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Sie gingen in Richtung des Restaurants, also südlich. Dann bogen sie in einen Hinterhof ab, der offensichtlich als Lieferzone diente.

Wolk zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloss damit eine Tür auf. Sie gingen einige Schritte hinein und blieben vor einem Fahrstuhl stehen.

„Zugänge wie diesen gibt es über die ganze Stadt verteilt“, erklärte Wolk als er den Aufzug rief.

„Fahrstühle kenne ich, bereits. Das ist keine Neuigkeit für mich“, gab Alex zurück.

„Wenn du das sagst.“

Die Fahrstuhltüren glitten auf und die beiden stiegen ein. Wolk steckte einen Schlüssel in das Schloss am Tastenfeld, drehte um und drückte mit dem Daumen auf den Knopf für das Erdgeschoss.

Die Türen schlossen sich und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Offensichtlich nach unten. Die Fahrt dauerte erheblich länger, als Alex es für eine Etage erwartet hatte. Eigentlich hatte er gar keine Fahrt erwartet, da sie im Erdgeschoss starteten und Wolk nur auf die Taste für dasselbe gedrückt hatte. Aber durch den Schlüssel hätte eine Prioritätsfahrt ausgelöst werden können, wie er sie aus Krankenhäusern kannte. Das erklärte aber nicht, dass die Fahrt immer noch andauerte. Wenn er es korrekt abschätzte, waren sie bereits 5 bis 6 Etagen nach unten gefahren, bevor die Tür sich wieder öffnete und den Blick auf einen kurzen, hell erleuchteten Tunnel freigab, der vom Fahrstuhl zu einer Doppeltür führte. Wolk trat aus dem Aufzug und Alex folgte ihm im kurzen Abstand. Die Tür schwang auf. „Willkommen im ersten Kreis der Hölle“, verkündete Wolk.

„Ich hoffe du meinst das metaphorisch“, konnte Alex noch sagen, bevor es ihm die Sprache wieder verschlug. Sie standen am Rand eines gewaltigen Lichthofs. In der gewölbten Kuppel konnte Alex den Himmel sehen. Durch die verglaste Wand vor ihm konnte er einen Blick in die Tiefe werfen. Die Wände aus Glas und Metall waren schräg, und bildeten miteinander eine glatte Oberfläche. Jede Etage hatte einen kleineren Durchmesser, so dass ein riesiger Glastrichter entstand, der unten in einem kleinen Hof mit etwa 10 Meter Durchmesser endete. Entlang des Randes führten Flure im Kreis um den gesamten Trichter herum. Rechts und links von der Tür, durch die sie gerade gekommen waren, befanden sich weitere ähnliche Doppeltüren. Die Türen der anderen Ebenen waren anders. Sie verschwanden seitwärts in den Wänden. Das konnte man sehen, wenn jemand aus einer Tür heraustrat oder den Raum dahinter betrat. Auf allen Ebenen konnte er in jeder Himmelsrichtung eine Sofa-Garnitur erkennen. Offenbar Wartebereiche oder Zonen für Besprechungen. Auf jeder Ebene waren vereinzelt Menschen. Teilweise liefen sie schnell über die Flure, teilweise schlenderten sie, drei von ihnen hatten sich auf eine der Garnituren gesetzt. Hätte er nicht gewusst, dass er sich gerade tief unter der Erde befand, hätte es ich auch für einen architektonisch ansprechenden Firmensitz eines Weltkonzerns in futuristischem Design handeln können.

„Komm“, sagte Wolk, „gehen wir in mein Büro.“

Wolks Büro lag auf der fünften Ebene von oben gesehen. Sie nahmen diesmal keinen Aufzug, sondern eine von drei Treppen, die, gleichmäßig auf den Ringen verteilt, alle Etagen miteinander verbanden. Man hätte so, auf einer Treppe bleibend, den Trichter beim herabsteigen aller 10 Etagen einmal komplett umrundet. Auf dem Weg dorthin erklärte Wolk noch ein wenig die Abteilungen an denen sie vorbeikamen und die darunterliegenden. Auf der obersten Ebene mit der Bezeichnung 0 befanden sich ausschließlich Zugänge zum Spinnennetz. Das Spinnennetz war ein unterirdisches Tunnelsystem das die gesamte Stadt verband. In der Vergangenheit dienten die über die Stadt verteilten Eingänge registrierten Yonin als Zuflucht, sollten sie in eine brenzlige Situation geraten. Flucht oder Kampf, die grundlegenden Instinkte in Gefahrensituationen, waren auch Yonin nicht fremd, aber zum Wohle der Geheimhaltung war Flucht vorzuziehen. Mittlerweile hatten sich die Yonin aber so gut in die Gesellschaft integriert, oder die Gesellschaft kümmerte sich einen Dreck darum, ob sich unter ihnen Yonin befanden, dass das Spinnennetz nur noch von Mitarbeitern der Zentrale genutzt wurde um sich schnell und ohne auf den Verkehr Rücksicht nehmen zu müssen, durch die Stadt bewegen zu können.

Die Ebenen 1 und 2 gehörte den Putzkolonnen. Diese Teams waren darauf spezialisiert, Spuren zu beseitigen, die Yonin hinterließen. Nichts sollte übrigbleiben, das auf deren Existenz hinwies. Yonin hatten im Laufe der Geschichte verschiedene Methoden dafür entwickelt. Welche dies waren erklärte Wolk jedoch nicht.

Auf Ebene 3 befand sich die Schlichtungsstelle. Probleme der Clans untereinander oder einzelner Personen miteinander konnten so unbürokratisch und, in Anbetracht der Geschichte dieser Gemeinschaft besonders wichtig, meist unblutig geregelt werden. Dafür standen den Streitern Mentoren und Schlichter zur Verfügung. Sollte, besonders bei Streitigkeiten in die ein Werwolf involviert war, eine friedliche Lösung nicht in Sicht sein, gab es dort auch Zugang zu Räumen, in dem Rivalitäten auf ursprünglichere Weise geregelt wurden. Alex hielt dies für einen Scherz, aber nichts an Wolk wies darauf hin, dass er scherzte.

Auf den Ebenen 4 bis 6 befanden sich die Büros der Mitarbeiter, die sich um die Ermittlung kümmern, sollte ein Yonin in eine Straftat verwickelt sein. Bei einer so gewaltigen Gruppe von unterschiedlichen Individuen war es leider normal, dass sich einige schwarze Schafe daruntermischten. Hauptsächlich handelte es sich bei den Straffälligen aber um Yonin, die keinem Clan angehörten. Sei es, weil sich ein Vampir nicht der Hierarchie eines Clans unterwerfen wollte, ein Werwolf aus seinem Rudel verbannt wurde oder ein bisher unentdeckter Magier plötzlich seine Fähigkeiten entdeckt und missbraucht.

Auf den Ebenen 7 und 8 waren Labore eingerichtet worden, hauptsächlich für forensische Untersuchungen. Gelegentlich wurde dort aber auch geforscht.

In der Ebene mit der Nummer 9 waren Räume für die Energieversorgung und Computerräume eingerichtet worden.

Das Allerheiligste, die elfte Ebene, lag unterhalb des Hofs am Grund des Trichters.

Alex merkte, dass Wolk sich mit Informationen über die einzelnen Bereiche zurückhielt, trotzdem fühlte sich Alex von der Menge an Informationen, die er in letzter Zeit erhielt erschlagen. Gab es kein Buch, in dem er all diese Informationen nachlesen konnte? Da könnte er selber das Tempo bestimmen und notfalls zurückblättern. Bücher waren gut, sie erwarteten kein besonderes verhalten, sie urteilten nicht, sie boten einfach Informationen. Das was er brauchte. Mit Büchern kam er besser klar als mit Menschen. Er war froh, als sie endlich Wolks Büro betraten und dieser seinen Redefluss stoppte. Das Büro sah wie ein das Arbeitszimmer eines viktorianischen Herrenhauses aus. Dunkles Holz vom Boden bis zur Decke, ein schwerer Eichenholz Schreibtisch an einem Ende des Raums, Bücherregale an den Längsseiten und eine Sitzecke mit Kamin am anderen Ende. Fenster gab es keine.

„Geschmackvoll“, entfuhr es Alex.

„Danke. Milena findet es altmodisch und kitschig.“

„Milena?“

„Meine Partnerin. In jeder Hinsicht. Du lernst sie später noch kennen.“ Wolk ging zum Schreibtisch und legte ein dünnes Buch auf eine darin eingelassene Glasplatte. Alex erkannte darin das Buch, in dem sich Wolk während der Testreihen häufiger Notizen gemacht hatte.

„Daisy?“, fragte Wolk in den Raum und der Raum antwortete.

„Guten Abend Exquisitor Wolk.“ Die sanfte Frauenstimme schien direkt aus den Wänden zu kommen. Alex sah sich um, konnte aber nirgendwo Lautsprecher erkennen.

„Die Notizen bitte auslesen, in Druck umwandeln, mit den bisherigen Ergebnissen verknüpfen und mit dem Archiv vergleichen. Sag Bescheid, wenn du fertig bist.“ Wolks Stimme war höflich, aber bestimmt, so als würde er mit einer Sekretärin im Raum sprechen, nur dass keine Sekretärin anwesend war.

„Gern Exquisitor Wolk“, antwortete die Stimme.

„Wer war das?“, fragte Alex, ohne den Blick von dem Buch auf der Glasplatte zu lassen. Entweder hatte er langsam ernsthafte psychische Probleme, die sich in optischen Halluzinationen manifestierten, oder aus dem Buch sprudelten Zahlen und Buchstaben, flossen über den Buchdeckel und tropften in die Glasplatte.

„Nettes Gimmick. Oder? Meine Notizen werden gerade aus dem Buch ausgelesen. Die holografische Darstellung in Form eines Zimmerspringbrunnens ist zwar reine Spielerei, aber immer wieder nett anzusehen. Außerdem erkenne ich so, wann das Auslesen fertig ist“, erklärte Wolk, dem Alex' faszinierter Gesichtsausdruck aufgefallen war.

„Und die Bezeichnung „Exquisitor“? Ist die Ähnlichkeit mit dem Wort „Inquisitor“ zufällig oder bewusst gewählt?“ Alex blickte immer noch gespannt auf die sprudelnden Daten.

„Die Ähnlichkeit ergibt sich leider aus der Bedeutung. Exquisitor bedeutet so viel wie Erforscher. Wir Exquisitoren sind Ermittler mit wissenschaftlichen Hintergrund. Während Inquisitoren meist, naja, wenigstens fragwürdige Methoden hatten“, führte Wolk aus und fuhr, da Alex das Thema nicht weiter hinterfragte, fort, „Und um auf deine andere Frage zu antworten: Die Stimme war Daisy, unser 'DatenAnalyse und Interface SYstem.'“

„Also euer Computer“, resümierte Alex. Irgendwo hatte er die Bezeichnung Daisy für ein Computersystem schon mal gesehen, aber wo, wollte ihm gerade nicht einfallen.

„Weit mehr als das, aber ja. Daisy ist eine künstliche Intelligenz, weiterentwickelt als alles, was dir bisher untergekommen ist. Eigentlich ist sogar die Bezeichnung 'Künstliche Intelligenz' beleidigend. Daisy ist lernfähig, intuitiv... eigentlich ist künstliches Bewusstsein als Bezeichnung besser.“

„Ich dachte so etwas ist noch Science-Fiction.“

„Außerhalb des Einflussbereichs des Heron-Ordens, gewiss. Aber die Bruderschaft der Nacht nutzt die Verknüpfung von Technik und dem, was Nichteingeweihte als Magie wahrnehmen. Und auch der Orden schafft mit seinen Bestrebungen einen erheblichen Technologievorsprung. Der ist auch notwendig. Sonst wäre die Menschheit schon lange über die metamenschliche Gesellschaft im Bilde.“ Wolk war bei seiner Erzählung zu der Sitzecke gegangen und hatte Platz genommen.

„Das wollte ich schon fragen“, griff Alex das Thema auf, „wieso unternehmt ihr eigentlich so einen Aufwand um unentdeckt zu bleiben. Es gibt genug Menschen, die an die Existenz von Vampiren und Werwölfen glauben. Und heutzutage ist es wohl nicht mehr so, dass die Dorfbewohner mit Fackeln und Heugabeln hinter euch, oder uns, her sind.“

„Yonin haben in der Vergangenheit mehrfach versucht an die Öffentlichkeit zu gehen. Zum Beispiel im Juli des Jahres 64. Ein Vertreter eines in Rom ansässigen Werwolf-Rudels hatte sich Lucius Domitius Ahenobarbus, dem damaligen Regenten Roms, zu erkennen gegeben. Sein Rudel umfasste etwa 25 Männer, Frauen und Kinder. Aufgrund der Geschichte der Stadt hielt er es für einen guten Ort um weniger archaisch zu leben, wie es andere Rudel jener Zeit taten. Er wollte sich mit dem Rudel in der Stadt niederlassen und bot im Gegenzug Lucius an, diesen zu unterstützen. Sei es im Militär, sei es als Stadtwache. Alles was das Rudel wollte, war in Frieden zu leben. Lucius wies ihnen eine Behausung in einem abgelegenen Stadtteil zu und gebot ihnen dort auf seine weiteren Anweisungen zu warten. Das Rudel verbrachte einige Tage in dieser Behausung. Eines Nachts schickte Lucius Leute um die Behausung in Brand zu stecken. Fast das ganze Rudel starb in den Flammen. Lucius hatte seinen Männern außerdem befohlen die von ihm so genannte Seuche einzudämmen. Das Feuer griff auf 10 der 14 Stadtteile über und vernichtete 3 vollständig. Unzählige Unschuldige starben. Dabei galt Lucius zu Beginn seiner Regentschaft als belesen und weise. Vom Rudel überlebten nur zwei Kinder, ein 12-jähriges Mädchen und ihr 10-jähriger Bruder, weil sie außerhalb der Stadt gespielt hatten. Aus ihrer Blutlinie ist später der Romulus-Clan geworden.“

„Ok, aber das ist fast 2000 Jahre her.“

„Ähnliches geschah vor 350 Jahren in London. Nach dem letzten Ausbruch der Pest wollte ein Vampirclan helfen die Stadt wiederaufzubauen. Da sie immun gegen den Pesterreger waren, hätten sie sich frei in der Stadt bewegen können, medizinische Hilfe leisten und nicht erkrankte Bürger versorgen können. Tatsächlich verzichteten die Stadtoberen auf die Hilfe. Eine Delegation der Vampire bleib trotzdem in der Stadt und versuchte zu helfen, wo sie konnte. Verdeckt so gut es ging selbstverständlich. Als man doch bemerkte, dass sie noch in der Stadt waren, wurde auch ihr Haus angezündet. Diesmal war es aber nicht beabsichtigt, dass der Großteil der Stadt niederbrannte.“

„Vor 350 Jahren. In London. Meinst du der große Brand von London war...“

„Genau, eine aus dem Ruder gelaufene Vampirjagd.“

Alex fand es bemerkenswert wie sachlich und nüchtern Wolk über solche Ereignisse sprechen konnte. Sicher, sie lagen alle lange zurück, dennoch war der Gedanke, dass Menschen den Tod anderer so billigend in Kauf nahmen, zu tiefst bedrückend. Und da bezeichnete man Vampire und Werwölfe als Monster.

„Die Menschen sind heutzutage viel aufgeklärter“, plädierte Alex.

„Stimmt, aber das waren sie auch schon vor etwa hundert Jahren. Und kurz darauf begann der erste Weltkrieg.“

„Willst du ernsthaft die Gesellschaft um 1914 mit der heutigen vergleichen?“, fragte Alex skeptisch.

„Natürlich nicht. Es gibt große Fortschritte in Medizin, Gesellschaft und Technik. Nichts desto trotz, hat es die Menschheit seit Anbeginn der Geschichtsaufzeichnung keine 100 Jahre geschafft in Frieden miteinander zu leben. Die Menschen haben immer Krieg geführt. Für ihren Gott, für mehr Macht, für Reichtümer, für Öl.“

„Wenn die Yonin so einen Technologievorsprung haben, hätten sie diesen doch mit der Menschheit teilen können. Das hätte doch sämtliche Kämpfe um Ressourcen beenden können“, argumentierte Alex.

„Und dann hätten sich die Menschen um die Vorherrschaft dieser Technologie gestritten.“

Alex hätte diese Diskussion gern weitergeführt, erkannte aber, dass er für ein geeignetes Statement nicht die richtigen Argumente hatte. Er war ja selber davon überzeugt, dass die Menschheit ihren eigenen Untergang herbeiführen würde, wenn sie ihren aktuellen Weg beibehielt. Um die Debatte zu beenden lenkte er das Thema wieder auf Wolks ursprüngliche Erzählung.

„Aber von diesem Lucius habe ich noch nie gehört. Ich meine, wenn er eine Stadt wie Rom in Brand stecken lässt, dann müsste er doch in die Geschichte eingegangen sein.“ Kaum hatte er den Satz laut ausgesprochen, wurde ihm klar, dass er sehr wohl von Lucius Domitius Ahenobarbus gehört hatte. Man hatte ihm nachgesagt, dass er die Stadt niederbrennen lies um einen größeren Palast bauen zu lassen. Man erzählte sich, er habe auf dem Balkon gestanden und Laute gespielt, während er Verse über den Niedergang Trojas rezitierte. Das alles, während die Stadt zu seinen Füßen brannte. Er ging in die Geschichte ein, als der verrückte Kaiser. Doch die meisten kannten ihn nur unter dem Namen, den er annahm, als er sich an die erste Stelle der Thronfolge schob: Nero.

Lazarus

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