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Februar/März 2013

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In den ersten Monaten erkundete ich die Umgebung besonders gründlich. Es gab viel zu sehen. Manchmal fühlte ich mich, als würde ich zum ersten Mal einen Wald, einen See, ein Feld sehen. Ich sog alles gierig in mich ein, als könnte es gleich wieder verschwinden.

An einem Montag vor etwa anderthalb Jahren landete ich dann auf einem Straßenfest in der Kreisstadt. Menschen schwankten an mir vorbei, dass alles nur so taumelte. Ich fragte mich, was man hier feierte. Bis mir klar wurde, dass Rosenmontag war. Karneval! Ich blieb am Straßenrand stehen. Ein Umzug startete. Menschen in Uniformen zogen an mir vorüber, sie riefen immer wieder etwas, das ich nicht verstand. Alles war ausgelassen. Man konnte die Lebensfreude buchstäblich einatmen. Es war ein ständiges Geschubse und Gedränge, doch hatte es mich nie weniger gestört, in einer Menschenmasse zu verschwinden.

Eine Gruppe in sehr ausgefallenen Kostümen tauchte auf. Sie trugen alle dieselben Masken. Die Masken lächelten, sie wussten etwas, das ich nicht wusste. Sie waren ein einziges erstarrtes Orange, ein ewiges, grausames Grinsen. Diese Gruppe war offenbar besonders beliebt bei den Einheimischen. Jeder von den Maskierten trug eine breite, weiße Halskrause, ein weißes Gewand, auf das Tiere gestickt waren, einen Fuchsschwanz und fürchterlich laut klingende Glocken an einer Schärpe. Manche von ihnen hatten eine Art Teleskopschere, die sie ausfahren konnten, um jemanden damit zu piesacken. Süßigkeiten flogen durch die Luft. Die Geräusche der einzelnen Glocken summierten sich zu einem einzigen brachialen Geläute. Alles schwoll an und drückte mich vom Umzug weg. Ich zog mich zurück und bog in eine Gasse ab. Sie war zunächst menschenleer, doch dann kamen mir zwei Gestalten entgegen. Sie trugen ebenfalls Masken und sprachen kein Wort. Einer rempelte mich an. Ich ging weiter. Der Mann rief mir hinterher. Ich lief. Hinter mir kamen Schritte näher. Ich erhielt einen Stoß in den Rücken, stolperte und fiel zu Boden. Die beiden lauerten und schienen sich nicht darüber einig zu sein, wer mich zuerst weiter angreifen sollte. Der eine stieß mich mit dem Fuß an, als wollte er die Reflexe eines halbtoten Tiers testen. Aus der Maske des Anderen kam ein Röcheln, das vermutlich ein Kichern war.

Ich wollte gerade aufstehen, da trat mir der Röchelnde in die Seite. Dann hörte ich eine dritte Stimme, es war nur ein „Hey!“. Ich sah, wie beide sich nach der Stimme umdrehten und dann ein dritter Typ ohne Maske den beiden etwas in ihre Gesichter sprühte. Er tat es auf eine Weise, in der man etwas zum Reinigen auf eine Fläche aufträgt, gründlich und präzise sprühte er in die Augenschlitze der Masken hinein. Die beiden kostümierten Kerle hatten genug damit zu tun, die Attacke zu verarbeiten. Ich war frei.

Der Pfefferspraymann zog mich mit sich, wieder in den Karneval hinein. Ich wollte mich nicht beschweren und folgte ihm. Wir gingen eine ganze Weile wortlos nebeneinander her und hielten dann abrupt an einer Bude. Der Pfefferspraymann bestellte zwei Bier, die schnell vor uns standen, wir prosteten einander zu und tranken. Es war ein ausgezeichnetes, einheimisches Bier. Ich bedankte mich. Der Mann nickte nur und stellte sich vor. Er heiße Jasper. Ich fragte, ob das stimme. Er sagte, ja, das sei sein Name. Ich stellte mich ebenfalls vor. Er fragte scherzhaft, ob Tom wirklich mein Name sei. Ich sagte, ja, das sei er. Er erzählte mir, er sei Galerist. Ich sagte bedauernd, ich sei an Kunst leider nicht sonderlich interessiert. Er fragte mich, woran das liege. Ich sagte, ich wisse nicht, wozu man Kunst brauche. Er lachte. Ich schwieg. Jetzt erst fiel mir auf, dass Jasper eine Damenhandtasche bei sich hatte, in der er vermutlich auch das Pfefferspray transportierte. Bevor ich das merkwürdig finden konnte, kam eine junge Frau und nahm die Tasche an sich. Jasper stellte sie mir ohne Umschweife als seine Schwester Kathi vor. Ich verschluckte mich und schüttelte ihr die Hand.

Kathi hatte lange, dunkelblonde Haare, die sie akkurat zusammengebunden trug. Es war mir unmöglich, sie mir mit offenen Haaren vorzustellen. Ihre tiefblauen Augen schienen nach innen zu schauen, als müssten sie dort erst etwas finden, bevor sie sich mit der Außenwelt befassen konnten. Als sie erfuhr, dass ihr Bruder mich gerettet hatte, nannte sie ihn ironisch „Held“ und es sah aus, als spräche sie zu einer imaginären Figur und nicht zu einem echten Menschen. Trotz ihrer Entrücktheit stellte sie mir viele Fragen, die ich gewissenhaft beantwortete, sah jedoch durch mich hindurch, während meine Worte zwischen uns zu verpuffen schienen. Jasper ergänzte, dass ich mich nicht für Kunst interessierte. Kathi lachte, das gehe ihr genauso. Aber sie sei hübsch anzusehen. Wer, fragte ich. Die Kunst, sagte Kathi. Was sie denn beruflich mache, fragte ich und nahm einen Schluck Bier. Sie sei Kellnerin in einem Wirtshaus, das gefalle ihr sehr gut, sie sei es gern. Jasper warf ein, sie habe eine exzellente Stimme, ein ungewöhnliches Timbre, sie könne mühelos Sängerin werden, wenn sie nur wollte, aber sie wolle eben nicht. Dafür nutze sie ihre Stimme, um alten Menschen oder kranken Kindern etwas vorzulesen. Das könne sie ebenfalls phänomenal gut, meinte Jasper. Sie schaffe es, dass man alles vor sich sehe und ihre Stimme beinahe vergesse. Ja, sagte Kathi, das mache sie gerne. Sie möge es, wenn sie Menschen mit anderen Welten verbinden könne. Sie fühle sich dabei wie jemand, der ein Fenster öffne. Kurz gesagt, sei sie also alles, was sie sein wolle. Ob ich denn schon alles sei, was ich sein wolle, fragte Kathi mich. Nein, sagte ich. Ich sei nicht sicher, relativierte ich schnell. Ich sei vermutlich dabei, das zu werden, was ich sein wolle, aber ich sei nicht sicher, ob ich wirklich wisse, was das sei, das ich sein wolle, oder ob ich es mir vielleicht nur einbildete. Eigentlich sei ich mir aber sicher, auf dem richtigen Weg dahin zu sein, was immer es auch sei. Kathi lachte und meinte, das gefalle ihr. Was genau ihr gefalle, fragte ich. Genau das, erwiderte Kathi. Ich gab mich mit der Antwort zufrieden und versuchte, das Thema zu wechseln. Ob sie beide auch Narren seien. Heute schon, meinte Jasper. Kathi nickte nur bestätigend und sah in den Himmel. Er war grau. Schnee lag noch auf den Dächern. Sie seien beide mit der Tradition durchaus verbunden, erklärte Jasper. Ich nahm einen großen Schluck Bier, einen großen Schluck Heimat, einen großen Schluck Ehrfurcht. Kathi sagte, sie seien beide Mitglieder in einer Karnevalszunft, sie seien ordnungsgemäß getauft worden. Inwiefern getauft, wollte ich wissen. Die Mitternachtstaufe, meinte Kathi, das sei ein Ritual, durch das man aufgenommen werde in die Zunft. Man sei dann ein ordentliches Mitglied. Sie seien beide jedoch recht passiv, ergänzte Jasper. Sie würden die Zunft eher ideell unterstützen, als aktiv mitzuwirken. Was aber zähle, sei die grundsätzliche Verbundenheit. Worte, die mich an solide Eichenschränke, Fachwerk und von jahrelanger Arbeit gegerbte Hände denken ließen. Ich genoss das alles sehr. Wie es mit mir aussehe, wollte Jasper wissen. Was genau er meine, fragte ich. Ob ich auch ein Narr sei, in welcher Form auch immer, erläuterte Jasper seine Frage. Ich zögerte mit der Antwort. Nein, meinte ich dann, ich hätte wohl nichts Närrisches an mir. Also sei ich ein durch und durch ernsthafter Mensch, konstatierte Jasper in einem Ton, mit dem er mir ein Hintertürchen offenließ. Ich zögerte erneut, meinte dann aber, ja, im Zweifelsfall sei ich wohl eher ernsthaft als närrisch. Ich hätte aber vieles erlebt, was närrischer gewesen sei als der närrischste Narr es hier jemals verkörpern könne. Ach, sagte Jasper, interessant. Ja, meinte ich, zuletzt sei ich in Hongkong gewesen, davor in Johannesburg, San Francisco und Boston. Und überall seien die Menschen künstlich gewesen und hätten sich zumeist lächerlich verhalten. Sie seien immer nur auf kleingeistige Dinge aus, wie Karriere, Besitz, Bedeutung. Das habe mich gestört, deshalb sei ich jetzt hierhergezogen. Jasper lachte. Karriere, Besitz, Bedeutung würden hier aber auch geschätzt, meinte er. Ja, erwiderte ich, das sei aber nicht zu vergleichen. Hier sei alles natürlich gewachsen. Draußen aber mische sich zu vieles und jeder bekämpfe jeden. Das könne er, meinte Jasper, nicht so genau beurteilen. Er habe zwar auch Freunde in Berlin, Paris und New York, die er öfter mal besuche, aber sonst wisse er über das Leben in Großstädten nicht all zu viel. Er habe mal eine Zeitlang in Berlin gelebt. Furchtbare Stadt, warf ich ein, voller Wichtigtuer. Aber, fuhr Jasper fort, er habe dort sehen müssen, dass er hier zu Hause sei. Er habe nichts gegen Berlin, es sei eine ganz lustige Zeit gewesen. Das, sagte ich, sei zu bewundern. Was, fragte Jasper. Zu wissen, wo man zu Hause sei, meinte ich. Zu Hause, meinte Kathi überraschend, sei man, wo alles wie für einen geschaffen sei. Wir schwiegen eine Weile.

Irgendwann schlug Jasper vor, in seine Galerie zu gehen. Sie war nicht weit entfernt. Ich plumpste in einen Sessel. Jasper war entsetzt und meinte, das sei ein teures Ausstellungsstück. Ich wollte sofort wieder aufstehen. Kleiner Scherz, meinte Jasper dann, der sei von Ikea. Kathi betrachtete Jasper und mich mit demselben Blick, mit dem sie sich die Bilder an den Wänden ansah. Für sie gab es anscheinend nur eine Welt. Und nichts in dieser Welt stach hervor. Ich erzählte ein bisschen von meinen Erlebnissen. Sie sah zwischen den Bildern und mir hin und her. Na ja, endete ich dann, es sei ja auch nichts Besonderes, viele Menschen hätten sicher ähnliches erlebt. Doch, doch, meinte Kathi, während sie statt zu mir auf eine schneebedeckte Landschaft sah, das sei es. Ich fragte mich, was sie dort sah.

Jasper war in einem hinteren Raum verschwunden, anscheinend gab es dort eine Küche. Er kam mit einem Tablett und Sektgläsern zurück. Jasper trank ungezügelt. Ich nippte kontinuierlich. Kathi schien das Glas in ihrer Hand gar nicht zu bemerken. Wir unterhielten uns über die Bilder, ich verstand nicht besonders viel. Ich war allerdings auch der Ansicht, dass es bei den meisten nicht viel zu verstehen gebe und bemühte mich, dies diplomatisch auszudrücken. Natürlich wollte Jasper zu allem meine Meinung wissen, was ohne Grundlage ein bisschen anstrengend war. Kathi meinte plötzlich, er habe mir das Leben gerettet. Jasper machte eine relativierende Geste. Ich bestätigte Kathi jedoch, ja, es habe gefährlich gewirkt. Jasper meinte, so etwas könne zwar immer und überall mal passieren, sei hier aber nicht gerade üblich. Ich sagte, ich hätte mich gefühlt, als wollte mich der gesamte Ort ausstoßen. Aber nein, meinte Jasper, das sei doch Unsinn, man sei hier sehr aufgeschlossen gegenüber fremden Menschen und bemühe sich, sie aufzunehmen. Was denn genau passiert sei, wollte er dann wissen. Ich sei angegriffen und zu Boden gestoßen worden. Ob es keinen erkennbaren Grund gegeben habe, fragte Jasper. Nein, sagte ich. Das sei seltsam, meinte Jasper. Mag sein, antwortete ich. Sehr seltsam, bekräftigte er. Ich könne nicht mehr dazu sagen, wiederholte ich, ob ich das denn müsse, damit er mir glaube. Nein, erwiderte Jasper, um Himmels Willen, so habe er das nicht gemeint. „Der Himmel ist rot“, sprach Kathi, die hinter uns stand und wieder in den Anblick eines Bilds vertieft war. Ja, sagte Jasper. Das sei ein Ausdruck von Bedrohung, den der Künstler mit dem roten Himmel schaffen wollte. Ein nahendes oder mögliches Unheil, das über allem schwebe.

Jasper referierte dann noch über dies und das. Unter anderem bezeichnete er einen Künstler als „unseren Schwarzwald-Hopper“. Ich verstand nicht. Er erläuterte, dass seine Bilder sehr stark an Edward Hopper erinnern würden. Ich tat ihm den Gefallen und gestand meine Unkenntnis.

Bald darauf verabschiedete ich mich, wir tauschten Telefonnummern. Kathi umarmte mich. Ich war so überrascht, dass ich aus Versehen ihre Wange mit dem Mund berührte, was wie ein versuchter Kuss gewirkt haben konnte. Anscheinend hatte sie das jedoch nicht so wahrgenommen. Sie meinte, das Pfefferspray hätte sie irgendwann spontan gekauft, aber nie geglaubt, es mal gebrauchen zu können. Ich wies darauf hin, dass es immer gut sei, verteidigungsbereit zu sein. Kathi lachte. Jasper klopfte mir auf die Schulter: „Na dann, herzlich willkommen! Die Begrüßung hast du ja schon mal überlebt.“ Wir lachten. Ich sah in Kathis Augen. Ich fragte mich, wie ihr Bild von mir aussah.

Das Kim-Protokoll

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