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7.1 Historischer Kontext

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Wichern nimmt die soziale, wirtschaftliche und politische Umbruchssituation seiner Zeit, des 19. Jahrhunderts, aufmerksam wahr. In diesem Jahrhundert der Restauration und der Reformen ist die Bevölkerung in Europa zahlreichen Kriegen (z. B. Napoleons Feldzüge, Befreiungskriege, nationale Erhebungen, Bauernaufstände, Revolutionen, Deutsch-Französischer Krieg, Deutsch-Dänische Kriege u. a.) und deren brutaler Zerstörungsmaschinerie ausgesetzt. Die beginnende Industrialisierung hat darüber hinaus tief greifende Auswirkungen auf viele Bevölkerungsschichten; sie gefährdet durch neue Manufakturen und die ersten Industriebetriebe das Handwerk. Maschinen ersetzen Menschen, Menschen müssen effektiver als bisher arbeiten. Oft genügt auch das nicht, und Frauen und Kinder arbeiten mit, um das Nötigste zum Überleben zu haben. Durch die Bauernbefreiung kommt es zu Umwälzungen in der Landwirtschaft. Viele Landarbeiter suchen nach neuen Arbeitsstellen in den immer größer werdenden Städten. Auch die Handwerker sind von Arbeitslosigkeit durch die große Konkurrenz von Fabriken und Manufakturen bedroht. In den Städten kommt es zu einem Überangebot an Arbeitskräften und dadurch zu sinkenden Löhnen. Es entwickelt sich ein verarmtes Stadtproletariat. Die Arbeiter sind deklassiert und politisch sowie gesellschaftlich weitgehend rechtlos. Sie haben kaum soziale Absicherungen, und nur wenige Gesetze dienen den Arbeitern zum Schutz ihrer Gesundheit und ihres Lebens. Die traditionellen Strukturen der Großfamilie, also das Leben aller Generationen (auch der Knechte, Mägde und Tagelöhner) unter einem Dach, zerbrechen. Die Bevölkerung wächst zudem noch sprunghaft an, was die wirtschaftlichen und sozialen Probleme verstärkt.

Das Familienleben ist nicht intakt, die Menschen haben keine geregelte Arbeit, es fehlt an allgemeiner Bildung, die religiösen und kirchlichen Bindungen sind gerade bei den Armen zerbrochen. Not und Armut beherrschen vor allem die soziale Unterschicht. Wohnungsknappheit und schlechte Wohnverhältnisse, bei denen mehr als zehn Personen in einem Raum wohnen, sind in den Großstädten keine Seltenheit. Die Kinder fliehen aus der Enge auf die Straße. Es kommt zum Straßenkinderdasein mit den Begleiterscheinungen von Alkoholismus, Bettelei und Kleinkriminalität. Aus Not werden viele kriminell. Aus diesem Grund sitzen 1833 in Hamburg 250 Kinder im Gefängnis.

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gibt es soziales Engagement für Arme und Verlassene ohne unmittelbare Motivation aus dem christlichen Glauben. Die Notwendigkeit vermehrter kirchlicher Fürsorge für die Armen und Verkommenen drängt sich aber in Deutschland den von der protestantischen Erweckungsbewegung erfassten Kreisen auf, die sich nach den Befreiungskriegen in größeren Städten und gewerbereichen Gegenden einer verarmten und gleichzeitig der Kirche entfremdeten Bevölkerung gegenübergestellt finden. Anregende Vorbilder gibt es in England und Schottland. Die Gründung von Rettungshäusern für die verwahrloste Jugend 1813 durch Johannes Daniel Falk in Weimar und 1816 durch Adalbert von der Recke-Volmerstein in Overdyk und Düsselthal sowie die Stiftung der Bildungsanstalt für Armenschullehrer 1820 auf Schloss Beuggen bei Basel sind die ersten bemerkenswerten Schritte auf diesem Weg im deutschsprachigen Raum.

Als Wichern geboren wird, ist Horn ein Dorf mit 600 Einwohnern, sechs Kilometer vor den Toren Hamburgs, das damals etwa 100.000 Einwohner hat. Der Senatssyndikus der Freien Hansestadt Hamburg, Karl Sieveking, besitzt hier ein Flurstück, zu dem auch eine Bauernkate gehört, die von alters her „Rauhes Haus“ genannt wird.

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