und man besser mit dem Dozenten in den Dialog treten konnte. Aber die meisten Vorlesungen begannen erst um 10 Uhr. Dementsprechend verstopften die meisten Studenten Wege, Straßen und U-Bahnen erst zu dieser Zeit.

Um sich herum hatte sie nur Schultern und Rücken auf Augenhöhe. Ihr Pferdeschwanz klemmte zwischen ihrem Rucksack und dem Mann hinter ihr. Sie hatte eigentlich kein Problem mit der Enge in Berliner U-Bahnen zur Hauptverkehrszeit, aber trotzdem empfand sie es heute extrem unangenehm. Vielleicht sollte sie auch früher zur Uni fahren. Der Gedanke kam ihr bekannt vor. Hatte sie sich das gleiche nicht auch am Anfang des letzten Semesters vorgenommen? Jetzt wo sie so darüber nachdachte, ja das klang plausibel. Offensichtlich hatte das Konzept die vorlesungsfreie Zeit nicht überlebt.

Die Türen öffneten sich und die Welle aus Studenten ergoss sich über den Bahnsteig und trug Anna Richtung Ausgang.

Sie versuchte sich möglichst nah an der Wand zu halten um nicht wie ein Ball hin und her geschmissen zu werden. Zum Glück für sie dauerte es nur einige Sekunden, bis sie wieder den Himmel über sich sah. Sie trat einen Schritt zur Seite, kaum dass sie die Treppe verlassen hatte. Sie versuchte ihre Jacke, das Tuch, das sie sich um den Hals gewickelt hatte, ihren Rucksack und Ihre Handtasche zu ordnen. Sie musste sich endlich angewöhnen, die wichtigsten Sachen aus ihrer Handtasche in den Rucksack zu packen um nur noch mit einer Tasche zur Uni zu gehen. Auch dieser Gedanke kam ihr vertraut vor.

Irgendwie hatte sich in dem Gedränge der Bahn ihr Tuch in einem der Reißverschlüsse verhakt und mit ihren langen braunen Haaren verknotet, während ihre Handtasche zwischen Ihren Rücken und den Rucksack gewandert ist. Sie wollte ihre Haare durch reines Ziehen befreien, aber der Schmerz verriet ihr, dass das keine gute Idee war.

Vorsichtig legte sie ihre Tasche ab und auf den Boden. Dann wickelte sie ihr Tuch langsam ab.

„Autsch“, das Tuch hatte sich doch schwerer mit Haaren und dem Reißverschluss verkettet, als sie es angenommen hatte.

Sie tastete an Ihren Haaren entlang, bis sie an die Stelle kam, an der ihr Tuch in den Reißverschluss überging.

„So ein Mist. Verdammte … Arg.“ Sie fluchte vor sich hin, wobei jeder neue Fluch lauter wurde, als der vorherige.

„Kann ich helfen?“

Sie drehte den Kopf um zu sehen, wer da fragte, und hätte sich bei dem Ruck fast die eingeklemmten Haare rausgerissen.

Ein junger Mann, sie schätzte ihn auf ebenso alt wie sich, also etwa 21, stand knapp einen Meter vor ihr.

„Oh ja danke.“ Sie nahm ungern Hilfe an, aber ohne könnte sie noch minutenlang mit ihrem Befreiungsversuch beschäftigt sein.

Er trat hinter sie, und befreite mit einem geschickten Griff ihre Haare und das Tuch aus dem Verschluss.

„Endlich, danke.“ seufzte sie und wickelte ihr Tuch wieder um, wobei sie darauf achtete, die Haare nicht mit einzuwickeln.

„Nichts zu danken“, sagte der Helfer und reichte ihr ihre Handtasche, die er aufgehoben hatte.

Noch ehe sie etwas Weiteres sagen konnte, hatte er sich schon wieder auf den Weg gemacht. Sie sah ihm noch einige Sekunden hinterher, bevor er in der Studentenwelle unterging, die sich auf das Hauptgebäude zubewegte.

Es dauerte 3 weitere Sekunden, bis ihr auffiel das ihre Handtasche offen war. Nach weiteren 2 hatte sie erkannt, dass ihr Handy und ihre Geldbörse fehlten.

Aus einem Instinkt heraus rief sie: „Stopp stehenbleiben!“

Hatte das eigentlich schon jemals funktioniert? Erst recht in einer Großstadt.

„Der Kerl hat mich beklaut.“

Was dachte sie sich dabei? Hatte das außer in den schlechten Krimiserien, die ihre Oma so gerne sah schon jemals zum Erfolg geführt.

„Verfickte Scheiße“, wollte sie leise sagen, doch ihre Stimme war noch laut.

Jetzt blieben wirklich einige Menschen stehen und drehten sich nach ihr um.

Na toll, dachte sie, keiner hilft, aber wenn man unhöflich wird glotzen alle. In ihrem Gedanken überhörte sie das Geräusch einige Meter weiter. Erst ein Klatschen, dann das Scheppern von Metall.

Sie versuchte erfolglos eine Träne zu unterdrücken. Nicht weil sie traurig über die verlorenen Dinge war, sondern wütend, dass ihr so etwas am ersten Tag des neuen Semesters passieren musste. An jedem anderen Tag wäre es genauso schlimm gewesen, aber trotzdem war heute blöd. Sie hockte sich hin und wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

„Sind das deine?“

Sie blinzelte die Tränen fort und sah nach oben. Jemand hielt ihr ihr Handy und Portemonnaie hin.

„J..Ja..Ja“, brachte sie stotternd hervor. Eine Hand wurde ihr gereicht um ihr aufzuhelfen.

„Aber wie …?“ Sie wusste nicht, was sie fragen wollte, geschweige denn, wie sie es fragen wollte.

„Ich glaube, sie braucht erst mal einen Tee“, hörte sie von der Seite eine zweite Stimme.

Anna war so perplex von dem was vorgefallen war, dass ihr erst wieder einfiel warum sie hier war – nämlich wegen der Vorlesung um 10 Uhr – als sie einige Minuten später mit einem Becher Tee an einem der Tische im Bistro der Uni saß. Die beiden Männer hatten sich mit Ihr an den Tisch gesetzt, der jüngere ihr gegenüber, der ältere an das Kopfende am Gang. Die beiden hatten sich als Alex und Ben vorgestellt. Alex, eigentlich Alexander Doyle, der wesentlich jünger aussah, als Anna es von einem 23-Jährigen erwartet hatte, war ein sportlicher Typ, sowohl vom Körperbau, als auch von seinem Kleidungsstil her. Seine verwuschelten, braunen Haare, seine schlanke Statur und sein Kapuzenpullover ließen sie unweigerlich an einen Surfer oder Snowboarder denken, auch wenn seine Haut zu blass war, um in letzter Zeit viel Sonne abbekommen zu haben. Ben, mit vollem Namen Benjamin Rupp, der etwa ein Jahrzehnt älter war, trug einen dunklen Anzug mit blauem Hemd. Seine Haare hatte er ebenso wie seinen Bart auf Millimeterlänge gestutzt. Im Gegensatz zu seinem Cousin Alex, sprach sein Aussehen eher von Bürojob, wenn auch sehr erfolgreich. Alex war es, der ihr die geklauten Sachen wiedergegeben hatte.

„Erklär' es mir nochmal. Wie kamst du darauf, dass ich gerade den Typen meinte?“, fragte sie. Sie musste es einfach noch ein weiteres Mal hören.

„Als du geflucht hast, haben alle in Hörweite den Kopf in deine Richtung gewandt!“, wiederholte Alex in einer Tonlage, die auf sie ungewöhnlich beruhigend wirkte. Vielleicht lag es am Tee, aber je mehr Alex sprach, desto entspannter fühlte sie sich.

„Bist du sicher, dass du keinen Schock hast? Oder Anzeige erstatten willst?“, fragte Ben, ebenfalls zum dritten Mal, während er einen Blick auf sein Handy warf.

„Ja, ähm, nein.“

„Verwirrung kann ein Anzeichen für einen Schock sein.“

„Verwirrung kann auch ein Anzeichen von verwirrenden Fragen sein.“

„Wolltest du nicht eine Geschichte erzählen.“

„Wenn du aufhörst verwirrende Zwischenfragen zu stellen.“

„Ich wollte ja nur helfen.“ Ben lehnte sich zurück und hob verteidigend die Hände.

„Also?“, fragte Anna, die nun endlich begreifen wollte was vorgefallen war.

Alex warf Ben einen Blick zu, der ihm sagen sollte, dass er sich aus der Erzählung raushalten solle und Ben antwortete mit seinem Schon-gut-mach-nur-Blick.

„Wie gesagt, alle haben sich umgedreht oder wenigstens geschaut, außer einem Mann.“

„Ich fand die pinkfarbene Handyhülle bei einem Kerl verdächtiger, aber ...ist ja nicht meine Geschichte.“

„Genau, auf jeden Fall ist der eine, der sich eben nicht umgedreht hat auffällig schnell weitergegangen. Schneller als der übliche Stadtgang.“

„Stadtgang?“

„Ja, wenn du mal Leute beobachtest haben die meisten 3 Gangarten: 'Schlendern', 'Gehen' und 'Stadtgang'. Stadtgang ist im Prinzip Gehen mit größerem Schritt, etwas gehetzter.“

„Interessante Theorie.“

„Wer unterbricht denn jetzt ständig die Geschichte?“

„Im Moment wieder du.“

Ben nippte an seinem Becher, damit Alex weitererzählen konnte.

„Als ich erkannt habe, dass er dir etwas geklaut haben musste und grade dabei war zu flüchten, habe ich ihn aufgehalten.“

„Mit einer geworfenen Flasche?“

„Genau.“

„Guter Wurf.“

„Danke.“ Anna hatte nicht gesehen, dass er den Dieb mit der Plastikflasche am Kopf getroffen hatte, wodurch dieser fiel und mit dem Kopf gegen einen Mülleimer prallte. Und solange sie nicht explizit danach fragte, würde er es ihr auch nicht erzählen. Sie nahm wohl an, der Dieb hätte – durch den Schreck getroffen worden zu sein – die Sachen einfach fallen lassen und sei auf und davon. Hoffentlich hat der Dieb aus den Schmerzen seine Lehren gezogen.

Ben ergriff das Wort, bevor die eingetretene Gesprächspause zu einem peinlichen Schweigen werden konnte.

„Ich verabschiede mich, ich habe nämlich noch Termine. Anna, war mir eine Freude dich kennen zu lernen.“

„Danke, ebenso“, verabschiedete sich Anna von ihm.

Mittlerweile hatte sich das Bistro gefüllt mit Studenten, die zwischen dem ersten und zweiten Block eine Kleinigkeit essen oder sich zum wach bleiben einen Kaffee holen wollten. Die Schlange an der Selbstbedienungstheke hatte eine beträchtliche Länge erreicht und endete im Foyer. Die beiden blieben noch einige Minuten sitzen und unterhielten sich. Schließlich verabschiedete sie sich zu ihrer ersten Vorlesung. Er begleitete sie noch bis zum Eingang, wo er in die entgegengesetzte Richtung gehen musste.

Der große Mann im schwarzen Anzug, der sie seit einer ganzen Weile im Blick hatte, war ihnen zwischen den Studenten nicht aufgefallen.

Lazarus

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