Читать книгу Das Kim-Protokoll - Christian Röder - Страница 5

Dezember 2012

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Ich zog mich mit einem energischen Ruck aus dem Pool. Wie immer hatte ich dabei Angst, meine Badeshorts zu verlieren, wollte mir aber nichts anmerken lassen und ließ es darauf ankommen, verzichtete also auf einen kontrollierenden Blick nach unten, ging dann ein paar Schritte und spürte plötzlich einen universellen Schwindel. Ich schaffte es gerade noch auf meinen Liegestuhl. Doch hier gab es nicht die Sicherheit, die ich mir erhofft hatte. Ich starrte in den Bilderbuchhimmel über Hongkong, am Rooftop-Pool meines Lieblingshotels. Während man schwamm, konnte man über den Victoria Harbour sehen und den Peak auf Hongkong Island sehr gut erkennen, ich hatte das alles immer genossen und mich großartig gefühlt. Ich war gerade mal einunddreißig Jahre alt und hatte mehr erreicht als viele in ihrem ganzen Leben. Jetzt lag ich in diesem Stuhl und es fühlte sich gar nicht wie Liegen an, es war ein haltloses Schweben, alles war in Bewegung, nichts unter Kontrolle. Aber es machte außen nicht halt. In mir ging es weiter. Ich konnte mein Herz nicht fühlen und wusste doch, dass es viel zu schnell schlug. Ich sah ein Gerinnsel in meinem Gehirn, wie es ein Gefäß verstopfte. So fühlt es sich also an, wenn man stirbt, dachte ich, und rief mit letzter Kraft nach einem Arzt, der dann auch verblüffend schnell kam, als hätte er nur für diesen Zweck bereitgestanden und eine geheime Regie nicht darauf geachtet, wie unrealistisch es war, wenn er sofort da wäre. Es war ein gut gelaunter, junger Chinese, der routiniert meinen Puls fühlte, mir eine Tablette unter die Zunge legte, mit dem Zeigefinger warnte, ich solle sie langsam zergehen lassen, nicht kauen, nicht schlucken. Sein Gesichtsausdruck wechselte währenddessen ständig von besorgt über ernüchtert zu enttäuscht hin und her, bis sich schließlich alles in einem spöttischen Lächeln auflöste. Ich sei noch mal davongekommen, kicherte es unverschämt aus ihm heraus. Ich wollte protestieren, hatte aber nicht die Kraft dazu und wurde außerdem von der Tatsache aus dem Konzept gebracht, dass alle Menschen um mich herum anfingen zu lachen. Es war erst ein unterdrücktes Prusten, dann lachte man frank und frei heraus, es wurden Gläser aneinandergestoßen, bis das Lachen irgendwann verebbte und ein gemütlich-geselliges Gemurmel aufkam. Man unterhielt sich angeregt, vermutlich über mich, vielleicht aber hatte man schon angrenzende Themen erreicht: Menschen, die sich über Sie unterhalten, unterhalten sich auch über Clownerie, Blamage, Hysterie (umgangssprachl.) und Cardiophobie. Der Arzt hatte sich bereits verabschiedet. Ich hasste ihn, wie ich auch alle anderen Menschen hasste. Sie hatten allesamt den Tod verdient, den ich eben noch befürchten musste! Wie konnte man darüber bloß lachen? Ein Getränk wurde mir gereicht, man wollte wohl nett erscheinen, es war Wasser – war es wirklich Wasser? Meine Zunge vergewisserte sich mehrere Male, ja, es schmeckte wie Wasser, es sah aus wie Wasser, wahrscheinlich war es Wasser. Wie aber konnte man da so sicher sein, in einer Gesellschaft, die Todesangst als amüsante Anregung zu einem abendlichen Smalltalk am Pool missbrauchte? Nachdem ich die furchtbare Beklommenheit hinter mir gelassen und mich in einem Moment aufs Zimmer geschlichen hatte, in dem ich sicher sein konnte, nicht beobachtet zu werden, fühlte ich, dass meine Zeit hier vorbei war.

Am nächsten Morgen war dieses Gefühl immer noch da. Es hatte sich sogar zu einem konkreten Gedanken ausgeformt. Ich würde nicht nur Hongkong und Asien hinter mir lassen, sondern auch die Verlogenheit und Ignoranz der allermeisten Menschen, die ich einfach nicht mehr auszuhalten bereit war.

Ich resümierte mein kurzes, aber ereignisreiches Leben: Hacker schon als junger Teenager, Studium der IT-Sicherheit im Ruhrgebiet, der Studiengang war relativ neu damals, alles war spannend, aufregend – bis auf die hohe Zahl wichtigtuerischer Professoren und subalterner Studenten. Schon nach wenigen Seminaren durchschaute ich, dass selbstständiges Denken hier nicht wirklich gefragt, geschweige denn wertgeschätzt wurde. Wenn man ein wirklich kritischer Mensch ist, sieht man so etwas sehr schnell. Glücklicherweise musste ich aber gar nicht an der Uni bleiben, denn schnell interessierten sich große Unternehmen für meine außergewöhnlichen Fähigkeiten.

Als IT-Security-Analyst war ich an spektakulären Penetrationstests beteiligt, lernte dabei ununterbrochen weiter, vernachlässigte private Kontakte und ging schließlich in die USA, nach Südafrika und Asien, wo ich jeweils in verschiedenen Teams daran arbeitete, Schwachstellen aufzudecken, reproduzierbare Tests durchzuführen und Patches zu programmieren, um es ganz grob und für Laien verständlich zu sagen. Die Welt war in Ordnung, mein Leben fantastisch.

Mit der Zeit aber verengte sich alles. Es gab nur noch Arbeit und Geld, alles wirkte groß, war in Wahrheit aber entsetzlich klein. Und künstlich. Ich hatte lange gebraucht, um das zu registrieren. Ich bemerkte, wie oberflächlich die meisten Menschen, wie desinteressiert sie an mir waren. Ich fühlte mich wie ein Tropfen im Strom, mehr und mehr gab man mir das Gefühl, unbedeutend zu sein, was in krassem Gegensatz zu meinem Talent stand. Anerkennung fehlte in dieser Welt völlig. Ich wollte ihr nicht weiter hinterherhecheln. Das war meiner einfach unwürdig.

Jetzt war ich dem Arzt und diesen idiotischen Leuten, die mich am Pool ausgelacht hatten, geradezu dankbar. All das hatte mir deutlich gemacht, dass ich nicht hierhergehörte, in diese Welt, in der jeder glaubte oder vorgab, bedeutend zu sein und letztlich doch nur eine Marionette darstellte, eine Funktion erfüllte, ein Werkzeug war. Sie alle waren Sklaven. Und ich wurde ausgelacht – weil ich anders war!

Was ich brauchte, war eine Welt, in der alles echt war. Ich sehnte mich nach Wäldern und Wiesen, die einfach nur Wälder und Wiesen waren und nicht Kulissen für Selfies von Menschen in teurer Kleidung. Ich sehnte mich danach, jemandem den Ort zu nennen, an dem ich lebte und als Antwort keinen Ausruf der Bewunderung zu erhalten, sondern gefragt zu werden, wo das sei. Und ich sehnte mich danach, von Menschen umgeben zu sein, mit denen mich anderes verband als Präsentationstermine und Zielvereinbarungen, nach Beziehungen, die mehr waren als Win-win-Situationen. Friedlich grasende, ehrliche Kühe wären mir lieber als Menschen, die dumm lachten. Ich stand am Fenster meiner Suite, sah auf den Victoria Harbour hinaus und wusste: Ich wollte zurück nach Deutschland.

Dann ging alles ganz schnell. Ich beauftragte einen Makler und besprach meine Umzugspläne mit meinen Auftraggebern, von denen einige so unflexibel waren, dass ich sie verlor. Mein Leistungsspektrum war jedoch breit genug, so dass ich mich vielfältig anbieten konnte, es deckte auch IT-Administration und Anwendungsentwicklung ab sowie die Entwicklung eigener Tools und natürlich eine klar strukturierte und verständliche Report-Erstellung. Angst musste ich also nicht haben, in Deutschland bestand ein großer Bedarf an IT-Sicherheit, die meisten Unternehmen waren völlig unzureichend geschützt.

Der Makler hatte schnell Erfolg: Ich liebte das Haus im Schwarzwald auf den ersten Blick. Es war schlicht, umgeben von einer tollen Landschaft, eine Straße schlängelte sich unbefangen an ihm vorbei. In der Nähe war eine Kreisstadt, etwas weiter weg eine größere Stadt. Man war schnell in Frankreich und in der Schweiz. Das Haus selbst hatte nur ein Erd- und ein Dachgeschoss, einen Keller und einen Carport. Und einen Bunker. Der Vorbesitzer sei wohl etwas paranoid gewesen, meinte der Makler scherzhaft, für viele Interessenten sei der Bunker ein Nachteil. Er verfügte über zwei schmale Betten, eine Art Wohnbereich mit Sofa, Couchtisch und Sideboard, eine Küchenzeile, eine Nasszelle und einen Dekontaminationsbereich am Eingang, der allerdings nicht einsatzbereit war. Strom und Wasser waren an die öffentlichen Netze angeschlossen, der Bunker war also nicht autark. Der Makler war etwas ratlos, als er mir alles gezeigt hatte. Der Vorbesitzer, der verstorben war und dessen Kinder das Haus einfach nur loswerden wollten, hatte den Bunker anscheinend in den Sechzigerjahren bauen lassen. Er hatte ursprünglich unter einem alten Schuppen gelegen, der dann abgerissen und durch einen Carport ersetzt worden war. Der Bunker war regelmäßig gewartet worden, wovon Rechnungen in einem Ordner zeugten. Ich sah in dieser ganzen Bunker-Geschichte erst einmal nur ein skurriles Detail. Mir gefiel das Haus, ich mochte die Lage, die Landschaft und das Gefühl, weit ab von allem Falschen und Verlogenen ganz neu anfangen zu können. Vielleicht auch: überhaupt erst anzufangen, richtig zu leben.

Ich dachte nicht zu viel darüber nach und kaufte das Haus. Es war perfekt. Das ist jetzt etwa eineinhalb Jahre her.

Das Kim-Protokoll

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