Читать книгу Das Überlebensprinzip - Christian Ruf - Страница 12
9. Tag
ОглавлениеUnser Weg führte weiter durch die Wälder und an einigen Dörfern vorbei. Wir wollten ein Bachtal überqueren, doch blöderweise standen wir plötzlich an eine Kante von abschüssigen Felsen, so dass wir erst gut einen Kilometer seitlich einen brauchbaren Weg ins Tal hinunter nehmen konnten. Unten angekommen gab es dann aber wieder keine Möglichkeit über den nur zwei Meter breiten Bachlauf zu kommen: kein Engpass zum drüber springen, keine Steine als Insel oder ein umgefallener Baumstamm. Kaum zu glauben, dass so eine lächerliche Situation ein echtes Hindernis darstellen konnte!
Nun, es half nichts - Schuhe aus, Hosen hochgekrempelt und durch das zum Glück nur knietiefe, eiskalte Wasser durchwaten. Das prickelnde Stechen in den Beinen hinterher und die tauben, paprikaroten Zehen werde ich so schnell nicht vergessen… So etwas kostete einfach nur Zeit. Gut eine ganze Stunde dauerte es, bis wir auf der anderen Seite wieder auf der Höhe waren.
In der Regel schafften wir so ca. 15 bis 20 Kilometer am Tag. Das war nicht viel, aber wir marschierten ja auch quer durch das Gelände. Dazu kam noch, dass wir morgens und abends das Zelt auf- und abbauten sowie Essen zubereiten mussten. Jeden zweiten oder dritten Tag verbrachten wir dann noch mit der Suche nach neuer Nahrung. Am Sonntag machten wir sogar eine Pause. So komisch es klingt - es gibt zwar keinen Grund dazu, aber einen Tag Ruhe in der Woche braucht der Mensch. Man hat dann wieder mehr Lust und Motivation das nächste Etappenziel anzugehen.
Wenn ich unsere Tagesleistung auf gut tausend Kilometer hochrechnete und die Unterbrechungen dabei berücksichtigte, dann könnten wir in ungefähr drei Monaten im Süden hinter dem Gebirge angekommen sein. Genau mitten im Sommer. Da wäre dann noch genug Zeit, um sich Vorräte und einen Unterschlupf für den Winter zu organisieren…
Am Abend kam Ben auf einmal mit leicht gequältem Gesicht zu mir. Er humpelte ein wenig. Fragend schaute ich ihn an. Als er seine Schuhe auszog, konnte man seitlich eine feuchte Stelle an seinem Socken erkennen. Ich ahnte schon woran das lag und als er diesen dann vorsichtig ausgezogen hatte, kam eine hässliche, ausgewachsene Blase zum Vorschein die zu allem Übel auch noch aufgegangen war. Autsch!
„Du hast deine Füße nicht richtig trocken gemacht nach unserer Bachüberquerung. Jetzt haben sich die nassen Socken an deinen Schuhen und Füßen wund gerieben.“ erklärte ich verärgert im Anbetracht der nun erzwungenen Pause und der dadurch verlorenen Zeit.
Ben schaute nur beleidigt und stöhnte entnervt.
„Eigentlich müsste jetzt dringend Desinfektionsmittel drauf. Und genau DAS haben wir vergessen einzupacken! Mist nochmal! Mist, Mist, Mist!!“
Wütend und frustriert über diese Situation sprang ich auf, nahm mir den nächstbesten Stock und prügle auf die Bäume ein… Nach einer Weile hatte ich mich dann wieder beruhigt und abgeregt.
„Okay, wir werden morgen weitersehen. Jetzt wische dir erstmal mit etwas Schnee den Eiter aus der Blase raus und wickle ein sauberes Tuch drum.“ riet ich Ben.
Als er viel zu zaghaft und wimmernd noch nicht einmal die Socken richtig auszog, wurde ich wieder ungeduldig. Aber es nutzte ja nichts. So kniete ich mich nieder und half ihm dabei.
„Lass deine Beine gestreckt!“
„Hör’ auf sie ständig wegzuziehen!“
„Wie sollen wir jemals fertig werden wenn du so zuckst?!“
Armer Ben, es tat ihm höllisch weh und er konnte sich nicht zusammenreißen um dem Reflex zu widerstehen. Also setzte ich mich kurzerhand mit dem Rücken zu ihm auf seine Beine, hielt das Schienenbein mit der einen Hand fest und machte mich an die Arbeit während er sich hinter mir vor Schmerzen wie ein Aal wand… Die Füße waren bald wieder sauber und umwickelt, mein Rücken zerkratzt und mit blauen Flecken übersät. Ben’s Wangen waren nass vor Tränen und rotglühend.
„Tut mir leid, Kumpel. Mensch, ich hätte nicht gedacht, dass du das so tapfer aushältst! Ehrlich.“ versuchte ich zu trösten. „Hey, du bist doch mein starker kleiner Bruder.“
Ben schniefte und nickte mir halb lächelnd zu - das heißt beim ihm so viel wie: „Ja, Danke.“ Erschöpft legte er sich hin und schlief bald ein während ich noch eine Weile an meinem Tagebuch weiter schrieb.