Читать книгу Das Kim-Protokoll - Christian Röder - Страница 6

11.09.2014

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Es ist schon wieder mitten in der Nacht. Immer noch verunsichert mich diese Dunkelheit, wenn ich aus dem Fenster schaue. Dort ist nichts außer meinen erschrockenen Augen. Aber ich glaube, ich werde mich allmählich daran gewöhnen. Außerdem habe ich nun wirklich jeden Grund, mir zu vertrauen: Ich habe alles so gut vorbereitet, dass es im Grunde ausgeschlossen ist, dass sie mich finden.

Dafür habe ich ein anderes Problem, mit dem ich so nicht gerechnet hatte: Kim gibt nicht zu, Kim zu sein – ganz gleich, wie viele Beweise ich ihm vorlege! Ich war nicht darauf gefasst, dass er sich dermaßen hartnäckig selbst verleugnen würde. Denn seine Fake-Identität hatte ich während meiner Recherche mühelos aufdecken können. Seine Social-Media-Kontakte waren gefälscht, die Personen existierten entweder nicht oder waren Unbeteiligte. Es war einfach lächerlich, auf der Korrektheit dieser getürkten Informationen zu beharren.

„Sprechen Sie doch mit meinen Eltern. Ich gebe Ihnen gerne die Nummer. Sie werden Ihnen bestätigen, dass ich kein nordkoreanischer Diktator bin.“

„Das habe ich schon getan. Ihre angeblichen Eltern sprechen beide kein Deutsch. Also habe ich auf Englisch nach Ihnen gefragt. Sie konnten mich dann zwar verstehen, wussten aber beide nicht, wen ich meinte.“

„Wundert mich nicht. Sie haben keine besonders hohe Meinung von mir. Kann schon sein, dass sie mich Fremden gegenüber verleugnen. Gut zu wissen übrigens: danke dafür!“

„Auch ein Mann, der ein Freund von Ihnen sein soll, wusste nicht, wer Sie sind.“

„Sagen Sie, muss ich noch deutlicher werden? Wollen Sie mich noch mehr demütigen? Reicht es Ihnen nicht, mich anzuketten wie einen Hund? Ich bin ein Loser! Jemand, der weder Freunde noch Bekannte hat. Klar, irgendwen gibt es immer, der auf Facebook mal was kommentiert. Aber Sie wissen doch selbst, was man darauf geben kann.“

„Sie sind kein Loser, Kim.“

„Ich bin Verkäufer für Herrenoberbekleidung in einem Kaufhaus in Bern. Meine Eltern sind Südkoreaner, ich bin in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Ich war nur wenige Male in Korea, habe mich mit meinen Verwandten aber nicht besonders gut verstanden. Oder, um es klar zu sagen: Wir waren einander völlig egal.“

„Das klingt gut. Ihre Legende haben Sie drauf, was mich nicht überrascht. Wo sind Sie in den Kindergarten gegangen?“

„Gar nicht. War zu Hause, bis ich in die Grundschule gekommen bin.“

„Wo sind Sie zur Grundschule gegangen?“

„In Muri bei Bern.“

„Ach, schau an …“

„Was soll das heißen?“

„Das soll heißen: Sieh mal einer an …“

„Sieh mal einer was an?“

„In Muri bei Bern sind Sie zur Grundschule gegangen? Von Tausenden von Grundschulen waren Sie ausgerechnet auf der in Muri bei Bern?“

Kim verdrehte die Augen. Ich wurde nicht schlau aus ihm, was ich mir keinesfalls anmerken lassen durfte.

„Kim, ich bitte Sie! Lassen Sie das Spielchen. Sie haben sich noch nicht mal die Mühe gemacht, das mit der Grundschule für Ihre Legende zu ändern.“

„Welche Legende?“

„Verdammt noch mal!“

Ich musste mich zusammenreißen. Aggressivität war jetzt unbedingt zu vermeiden. Es war entscheidend, souverän zu bleiben.

„Also: Sie haben einen großen Teil Ihrer Kindheit und Jugend in Bern und Umgebung verbracht, wie man inzwischen weiß. Unter anderem sind Sie in Muri bei Bern zur Grundschule gegangen. Sie sprechen fließend Deutsch, wie wir beide gerade am besten bezeugen können.“

„Einen großen Teil? Ich habe mein ganzes Leben dort verbracht.“

„Sie haben etwa elf Jahre lang in der Schweiz gelebt. Sie waren ein guter Schüler, haben begeistert Basketball gespielt. Anschließend sind sie zurück nach Nordkorea und haben dort die für sie vorgesehene Identität angenommen.“

„Ich war nur ein paar Mal in Südkorea, um meine Verwandten dort kennenzulernen. Wir hatten uns nichts zu sagen. Habe ich gerade schon erzählt. Was für eine Identität überhaupt? Und glauben Sie mir: Ich würde was drum geben, eine andere Identität annehmen zu dürfen!“

„Warum tun Sie das?“

„Warum tue ich was?“

„Sich verleugnen? Warum leugnen Sie, Kim Jong-un zu sein?“

Kim schüttelte nur den Kopf, wie jemand in einem Film, dessen Schuld längst feststeht, der sich aber dagegen sträubt, alles zu gestehen. Es war peinlich.

„Warum wollen Sie denn unbedingt, dass ich Kim Jong-un bin? Schon klar: Es wäre eine Sensation, ein großer Fang sozusagen. Warum gehen Sie nicht angeln? Einen dicken Fisch rausziehen, Foto für Facebook, reicht das nicht? Warum müssen Sie einen Fremden entführen und darauf bestehen, dass er Kim Jong-un ist?“

„Ich entführe keinen Fremden. Ich befreie ein Opfer düsterer Machenschaften.“

Kim lachte laut auf.

„So kommen wir nicht weiter.“

„Natürlich kommen wir so nicht weiter! Ich kann Ihnen alles haarklein erzählen, würde mich fast geehrt fühlen. Immerhin hat sich noch nie jemand so sehr für mein Leben interessiert wie Sie. Fragen Sie mich nach Grundschulfreunden, nach Hobbys, nach Sportvereinen, nach Lehrern. Fragen Sie mich, wo ich gewohnt habe, wie mein Zimmer eingerichtet war. Wo ich eine Ausbildung gemacht habe, in welche Kollegin ich mal verknallt war. Welche Arbeitgeber ich hatte, was ich verdient habe. Ich erzähle Ihnen alles! Sie können es nachprüfen!“

„Oh, daran habe ich keinen Zweifel, Kim. Ich bin sicher, Sie könnten mir viel erzählen, und einiges davon könnte als überprüfbar erscheinen. Da gibt es nur ein Problem, Kim.“

„Was für eins?“

„Ich würde es nicht glauben.“

Das Kim-Protokoll

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