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HANSLICK VERSUS VERDI

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Dieser in der Musikliteratur unvermeidlich als „Kritikerpapst“ bezeichnete und mit dem Epitheton „gefürchtet“{36} (zweifellos ein Hinweis auf seine in vieler Hinsicht unbestreitbare Kompetenz und Autorität) ausgestattete Kritiker schrieb vehement gegen Verdis Werke an, wobei er auch dessen Anfänge, die er nur vom Hörensagen kannte, aufs Korn nahm:

Als die ersten Klänge von Verdi in Deutschland ertönten, hätte Niemand geglaubt, daß dieser Name binnen Kurzem den obersten Machthaber der italienischen Opernbühne, ja einen Mitbeherrscher der deutschen bezeichnen würde. [...]

Verdi begann seine Carrière mit der im Jahre 1839 an der Scala in Mailand aufgeführten Oper Oberto, Conte di San Bonifazio, eine geradezu schülerhafte Composition, die von Bellini’schen Reminiszenzen wimmelte, aber einige Züge dramatischen Talents aufwies. Ein Mailänder Bericht über diese erste Aufführung huldigte im Tone prophetischen Entzückens dem „neuen Genie“. Die Entscheidungsgründe klangen uns ebenso unbegreiflich, wie das Urtheil selbst. „Verdi“, so schreibt der Correspondent, „hat den rechten Weg eingeschlagen, den Weg der Rührung, der reineren Gefühle. So wie Bellini meidet auch Verdi jedes ohrenbetäubende Geräusch. So haben Wenige begonnen! Das Fortschreiten hängt nur von ihm ab.“ Der nächste Schritt war freilich ein Rückschritt: die nach einem französischen Vaudeville bearbeitete Oper Un giorno de [sic] regno, die bei ihrer ersten und zugleich letzten Vorstellung in der Scala (1840) durchfiel. Unbeirrt durch diese Schlappe nahm Verdi sofort dem Poeten Solera das Textbuch der heroischen Oper Nabucco ab, welches Otto Nicolai (unser damals italienisch componirender Landsmann) refüsiert hatte. Dieser Nabucco erregte in der Scala, 1842, unendliches Furore und hat Verdi’s Ruf fest begründet.{37}

Bei der Lektüre dieser und der folgenden gegen Verdi gerichteten Ergüsse Hanslicks muss beachtet werden, dass es sich dabei nicht um zeitgenössische Rezensionen eines Anfängers (Hanslick war 1840 gerade fünfzehn Jahre alt) handelt, mit einem legitimen Anspruch auf Irrtum beim Einschätzen erstmalig gehörter Neuheiten, sondern um die 1875 veröffentlichte Meinung eines musikalisch hochgebildeten fünfzigjährigen Kritikers, der aufgrund seiner Erfahrung überholte Sichtweisen unschwer hätte richtigstellen können. Die Umstände, unter denen Verdi Un giorno di regno aus vertragstreuem Pflichtbewusstsein komponiert hatte{38}, mussten Hanslick ebenso bekannt sein wie die Tatsache, dass Verdi die Komposition des Nabucco weder freiwillig noch begeistert in Angriff genommen hatte.

Am 4. April 1843 war es, daß in Wien die erste Oper des damals noch unbekannten Componisten, „Nabucco“, von italienischen Sängern gegeben wurde. Der junge Maestro dirigirte selbst, Ronconi sang die Titelrolle. Die Oper machte sehr geringe Wirkung. Nur die Italianissimi im Publicum wagten es, ihr Wohlgefallen zu bekennen; die Kritik brandmarkte die Geistlosigkeit und Trivialität dieser Musik und protestirte damals noch gegen den entferntesten Vergleich Verdi’s mit Donizetti. In Italien hingegen ist Verdi gleich bei seinem ersten Auftreten als eine epochemachende Erscheinung enthusiastisch begrüßt worden, und insofern mit richtigem Instinct, als seine Musik sich seither auf allen europäischen Bühnen durchgesetzt hat und seit fünf und zwanzig Jahren das italienische Repertoire ohne Rivalen beherrscht. [...]

Herr Temistocle Solera verdient für sein Libretto einen Kranz von Stechpalmen anstatt des Lorbeers. Er entstellt den biblischen Stoff mit großer Ungenirtheit; überdies entbehren seine willkürlichen Erfindungen aller inneren Wahrheit und Poesie. Neben den gewöhnlichen, hier zur Ungeheuerlichkeit gewachsenen Mängeln der italienischen Oper mußte an dieser Musik noch der Mangel eines fließenden melodiösen Gesangs auffallen. Ein Wiener Kritiker wendete auf Verdi’s Oper das Witzwort Shakespeare’s an: „In was ist sie gut, als in gar nichts? und in was ist sie schlecht, als in Allem?“ Kurz, den Deutschen war die Kost nicht genießbar, noch weniger wurde es ihnen leicht, im Nabucco die Elemente jenes angeblich neuen und originellen Styls herauszufinden, den die Italiener sofort daran priesen. Wir Deutschen bemerkten kaum einen wesentlichen Unterschied zwischen den Opern Verdi’s und den gleichzeitigen eines Mercadante, Pacini, Donizetti, höchstens ein derberes Dreinfahren mit kecker Rhythmik und Instrumentirung. Die Italiener, welche, mit feineren Unterschieden ihrer eigenen Musik natürlich genauer vertraut, in zwei einem deutschen Ohr kaum unterscheidbaren Opern verschiedene Stilrichtungen nachweisen (- gerade wie die Neger sich untereinander sehr unähnlich vorkommen, während sie für den Europäer alle Ein Gesicht haben -), die Italiener bewiesen an den ersten Versuchen Verdi’s jedenfalls die schärfere Spürnase.{39}

Zur Zeit der Wiener Nabucco-Erstaufführung 1843 lebte der achtzehnjährige zukünftige Kritiker noch in Prag und war gerade im Begriff, seine Musikstudien aufzunehmen. Er erlebte die Übernahme dieser Oper (in der Übersetzung von Heinrich Proch) in das deutsche Repertoire des Kärntnertortheaters erst 1848. Die mit seinem Davidsbündlernamen „Renatus“ gezeichnete Rezension des Dreiundzwanzigjährigen, sofern man von einer solchen sprechen kann, gibt einen Vorgeschmack auf das, was später folgen sollte:

Eine größtentheils sehr gelungene Vorstellung war die des Verdischen „Nabukodonosor“, welcher am 22sten d.M. zum ersten Mahle in Deutscher Sprache über die Bretter des Hofoperntheaters ging. Da die Oper von den Italienischen Vorstellungen her bekannt, und die Kritik über den Werth der Musik, und ihre Zweckmäßigkeiten zu Wachtparaden vollkommen im Reinen ist, so erübrigt sich dießmahl nur der factische Theil eines Berichtes. Die tüchtigsten Leistungen des Abends waren die der Fr. v. Hasselt = Barth und des Hrn. Draxler. Erstere exzellirte als Abigail durch die außerordentliche Volubilität ihrer Stimme, Letzterer (Zacharias) durch den kräftig würdevollen Vortrag der Cantilenen. Hr. Leithner hatte gelungene Momente; um die ganze Rolle wirksam durchzuführen, fehlt es seiner Stimme, besonders in der Höhe, an Fülle und Kraft. [...] Die Ausstattung war hübsch, Chöre und Orchester tadellos.“{40}

Im Revolutionsjahr 1848 wurde Nabucco sechs Mal gespielt, am 13. und 15. Februar 1849 folgten noch zwei Vorstellungen. Über diese Oper und den in Wien ungemein beliebten Ernani geiferte Hanslick in seiner Kritik in einem Tonfall, der seine empörte Haltung dem verhassten Verdi gegenüber unmissverständlich darlegt:

Daß schlechte Musik ausnahmsweise auch eine schlechte Spekulation sein könne, bewiesen die großen Opern „Nabucco“ und „Ernani“, welche die vorige Direction mit unglaublichem Eifer nach einander aufführte. Diese zwei Verdi’schen Opern, das Geschmack= und Sinnloseste, was die neuere Opern-Literatur hervorgebracht hat, wurden mit den vorzüglichsten Kräften besetzt, mit der größten Sorgfalt einstudiert; zum Ernani allein sollen dreißig Proben gemacht worden sein! Ueberall, wo bedeutende Kraftanstrengungen muthwillig und nutzlos verschwendet werden, regt sich in uns ein tiefer sittlicher Unwille, umsomehr muß dieß der Fall sein, wenn eine sogenannte Kunstanstalt Geld und Zeit verschwendet, und ihre Mitglieder zu den äußersten physischen Anstrengungen zwingt, um das Werk eines geistlosen Charlatans möglichst glänzend vorzuführen. [...] Man soll auch das Verwerfliche kennen lernen, das Epoche macht. [...] Man hat also zur Langweile des Publikums, zum Aergerniß der Musikfreunde, mit größtem Zeit=, Geld= und Kraftaufwand zwei miserable Opern gegeben, um materiellen Verlust zu erleiden. [...] Die Entschuldigung, daß der Mangel an besseren Opern zu V e r d i nöthigte, ist ganz haltlos; richtiger könnte man von dem Mangel an schlechteren Opern sprechen. [...] Jede Oper von Marschner, Reissiger, Lindpaintner, Lachner, Wagner, Lortzing, Dessauer, Hoven{41}, Esser, die man statt des Verdi einstudirt hätte, wäre ein Hochgewinn gewesen.{42}

Die Erwähnung dieser Komponistennamen – so manche von ihnen Größen, deren Werke nicht überleben konnten – hat den Betroffenen nicht gedient, die Erwähnung Wagners in diesem Zusammenhang mutet aus heutiger Sicht kurios an.

Die mit Schaum vor dem Mund vorgetragene Aburteilung Verdis durch Hanslick spiegelt die politische Situation der Zeit wider. Die Italiener hatten es gewagt, mit den am 18. März 1848 in Mailand beginnenden „Cinque giornate“, einem fünf Tage währenden Aufstand, gegen die österreichischen Besatzer unter dem greisen Feldmarschall Radetzky aufzumucken. Auch wenn die verhaßten Besatzer dadurch nur vorübergehend vertrieben werden konnten, wurde als Reaktion auf das Unerhörte ab sofort alles Italienische in Wien verabscheut.

Der gewaltige Sturm der Märzerhebung fand fast augenblicklich sein nachzitterndes Echo in dem Kunstleben Wiens. Das erste Lebenszeichen des neuen politischen Umschwungs, das auf künstlerischem Gebiete sich kundgab, war destruktiver Natur: die Verjagung der italienischen Oper. Am 1. April 1848 sollte die italienische Saison unter der Direktion des Signor [Carlo] Ballochino mit Verdis „Ernani“ eröffnet werden. Kaum aufgeklebt, waren aber auch schon alle Ernani=Zettel zerkratzt, besudelt, herabgerissen.{43}

Die Stagione wurde zuerst verschoben, dann mußte der Impresario am 16. April 1848 nach anonymen Drohungen zurücktreten.

Die italienischen Sänger zerstoben nach allen Richtungen. Der Demonstration gegen die italienischen Sänger lagen die zwei mächtigsten Strömungen jener Tage zugrunde: die nationale und die demokratische.{44}

Diese Strömungen wollten durch Stellungnahmen wie jener Hanslicks journalistisch bedient werden, denn:

Der ersteren war man sich vollkommen bewußt und betonte sie ungescheut: man wollte deutsches Wesen, deutsche Politik, deutsche Kunst. Fort mit den Erbfeinden des Deutschtums, fort mit den Welschen!{45}

Dass die „Erbfeinde des Deutschtums“, die „Welschen“, mit nur kurzer Unterbrechung unter österreichischer Herrschaft standen, kümmerte Hanslick wenig. Er erblickte in der italienischen Musik den „künstlerische[n] Ausdruck deutschfeindlichen und spezifisch aristokratischen Vergnügens“, obwohl sich dies mit den Arbeiten eines „geistlosen Charlatans“ wohl nur schwer in Einklang bringen ließ. Als es nach 1848 zu mehrjähriger „ununterbrochener Alleinherrschaft deutscher Opernvorstellungen“ gekommen war, erweckte die Sopranistin Adelina Patti, die Hanslick in seltener Übereinstimmung mit Verdi „als die erste lebende Gesangskünstlerin, als ein musikalisches Genie“{46} bezeichnete, bei den Wienern die Vorliebe für italienische Opern zu neuem Leben.


Adelina Patti (1843-1919), Verdis Lieblingssopranistin

Als Folge der von ihr ausgelösten Begeisterung kam es in den Jahren 1864-67 zu Gastspielen der früheren Mezzosopranistin und nunmehrigen Sopranistin Desirée Artôt, des Tenors Enrico Calzolari, des Baritons Camillo Everardi und des Baßbuffo Giovanni Zucchini mit italienischen Opern. Hanslick, der bis 1848 „diese Vorstellungen mit ihrem ewigen Einerlei nur widerwillig und in dringendsten Fällen“{47} besucht hatte, war begeistert:

Mit Entzücken gedenke ich dieser Vorstellungen von „Cenerentola“, „Matrimonio segreto“, „Barbiere“, „Italiana in Algeri“, „Elisir d’amore“ und „Don Pasquale“. Ich werde nie wieder dergleichen hören. Dieses ganze köstliche Repertoire ist mit der dazu gehörigen Gesangskunst von dem Moloch des „Musikdramas“ verschlungen worden.{48}

Wie zu sehen sein wird, reichte das ostentative Deutschtum des stets ambivalenten und sich selbst widersprechenden Eduard Hanslick aber nicht aus, um ein glühender Anhänger des Vorzeige-Deutschtümlers Wagner zu werden und zu bleiben.

Auch als Hanslick 1862 in London berühmte Sänger des italienischen Faches zu hören Gelegenheit hatte, konnte er sich vor Begeisterung kaum fassen:

In der italienischen Oper erlebte ich manchen genußreichen Abend. Da hörte ich Gesangskünstler, wie sie heute nirgends mehr existieren.{49}

Da hörte er im Londoner Royal Italian Opera House, Covent Garden, Größen wie die Sopranistinnen Lind, Patti und Miolan-Carvalho, die Tenöre Mario und Tamberlick{50} und den Bariton Faure, am Her Majesty’s Theatre die Sopranistin Tietjens und den Bariton Santley. Die große Jenny Lind hatte ihm wie zur Bestätigung eines (inexistenten) versunkenen Goldenen Zeitalters persönlich bestätigt: „Die jetzigen Sängerinnen haben alle mit dreißig Jahren keine Stimme mehr; sie haben zu wenig studiert und schreien zuviel.“{51} Zu derlei Urteilen war sie nicht nur durch ihr überragendes Können, sondern auch durch die höheren Weihen legitimiert, die sie vom bedeutendsten aller Gesangslehrer höchstselbst empfangen hatte: „In dem Studirzimmer Garcias{52} hing ein einziges Bild. Es war eine Lithographie von Jenny Lind. Sie hatte ihrem Meister einige Worte dankender Anerkennung darunter geschrieben.“{53}

Gegen Ende des Jahrhunderts hatten sich die in Wien hingenommenen sängerischen Unsitten bereits weit ausgebreitet:

Man kann, ohne befürchten zu müssen, eines Irrthums geziehen zu werden, das Pariser Conservatorium als die erste Musik=Anstalt der Welt bezeichnen.

[...] Das modern gewordene Schreien und Forciren hat die Rheingrenzen bereits überschritten und ist bis in die Räume des Pariser Conservatoriums gedrungen. Der elegante Gesang, die feine, geistreiche Declamation, welche den Franzosen allein eigen war, fängt oft an, durch grobe Effecte ersetzt zu werden.{54}

Trotz seines zeitgemäßen, dem Deutschtum verbundenen Opportunismus konnte der rabiate vierundzwanzigjährige Hanslick den Musikgeschmack der Wiener nicht beeinflussen. Während der Nabucco aus ungeklärter Ursache aus dem Repertoire verschwand und in Wien erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder gespielt wurde{55}, blieb der Ernani ein Lieblingsstück des Wiener Publikums.

Eduard Hanslick über Giuseppe Verdis Opern

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