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7.5 Theorie

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Bei Wichern sind Theorie und Praxis eng aufeinander bezogen; seine Praxis gründet auf theologischen und pädagogischen Thesen, und zugleich unterlegt er seine Theorie mit Erfahrungen aus seiner beruflichen Praxis. Bei der Darstellung seiner Theorie wird diese Verknüpfung berücksichtigt.

(1) Soziale Probleme und die Begründung für ihre Entstehung: Wichern beschreibt detailliert unter der Überschrift „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“ und auch in der „Öffentlichen Begründung des Rauhen Hauses“ das Leben der „Unterschicht“ in den Elendsquartieren Hamburgs. Ein Beispiel:

„Ich bitte, mir im Geiste in diese Wohnungen zu folgen. In der Tür gerade an wohnt eine Frau, die als Kind mit Mutter und Geschwistern bei Nacht von dem trunkfälligen Vater auf die Straße getrieben zu werden pflegte. Als die Eltern gestorben waren, verehelichte sie sich und wurde Mutter von einem Sohne, der jetzt, etwa 17 Jahre alt, tagaus, tagein Lumpen und Knochen sammelt. Nach dem Tode des ersten Mannes trat die Frau in eine wilde Ehe mit einem andern Manne, unter welchem ihre Not und ihr Elend auf das Höchste gestiegen ist. Der Mann ist gestorben und hat das Weib als Mutter von zwei Kindern zurückgelassen; das eine von diesen ist ein niedlicher Knabe von sechs bis sieben Jahren, der hilflos in diesem Jammer herumschleicht, das andere ein zwölfjähriges Mädchen. Seit vielen Jahren stockblind. Geistige Nahrung irgendwelcher Art ist ihr bis vor kurzem nie geboten. Diesem Sahle gegenüber wohnt in einer anderen Tür ein wilder Mensch, ein Walloder Chauseearbeiter, ein entsetzlicher Trunkenbold; eine Kinderbettstelle, ein wenig zerbrochenes anders Mobiliar und ekelhafter Schmutz füllen diese Behausung. Zwei junge Kinder von gewaltiger Leibesform, welche des Guten, das ihnen geboten wird, lachen, und den Tag über sich umhertreiben, hinsichtlich derer der Vater in seiner Trunkenheit Alles verspricht“ (Wichern 1958, 99 f.).

Für Wichern steht fest, dass das „innere Verderben die Ursache auch des äußeren Verderbens ist“ (vgl. a. a. O., 17). Eine der Hauptursachen für die Armut liegt nach Wichern daher im „immer zunehmenden Sittenverderben des Volks, das einzig und allein aus der herrschenden Irreligiösität, der Verachtung des wahren Christentums und dem gottlosen Unglauben entsteht“ (a. a. O.). Vor dem Hintergrund der bürgerlichen Familie als Vorbild sind für Wichern auch die zerrütteten Familienverhältnisse des Proletariats maßgeblich an diesem „Verderben“ beteiligt. Aufgrund der Arbeitssuche komme es zum häufigen Wohnortwechsel und Abbruch sozialer Bindungen wie der Dorfgemeinschaft oder der Großfamilie. Der mangelnde gesellschaftliche Zusammenhalt und die fehlende Nächstenliebe zerstörten die Gesellschaft und vor allem die Kinder und Jugendlichen. Dies nennt Wichern die „soziale Entwurzlung des Menschen“. Aus diesen Familienverhältnissen (die Eltern haben oft keine Hausstände) geht für Wichern zuallermeist das Geschlecht der sogenannten verwahrlosten Kinder, deren Zahl sich zu mehreren Tausenden steigert, hervor, hier ist seiner Auffassung nach die Pflanzschule des „faulenden“ Proletariats, in dessen Behausung zugleich die weibliche Prostitution ihre erste Pflege, die Summe aller Laster und unbändiger Lust ihren Sammelplatz und das zahlreiche Verbrechen seine unmittelbare Vorschule findet (vgl. a. a. O.). Wichern spricht konsequenterweise von der „Entartung der unteren Volksklassen“ und nennt als Gründe dafür:

(a) das unzüchtige Wesen der wilden Ehen und das durch dieselben wie begonnene, so zerstörte und sich bereits regenerierende Familienleben,

(b) den Druck der schamlosen und verschuldeten Armut; die äußere Not der Familie,

(c) die Gewährung der sinnlichen Lust und Begier außerhalb der Familie als Ersatz für die Leiden und Entbehrungen in der und für die Familie,

(d) das von bloß bürgerlichen und irdischen Verhältnissen unterdrückte religiöse höhere Bewusstsein,

(e) den Zwiespalt zwischen Schule und Haus,

(f) die mit allem diesem erzeugte und immer kräftiger wirkende Vereinzelungssucht, Eigensucht und Eigenliebe, mit einem Wort: das Aufhören der Gemeinschaft in der Liebe (vgl. a. a. O., 102).

Generell begründet Wichern das soziale Elend mit der Entchristlichung und Verweltlichung der Gesellschaft, der Entfremdung der Menschen von Gott, mit schwachen Kirchenbesuchen und schwindenden häuslichen Gottesdiensten, mit kirchlichen Missständen, nachlassender Seelsorge und schwachen Predigten, mit der Außerkraftsetzung aller moralischen Maßstäbe, mit Verwahrlosung, mit der Revolution der Kommunisten einschließlich der Bekämpfung der Religion. Wichern kritisiert den Verfall der sittlichen Normen, der nach seiner Meinung vor allem durch die Entartung der Leselust und durch die Verbreitung von kitschigen Romanen sowie pornographischen Schriften bedingt ist.

Der Erklärung der sozialen Probleme bei Wichern ist also einerseits individualisierend: Der Einzelne ist verantwortlich für seine Lage. Und andererseits moralisierend: Wenngleich arm sein an sich noch keine Sünde ist, so ist es doch moralisch verwerflich, sich in dieser „selbst verschuldeten“ Armut auch noch völlig sittenwidrig zu benehmen.

(2) Das Menschenbild Wicherns und Grundsätze seiner Erziehungslehre: Wichern sieht den Menschen als ein von Gott geschaffenes Geschöpf an. Jedes Kind sei etwas Einzigartiges, sodass ihm eine individuelle Pflege und Behandlung zuständen. Der Mensch habe die Freiheit und die Fähigkeit, sich zum „Guten“ zu entscheiden oder aber seine Neigungen zum „Bösen“ auszuleben. Diese Freiheit findet ihre theologische Letztbegründung in der Freiheit des Christenmenschen. Der Mensch wird von Wichern als freie Persönlichkeit gesehen, deshalb werden die Kinder und Jugendlichen auch in Freiheit erzogen. Die Erlösung zum „Guten“ kann nach Wichern nur durch den christlichen Glauben geschehen. Der genaue Inhalt und die Bedeutung dieses „Guten“ des christlichen Glaubens, wie Wichern ihn versteht, hängen eng mit seiner theologischen Entwicklung zusammen. Diese ist geprägt von einem „Wiedergeburtserlebnis“, das ihn zu einem überzeugten Vertreter der gerade erstarkenden protestantischen „Erweckungsbewegung“ macht. Dieses Erlebnis wird zu einem bestimmenden Moment seiner Erziehungslehre.

Denn immer geht es Wichern darum, den Eigenwillen – die „verderbte Natur“, den „alten Adam“ – in den Kindern und Jugendlichen zu brechen und sie einem neuen Leben zuzuführen (vgl. Wichern 1975, 279–299).

Wichern versteht Pädagogik bewusst als christliche Erziehung und wertet sie damit letztlich als einen Teil der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechtes. Daher muss sie mit dem Faktum der in jedem Menschen zutage tretenden Sünde als des bewusst eingeschlagenen Weges gegen Gott rechnen. Dass die christliche Pädagogik mit diesem Phänomen zu arbeiten hat und wie sie die Sünde überwinden kann, zeigt Wichern in seinen Schriften (vgl. Meinhold, in: Wichern 1975, 15).

Daraus folgt für Wichern auch, dass die christliche Erziehung ein allgemeiner Beruf aller Christen ist, ein „besonderes Gut aber für die besonders dazu Berufenen“ (vgl. Wichern 1975, 259 ff.).

(3) Das Erziehungskonzept für das „Rettungshaus“: In das „Rauhe Haus“ werden Kinder und Jugendliche aufgenommen, die straffällig geworden oder sozial gefährdet sind, aber auch Kinder, die durch das damals bestehende soziale System nicht aufgefangen werden. Nur Kinder, die freiwillig um die Aufnahme bitten, werden genommen. Das Ziel der Arbeit im Rettungshaus ist es, sie dazu zu befähigen, ihren Platz im Leben zu finden und auf eigenen Füßen zu stehen. Sie sollen in das Volk und die christliche Gemeinschaft integriert werden. Wichern möchte – ähnlich wie Pestalozzi –, dass die Kinder und Jugendlichen auf das harte Leben in der Armut vorbereitet werden (vgl. 1.5).

Durch die „Befreiung“ der Kinder aus der sozialen und seelischen Verwahrlosung soll ihnen ermöglicht werden, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und neu anzufangen. Das Kind wird zu seinem Schutz aus der verwahrlosten Umgebung entfernt und ins Rettungshaus aufgenommen. Der Empfang eines jeden Kindes ist ein Fest und wird mit großer Sorgfalt vorbereitet. Das Kind wird gebadet und bekommt neue Kleider. Danach werden alle, auch das Kind, dazu angehalten, über das Geschehene vor der Zeit im „Rauhen Haus“ zu schweigen. Diese Vorgabe soll die Grundlage für ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Erzieher und dem Kind bilden. Jedes neue Kind wird von Wichern mit den Worten begrüßt:

„Mein Kind, dir ist alles vergeben. Sieh um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen bist. Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel, nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier, du magst wollen oder nicht, du magst sie zerreißen, wenn du kannst, diese heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld. Das bieten wir dir, und was wir fordern, ist zugleich das, wozu wir dir verhelfen wollen, nämlich, dass du deinen Sinn änderst und fortan dankbare Liebe übest gegen Gott und den Menschen!“ (Wichern 1958, 108).

Diese Begrüßung und die anschließende „Reinigung des Kindes“, welche der „notwendigen gänzlichen Umkleidung“ vorausging, erinnern sowohl an ein Aufnahmeritual in einem Kloster als auch an ein christliches Taufritual und sind als Ausdruck der religiösen Zielsetzungen Wicherns zu verstehen, der sein Wiedergeburtserlebnis (Tod der alten und Geburt einer neuen Identität) mit seinen Zöglingen zu teilen hofft.

Die bedürftigen Kinder sollen durch Unterricht in Lesen und Schreiben und durch Gottesdienst und Gebet sowohl materiell als auch spirituell eine Zukunftsperspektive bekommen. Dabei kommt es Wichern darauf an, durch eine familiäre Atmosphäre ein Klima des Vertrauens zu schaffen. Erziehung beschränkt sich für Wichern nicht nur auf den schulischen Unterricht, wichtig sind auch das religiöse Leben, die Arbeitswelt und die familienähnliche Erziehungsgruppe. In der Schule soll neben musischen Neigungen der eigene Lernwille der Schüler geweckt werden. Von der Arbeit in seinen Anstalten verspricht er sich für seine Schützlinge nicht nur Berufserfahrung, sondern auch die Entwicklung sozialer Kompetenzen. Gebet und Arbeit sind die beiden Pole des gemeinsamen Lebens, Abwechslung in den Alltag bringen Spiele, Feste und Feiern. Das Erziehungsziel Wicherns sind freie, christliche Persönlichkeiten, die Frohsinn und christliche Zucht zu vereinen wissen und lebendige Glieder in Staat und Kirche sind (vgl. Wichern 1975, 329–541).

Das Leben der Jugendlichen und Kinder besteht aus Lernen, Arbeiten und Feiern. Damit sie in einer Atmosphäre der Vertrautheit und Geborgenheit aufwachsen können, wird in und durch die „Familie“ erzogen. Mehrere zusammengehörige Familien leben auf einem Gelände. Jede Familie hat ihre eigene Wohnung beziehungsweise ihr eigenes Haus. Die Familiengruppen bestehen aus maximal zwölf Kindern und werden von einem erwachsenen elterlichen und geschwisterlichen Freund, dem Erzieher, betreut. In einem solchen kleineren, leicht und vollständig übersehbaren Kinderkreis muss es nach Wichern, wenn auch mit dem Aufgebot aller Kräfte, möglich sein, jene individualisierende Liebespflege über alle im Haus befindlichen Kinder gleichmäßig auszubreiten und namentlich auch über ein neu aufgenommenes Kind jene geforderte unerlässlich feine, zarte Führung und Beaufsichtigung auszuführen. Die Kinder sollen das Arbeiten lernen und eine realistische Vorstellung von den Anforderungen der Arbeitswelt bekommen. Ihnen steht ein Angebot an überwiegend handwerklichen Berufsmöglichkeiten zur Auswahl: Schusterei, Tischlerei, Schneiderei, Drechslerei, Spinnerei, Glaserei, Malerei, Druckerei, Landwirtschaft. Sie stellen all das her, was zum Leben gebraucht wird. Die Erzieher sind auch die Ausbilder (vgl. Wichern 1958, 108).

Während der Zeit, in der die Kinder und Jugendlichen im Rettungshaus leben, halten die Erzieher weiterhin Kontakt zu deren Eltern, besuchen sie und bieten ihnen Hilfe und Beratung an. Es wird versucht, das Verhältnis zwischen den Eltern und den Kindern wieder zu ordnen. Die Rückkehr eines Kindes ins Elternhaus wird als optimale Lösung angesehen, was aber selten möglich ist. Durch die Vermittlung Wicherns haben die Jugendlichen beim Verlassen des Rettungshauses eine Lehrstelle oder stehen in einem anderweitigen Arbeitsverhältnis. Jedoch hört die Fürsorge für die jungen Menschen nach der Entlassung mit etwa 17 Jahren nicht auf. Die Kinder gehören ein Leben lang zu der Gemeinschaft des Rettungshauses, ähnlich wie bei einer „richtigen“ Familie. Durch Ehemaligentreffen und andere Feste werden Kontakte gepflegt (vgl. Wichern 1975, 329–541).

Wichern führt 1839 einen standardisierten Aufsichtsbericht als orientierendes Arbeitsinstrument ein, der 44 von den Erziehern auszufüllende Unterabschnitte umfasst. Jeder Unterabschnitt weist auf die Möglichkeit einer besonderen zu verhindernden Unordnung hin. Diese Daten sollen dazu genutzt werden, sowohl Auskunft über die spezifische Gruppenstruktur jeder einzelnen Familie beziehungsweise Arbeitsgruppe als auch über die individuellen Fort- und Rückschritte sämtlicher Zöglinge und Erzieher im Hinblick auf die Internalisierung bürgerlicher Normen und Werte zu geben.

Diese während der Woche erhobenen Daten werden zu einem Gegenstand der den Familien zur Pflicht gemachten sogenannten Wochengespräche. Hier findet ein pädagogischer Dialog statt. Es ist Ziel dieser Gespräche, sowohl nebensächlichste Begebenheiten und unscheinbarste Vergehen als auch verborgene Absichten und heimliche Begehren der Zöglinge in ein ungezwungenes pädagogisches Gespräch zu verwandeln und damit in die Verfügungs- und Definitionsgewalt des Erziehers zu bringen. Vor allem wird in den Wochengesprächen in „Erwägung des innern sittlichen Standes und Ganges der Familien“ unter Leitung des Familienvorstehers alles dasjenige, was diese zwölf unter sich erlebt haben, zur Sprache gebracht. Bleiben die Arbeitszeugnisse einzelner Familienmitglieder hinter den gestellten Anforderungen zurück, wird in den Familiengruppen ein über das erzwungene Konkurrenzverhältnis vermittelter Kontroll- und Disziplinierungsmechanismus wirksam. Wichern hofft, dass durch das Familienprinzip die gegenseitige Erziehung der Kinder gefördert wird, indem alles von allen und jeder von jedem beaufsichtigt wird (vgl. a. a. O.).

Wichern ist nicht bloß Schöpfer eines auch humaneren und freundlicheren Erziehungskonzeptes. Er ist auch ein Pionier im Hinblick auf die Erfindung von Techniken für eine subtilere Disziplinierung von Mitgliedern nachwachsender Generationen. Wichern lehnt Ketten ab, die von außen an die Kinder gelegt werden, und vertritt den Einsatz von „inwendigen Ketten“. Selbstdisziplinierung statt Schläge bei absoluter Beibehaltung der Ziele – das gehört mit zur Pädagogik Wicherns. Körperliche Strafe und Züchtigung sind nach Wichern erlaubt, allerdings nur bis zu einem gewissen Maße und unter sehr bestimmten Beschränkungen (vgl. a. a. O., 486–492).

(4) Innere Mission: 1848 ist das Jahr der Revolution. Im März kommt es in den deutschen Hauptstädten zu Barrikadenkämpfen, im Mai tritt in Frankfurt in der Paulskirche die Nationalversammlung zusammen. Im September versammelt sich in Wittenberg ein Kirchentag, der über die Bildung eines deutschen evangelischen Kirchenbundes berät. Wichern fordert, auch die Aufgabe der Inneren Mission zu bedenken, darunter versteht er die missionarische Tätigkeit innerhalb der Evangelischen Kirche im Unterschied zur Heidenmission. In einer Stegreifrede ruft er zur Einigung in der praktischen Liebe auf und beeindruckt den Kirchentag außerordentlich, nicht zuletzt durch seine Zuspitzung:

„Meine Freunde, es tut eines not, dass die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit anerkenne: ‚die Arbeit der innern Mission ist mein!‘, dass sie ein großes Siegel auf die Summe dieser Arbeit setze: die Liebe gehört mir wie der Glaube. Die rettende Liebe muss ihr das große Werkzeug, womit sie die Tatsache des Glaubens erweiset, werden. Diese Liebe muss in der Kirche als die helle Gottesfackel flammen, die kund macht, dass Christus eine Gestalt in seinem Volk gewonnen hat. Wie der ganze Christus im lebendigen Gottesworte sich offenbart, so muss er auch in den Gottestaten sich predigen, und die höchste, reinste, kirchlichste dieser Taten ist die rettende Liebe“ (Wichern 1962, 165).

Am nächsten Tag stellt er den Antrag, einen Ausschuss für die Innere Mission zu gründen, der eine Verbindung der unterschiedlichen Arbeitsfelder und Vereine erreichen soll. Wichern verfasst eine Denkschrift, worin er sein Verständnis der Inneren Mission beschreibt. Christliche Verkündigung und soziales Engagement stellen für ihn eine Einheit dar. Sein Ziel ist es, eine Welt, in der Christus nicht (mehr) im Zentrum steht, zu retten und deshalb zu missionieren. Es ist die Idee des Reiches Gottes, das er in Beziehung zum nationalen Leben sieht, die sein Handeln prägt. In allen Formen gesellschaftlichen Lebens soll sich das Reich Gottes verwirklichen. Dies unterscheidet Wichern von weiten Kreisen des Pietismus. In der Denkschrift beschreibt er die soziale Situation und Aufgabe der Inneren Mission. Er stellt das Priestertum aller Gläubigen in den Mittelpunkt und spricht sich in diesem Zusammenhang für die Freiheit der Vereine der Inneren Mission gegenüber dem kirchlichen Amt aus. Er skizziert die organisatorische Entwicklung auf unterschiedlichen lokalen Ebenen – Stadt, Kreis, Land usw. Wicherns Konzeptionen sind staatstragend, sie sollen helfen, ohne Revolution die dringlichen sozialen Notstände zu verändern. Sie sind politisch als konservativ einzuordnen, was auch bald von staatlicher Seite erkannt wird. Nach dem Prinzip der „rettenden Liebe“ werden die Hilfsmaßnahmen auf das ganze Volk, ungeachtet der Konfession oder Religion, ausgeweitet.

Mit der Inneren Mission soll das soziale Elend bekämpft werden: durch Diakonissenhäuser für Armen-, Krankenpflege und Kleinkinderschulen, durch Anstalten für alleinstehende Jünglinge und Mädchen (Jünglingsvereine, Mägdeherbergen, Herbergen zur Heimat, Marthastifte), durch die Gründung christlicher Bürgervereine und Vereine für die Hilfsbedürftigen, durch Magdalenenstifte gegen die Prostitution, durch Volksbibliotheken gegen die schädliche Lesesucht, durch Enthaltsamkeitsvereine gegen die Alkoholsucht, durch Arbeiterkolonien für Obdach- und Arbeitslose, durch Gefangenenbesuchsvereine, durch Wiederherstellung des Glaubens, durch Wiederbelebung des Laienprinzips, durch Bibelverbreitung, durch kirchliche Besuchsvereine, durch Wiederherstellung intakter Familienstrukturen, durch innere Kolonisation, durch „sittliche“ Wiedergeburt des Menschen, durch die Schaffung eines inneren Ausgleichs zwischen den Ständen und anderes mehr (vgl. Wichern 1973).

Das soziale Elend wird dabei auf die Entchristlichung der Gesellschaft zurückgeführt, die moralische Maßstäbe außer Kraft setzt. Deshalb setzt man besonders an, für die Menschen ein Gesamtlebensgefüge herzustellen, innerhalb dessen sie wieder „heil werden“ könnten. Grundprinzip ist hierbei die „rettende Liebe“. Die Innere Mission erstrebt neben der Linderung der äußeren Not zugleich die Befestigung oder Wiedererweckung des christlichen und kirchlichen Sinnes in den gefährdeten oder bereits entfremdeten Gliedern der kirchlichen Gemeinden (vgl. Wichern 1965).

(5) Verhältnis zur bestehenden Gesellschaftsordnung und zum Staat: Die gesellschaftliche Strukturkrise des 19. Jahrhunderts ist für Wichern die Krankheit eines naturwüchsigen Organismus, die es zu heilen gilt. Vielfach berührt sich die Innere Mission mit allgemeinen staatlichen Interessen, vorzüglich auf dem Gebiet der Armenpflege (z. B. Arbeiterkolonien und Verpflegungsstationen für Landstreicher) (vgl. Wichern 1968, 21–70) und des Gefängniswesens (vgl. Wichern 1973). In Personalunion ist Wichern als vortragender Rat im Ministerium des Innern dem Staat und als Oberkirchenrat zugleich der evangelischen Kirche verpflichtet. Diese berufliche Doppelrolle charakterisiert sein persönliches Verhältnis zu Staat und Kirche und auch seine Auffassung über das Verhältnis von Staat und Kirche treffend. Die gesellschaftliche und die kirchliche Ordnung – und auch ihr Zusammenspiel – ist für ihn an sich gut und nicht infrage zu stellen. Die politische Gestaltung der Gesellschaft ist für Wichern Aufgabe der Obrigkeit, und als Obrigkeit anerkennt er allein die Regierung des Monarchen. Die sozialen Zustände, die überhand genommen haben, verlangen zusätzliche Aktivitäten, um dessen wieder Herr zu werden und das „Übel“ zu beseitigen, letztlich gemeinsam von Staat und Kirche. Nur eine gemeinsame Soziale Arbeit von Politik und Kirche ist für Wichern der Garant dafür, dass die Kirche nicht mit dem Staat untergehen wird.

Wichern bekämpft vehement den Kommunismus und auch alle anderen revolutionären Bewegungen, die den Staat und seine Gesellschaftsordnung – und auch die Kirche – angreifen und verändern wollen, als eine Verkörperung des Satans (vgl. Wichern 1962, 129–151). Sein geistiger Hintergrund ist eindeutig eine Theologie der Ordnung.

Von der ersten Anstellung nach dem Studium an bemüht sich Wichern um Kontakte zu wohlhabenden Familien der Hamburger Oberschicht. Mit deren Hilfe gelingt ihm die Gründung des „Rauhen Hauses“. Von Anfang an liegt es in seinem Interesse, diese Einrichtung möglichst unabhängig von staatlichen Einflüssen, also von Zuschüssen, zu wissen. Umso stärker, so erklärt Wichern, könne es ihm gelingen, die eigene Überzeugung geltend zu machen.

Wichern erweitert 1839 das „Rauhe Haus“ um das „Brüderhaus“ als Ausbildungsstätte für den Evangelischen Verein der „Inneren Mission“. Damit gründet er zugleich die erste und eine bis heute bestehende sozialpädagogische Ausbildungsstätte in Deutschland und macht auch die Ausbildung seiner MitarbeiterInnen (Diakone, Diakonissen) unabhängig vom Einfluss des Staates (vgl. Wichern 1958; 1959).

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