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Zwischenspiel Aurelia

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Zeit: Gegenwart minus drei Jahre

Koordinate: Riva – Shan’hor


Die große Galeone stampfte förmlich durch die aufgewühlte See

während der Sturmwind heftig die Segel blähte und so mächtig

an den Vertäuungen zerrte, dass die Masten bedrohlich knarrten.

Immer wieder krängte das überladene Schiff gefährlich zur Seite,

wobei es Gefahr lief, zu kentern.

»Refft die Segel, wenn euch euer Leben lieb ist«, brüllte die

Stimme des ersten Offiziers über den Sturm hinweg. Der in einer

roten Uniform gekleidete Mann wandte seinen kantigen Kopf

und blickte kurz zum Steuermann. Zu zweit versuchten sie das

große Steuerrad zu bändigen, um den Bug der Galeone auf die anrollenden

Wellenberge zu richten. Unterdessen kämpften sich die

Matrosen in den Wanten nach oben. Verzweifelt versuchten sie, in

den kleinen Momenten in denen der Sturm innehielt, die Segel

zu bergen, bevor er mit neuer Kraft in seinem Wüten fortfuhr.

Eine unerwartet heftige Böe erwischte einen von ihnen als er auf

durchnässtem Tauwerk ausrutschte. Bevor seine rudernden Arme

neuen Halt fanden, stürzte er mit einem unhörbaren Schrei in die

Tiefe und verschwand kopfüber in der tosenden See und tauchte

nicht mehr auf.

Valderan de’Soto, seines Zeichens erster Offizier der Heiligen Kuh,

biss die Zähne zusammen und fluchte still in sich hinein. Sein

hartes Gesicht mit den stechend blauen Augen verzog keine Miene.

Verluste an Menschenleben kalkulierte ein adeliger Offizier

der Tempelsekte kühl mit ein. Die einfachen Matrosen waren für

ihn nur simple Schachfiguren, einfach Bauern ohne großen Wert.

Nützlich nur, wenn man sie für die Zwecke des Tempels einsetzen

konnte, doch ansonsten ohne Bedeutung.

Jetzt jedoch wurde jeder Mann gebraucht, um die Galeone unter

Kontrolle zu bekommen, daher galt es, verflucht sei Neptun,

auf das Leben der Besatzung Rücksicht zu nehmen. Heftig trieb

Valderan de’Soto die Männer an und endlich gelang es, die Segel

soweit zu reffen, dass die Gefahr des Kenterns gebannt war. Ihm

schien, dass die Gewalt des Sturms abflaute und das Schlimmste

wohl überstanden war. Mit Geschick, Glück und Neptuns Hilfe

würden sie diesen unerwarteten Orkan hinter sich lassen und den

sicheren Hafen erreichen.

Ein Knarren zeigte ihm, dass sich die Tür der Kapitänsmesse

öffnete und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Gestalt des Kapitäns,

der sich mühsam gegen den immer noch heftigen Wind den

Aufgang zum Vordeck hoch kämpfte. Mürrisch grüßte de’Soto die

vermummte Schiffsführerin und schluckte seinen tief sitzenden

Groll hinunter, denn eigentlich hatte er sich das Kommando über

die Heilige Kuh erhofft. Doch im letzten Moment hatte sich Fürst

Ramoris höchstpersönlich für seine Ex-Gemahlin Aurelia von Lethos

entschieden.

Sie sollte die Galeone als Kapitän befehligen, so lautete sein Befehl

und gegen die ausdrückliche Order des Tempelobersten wagte

de’Soto nicht aufzubegehren. Seit drei Jahren segelten sie nunmehr

zusammen mit der Heiligen Kuh auf den Ozeanen vieler Welten

und mithilfe seiner Magie, auch durch das unendliche Sternenmeer.

So schwer es ihm fiel, dies einzugestehen, sie machte ihre Sache

verdammt gut und wäre sie der Sternenstaubmagie mächtig, die

für Fahrten im Sternenmeer unerlässlich war, würde er sich niemals

Hoffnung auf die Kapitänswürde machen können.

»Wie sieht es aus, de’Soto. Lässt der Sturm langsam nach?«,

erkundigte sich Aurelia mit ihrer dunklen rauchigen Stimme.

»Aye, Käpt’n, der Sturm legt sich allmählich. Wir konnten die

Segel gerade noch rechtzeitig einholen. Leider ging dabei ein Matrose

über Bord und konnte nicht mehr gerettet werden.«

De’Soto schaute sie mit gemischten Gefühlen an. Als Mann

kam er nicht umhin, ihre Erscheinung zu bewundern. Sie war eine

prachtvolle Frau, kein Wunder, das Fürst Ramoris sie zur Gemahlin

genommen hatte, auch wenn es sicherlich politische Gründe

für diese Verbindung gab. Aurelia von Lethos entstammte einer

alteingesessenen Adelsfamilie, die über weitreichende wichtige

Verbindungen auf Thetis sowie zu anderen Welten verfügte. Dank

dieses engen Beziehungsgeflechts übte sie erheblichen politischen

Einfluss aus.

Sie war groß für eine Frau, beinah sechs Fuß und damit fast so

groß wie er. Es brachte ihre schlanke Figur vollendet zur Geltung.

Aufregend lange Beine, eine schmale Taille sowie ein nicht zu kleiner

Busen betonten ihre Weiblichkeit ohne dabei aufdringlich zu

wirken. Auf dem schlanken Hals befand sich ein Kopf mit wahrhaft

aristokratischen Zügen, der ihr gleichmäßig fein gegliedertes

Aussehen unterstrich und damit die edle Abstammung, der sie sich

rühmen konnte.

Ihr von vollen roten Lippen eingerahmter Mund offenbarte eine

Doppelreihe perlweißer Zähne, die nicht den Hauch einer Abnutzung

oder Verfärbung zeigten. Das kam in Kreisen des Adels seltener

vor, weil die Angehörigen dieser Klasse gewissen Genüssen

übermäßig zugeneigt waren. De’Soto war sich sicher, dass sie für

ihr makelloses Aussehen bestimmte wenn auch teure Schönheitszauber

benutzte. Darüber erblickte er die vollkommenste Nase,

die er je bei einer Frau gesehen hatte. Sie passte einfach perfekt

in dieses Gesicht. Kühn und edel geformt, nicht zu groß oder

zu breit, verlieh sie ihr das gewisse Etwas. Ihre Miene trug einen

kraftvollen Ausdruck, der noch durch ein Paar grüner Augen verstärkt

wurde, die allerdings für seinen Geschmack eine Winzigkeit

zu weit auseinander standen.

Ein diesen Augen innewohnender Schimmer zog unweigerlich

jeden in den Bann, der zu lange hineinschaute und sich in ihnen

verlor. Obwohl ein solcher Austausch tiefer Blicke bei ihr zu den

eher seltenen Vorkommnissen zählte, wie er ihrer Akte entnommen

hatte. Denn im Umgang mit Menschen verhielt sich die schöne

Frau eher scheu und zurückhaltend. Sie nahm sich in den ganzen

Jahren der Suche nach ihrer Tochter keinen festen Gefährten und

nur gelegentlich durfte ein Liebhaber ihr Lager teilen. Doch leider,

Neptun sei es geklagt, gehörte er nicht zu den Auserwählten, dem

diese Ehre und Lustbarkeit zuteil geworden war.

Überhaupt, fiel ihm nach kurzer Überlegung ein, erhielt nie

ein Angehöriger des Tempels je ihre Gunst. Abgesehen von ihrem

Ex-Mann Fürst Ramoris, doch dies war eher der Familienpolitik

geschuldet als wahrer Liebe. Am auffälligsten war jedoch ihr

kupferfarbenes Haar, das in einer fülligen lockigen Mähne über

den halben Rücken fiel und im immer noch heftigen Wind wie

ein Banner wehte. Über der Kapitänsuniform trug sie einen regenfesten

grauen Umhang aus weichem Leder, der bis hinab zu den

Knöcheln reichte und die langen Stiefel aus Brontushaut verdeckte.

De’Soto hatte nie ganz verstanden, warum sich der Fürst von dieser

Frau getrennt hatte. Zwar besagten Gerüchte, dass es mit dem

Verschwinden ihrer gemeinsamen Tochter Mylinda zusammenhing,

die vor vielen Jahren entführt worden war. Allerdings konnte es

das nicht allein gewesen sein. Er schüttelte den Kopf und machte

sich frei von diesen Gedanken, denn er musste der Schiffsführerin

seine ganze Aufmerksamkeit widmen. Eines der Dinge, die

sie absolut nicht vertrug, war Unaufmerksamkeit gegenüber dem

Gesprächspartner. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um den

Vorgesetzten handelte.

Aurelia musterte ihren ersten Offizier scharf. Sie wusste um die

menschliche Rücksichtslosigkeit in den Reihen des Tempels, vor

allem bei den ranghöheren Offizieren. Daran war letztendlich auch

ihre Ehe gescheitert, da ihr Ex-Mann dieselbe Geisteshaltung offenbarte.

Diese war bei fast allen Angehörigen der Führungselite

der Priesterschaft anzutreffen. Auch, dass de’Soto Ambitionen auf

die Insignien des Kapitäns verspürte, war ihr nicht verborgen geblieben.

Doch bis jetzt hatte sie keinen Anlass gefunden, ihn seines

Postens zu entbinden und es war sicher auch nicht ratsam, sich

seiner zu entledigen.

Denn der Arm des Tempelgeheimdienstes reichte weit, sehr

weit, daher musste sie noch gute Miene zum finsteren Spiel der

Priester machen. De’Soto war ein gut ausgebildeter Geheimdienstoffizier

der Sekte und ihr sicher mit Bedacht und im Auftrag ihres

Ex-Mannes zugeteilt worden. Es war ihm einfach nicht beizukommen.

Außerdem erledigte er seine Arbeit pflichtgetreu und zuverlässig,

auch wenn ihr klar war, dass er als Aufpasser und Wächter

im Auftrag ihres Ex-Mannes fungierte. Zudem brauchte sie seine

magischen Fähigkeiten für die Fahrten im Sternenmeer. Den dafür

notwendigen Sternenstaub lieferte der Tempel während de’Soto

seine speziell dafür ausgebildete Magie beisteuerte, ohne die Sternenfahrten

nicht möglich waren. Sie hätte längst selbst diese Ausbildung

gemacht, doch unter fadenscheinigen Vorwänden war ihr

dies stets verwehrt worden.

Sie vermutete nicht zu unrecht, dass dies der offizielle Anlass

war, ihr einen zuverlässigen Aufpasser des Tempelgeheimdienstes

an die Seite zu stellen. Und so hatten sie in mehreren Jahren einige

Fahrten zusammen gemacht und dabei wertvolle Fracht zu den

geheimen Schatzdepots des Tempels befördert.

»Das ist bedauerlich, es tut mir um jeden Mann leid, den sich

die See holt. Neptun möge seiner Seele gnädig sein, auch wenn es

sich nur um einen einfachen Matrosen handelt, der sicherlich ein

loyaler Anhänger des Tempels war. Sorgen sie dafür, dass seine Angehörigen

benachrichtigt werden, de’Soto und dass seine Familie

die offene Heuer sowie die ihm zustehende Entschädigung erhält,

die der Tempel großzügigerweise für die Hinterbliebenen zahlt.«

Ehrliches Mitgefühl war der Stimme Aurelias zu entnehmen.

›Sie ist einfach zu weich‹, dachte de’Soto verächtlich und sagte

laut: »Wird erledigt, Käpt’n. Ich werde dem Zahlmeister entsprechende

Anweisung geben und er wird im nächsten Hafen das Erforderliche

veranlassen. Die dortige Niederlassung des Tempels

wird über das Netz die Nachricht an die Zentrale zur weiteren Erledigung

weiterleiten.«

»Gut, dann wäre das geklärt. Lasst unverzüglich alle Schäden,

die der Sturm angerichtet hat, feststellen und soweit als möglich

beheben. Meldet mir anschließend Vollzug, de’Soto. Wenn das

Schiff wieder seetüchtig genug ist, nehmen wir mit ganzer Takelage

und mit Vollzeug Kurs auf Shan’hor, um den Hafen noch rechtzeitig

zu erreichen. Jedoch erst, wenn die Schäden an der Takelung

behoben sind. Der dortige Agent hat wertvolle Fracht für mich

und wartet ungeduldig auf mein Erscheinen. Wir sollten ihn nicht

zu lange warten lassen.« De ’Soto nickte zustimmend, denn er

wusste, auch ohne die Andeutung des Kapitäns, von der kostbaren

Ware, die sie erwartete. Im Anschluss ging es noch nach Ladimara,

wo sie weitere Handelsgüter entladen würden, die sie zur Tarnung

ihres eigentlichen Tuns mit sich führten. Danach war endlich der

Zeitpunkt gekommen, das unendliche Sternenmeer aufzusuchen,

um Kurs auf das Geheimdepot des Tempels zu nehmen. Nur er

und die Schiffsführerin waren über die Route zu dieser Schatzkammer

der Sekte informiert, von denen es sicher mehrere gab.

Doch aus Gründen der Geheimhaltung und Angst vor Verrat, wurde

auch ein verdienter und loyaler Offizier wie er, nur mit den nötigsten

Informationen versehen. Die Besatzung musste nach jeder

Fahrt zum Depot einer aufwendigen Prozedur unterzogen werden,

in der ihr mit einem speziellen Zauber die Erinnerung an Kurs

und Aufenthalt genommen wurde. Dies war eine weitere, wenn

auch teure, Sicherheitsmaßnahme der Tempelführung.

Mit einem Kopfnicken entließ Aurelia ihren Stellvertreter und

kehrte in die Ruhe ihrer Kapitänsmesse zurück. Sie hatte noch einige

Vorbereitungen zu treffen, sobald sie im Hafen von Shan’hor

einliefen. Die Reparaturarbeiten wusste sie bei de›Soto in den

richtigen Händen. Niemand würde die Arbeiten schärfer überwachen

als dieser Darq von einem Geheimdienstler, der sie immer

mit gierigen Augen abtastete und in Gedanken auszog. Sie wusste,

dass er nur zu gern ihr Bett teilen würde. Doch niemals wieder, so

hatte sie sich geschworen, würde sie einen Mann der Sekte in ihr

Schlafgemach lassen.

Langsam löste sie den Umhang, den sie an einen Messinghaken

hängte. Dabei öffnete sie mit einer grazilen Bewegung gleichzeitig

mehrere Knöpfe der engen roten Kapitänsjacke und holte tief

Luft. Wie sie diese Uniform hasste, wie sie alles, was mit der Sekte

zu tun hatte, hasste. Dass nur der Glaube an die geliebte Tochter

ihr Kraft gab, diese Scharade aufrecht zu halten. Sie würde Mylinda

finden, selbst wenn die Suche noch Jahre dauern sollte, denn ihr

Herz sagte, dass ihr Kind noch lebte und irgendwo auf Rettung

wartete …

Einige Tage später erreichte die Galeone den Hafen von

Shan’hor und machte am langen Pier die Taue fest. Aurelia übergab

ihrem ersten Offizier das Kommando und wartete nicht einmal

das Eintreffen des Hafenmeisters ab, sondern eilte schnurstracks

zum Hafenbüro. Dort hoffte sie, den örtlichen Agenten Joliko

Gnorx anzutreffen, der hier auf Riva die Interessen des Tempels

wahrnahm. Unterdessen überwachte de’Soto die Verladearbeiten,

die sofort begonnen hatten, nachdem der Hafenmeister die Unterlagen

überprüft und keinerlei Beanstandungen hinsichtlich ihrer

Richtigkeit geäußert hatte. Doch hierbei handelte es sich nur um

eine Formalität, denn Schiffe des Tempels wurden nicht nur auf

Riva bevorzugt behandelt und die Papiere niemals angezweifelt,

wenn sie das Siegel der Zentrale trugen. Der Stempel der Hafenmeisterei

war eine Farce, doch niemand würde dies zugeben, denn

zu groß war auf Riva die Macht der Rotröcke geworden, als dass

irgendjemand wagte, unbequeme Fragen zu stellen.

Am Kai herrschte reges Treiben, wo die bulligen zotteligen

Soho’s, die anerkannt stärksten Träger weit und breit, Kisten, Säcke

und in Segeltuch verschnürte Bündel auf ihre breiten Rücken

wuchteten, um sie unter ständigem Gesumme ihrer bienenähnlichen

Sprache über die Gangways von Bord und hin zu den

Lagerschuppen zu schleppen. Mehrere Schiffe lagen im Hafen,

darunter einige kleinere Galeonen, Schaluppen sowie zahlreiche

Fischerboote. Auch zwei Klipper erspähte Aurelia am Ende des

langen Piers, konnte jedoch ihre gehissten Flaggen nicht erkennen.

Die Heilige Kuh entlud Stoffe und Holzfässer mit Wein von Risetta

und nahm außer den Artefakten, die sie von Joliko Gnorx erhalten

sollte, noch mehrere Tonnen Bastillafelle an Bord, die für Thetis

bestimmt waren. Pelzmäntel aus dem Fell der Bastillamännchen

waren hoch begehrt bei den edlen Damen der hohen Gesellschaft.

Im Naturzustand waren sie schlicht und unscheinbar. Doch wurde

der Mantel getragen, entwickelte er ein seltsames Eigenleben und

spiegelte das Gefühlsleben seiner Trägerin wieder. Dabei bot er ein

irrlichterndes Farbspiel, das in immer neuen Variationen über das

Fell flackerte. Man nahm an, dass es Teil des Balzverhaltens der

Bastillamännchen war, mit der sie eine Partnerin umwarben und

für sich zu gewinnen suchten. Kenner verstanden dieses Farbspiel

zu deuten und so konnten sie auf die Gefühlslage der Mantelträgerin

schließen. In den Kreisen des Adels und der Reichen war es

derzeit ein beliebtes Gesellschaftsspiel, dem sie mit einer geradezu

perversen Lust auf ihren vielen Festivitäten nachgingen. Das

trieb die Nachfrage nach diesen exquisiten Mänteln extrem in die

Höhe. Allerdings vermochte das knappe Angebot das große Interesse

nicht zu befriedigen.

Für dergleichen Zerstreuung hatte sich Aurelia nie erwärmen

können. Doch als lukratives Handelsgut waren die Felle hervorragend

geeignet, denn es ließen sich außergewöhnlich hohe Gewinne

erzielen und auch hier hatte sich der Tempel ein Monopol

gesichert, erinnerte sich Aurelia erbittert. Endlich erreichte sie das

große Steingebäude der Hafenmeisterei, in dem Agent Gnorx sein

Büro unterhielt und trat durch das protzige Eingangstor, das in

eine geräumige Halle führte. Die Hafenstadt hatte es zu ziemlichen

Wohlstand gebracht, stellte Aurelia anerkennend fest und blickte

sich suchend um. Der Boden war nicht aus einfachen Holzbohlen,

wie allgemein bei einer Behörde üblich, sondern mit edlen blassblauen

Fliesen bedeckt. Zusammen mit den mehrfarbigen Kacheln

bildete das Mosaik ein deutlich erkennbares Muster. Sie erkannte

sofort das auffällige Emblem der Sekte, ein Spinnennetz, das sich

über eine funkelnde Sternenspirale spannte. In der Mitte der Halle

befand sich ein großer Informationsstand, der mit mehreren weiblichen

Mitarbeiterinnen besetzt war. Aurelia näherte sich diesem

Prunkstück aus feinstem roten Wurzelholz und wurde sogleich von

einer der jungen gut aussehenden blonden Frauen angesprochen.

»Was kann ich für euch tun, Mylady

›Aha …‹, dachte Aurelia, ›woher will sie wissen, dass ich adliger

Abstammung bin oder werden hier alle Besucher in Kapitänsuniform

auf diese höfliche Art empfangen?

»Ich suche das Büro von Joliko Gnorx, dem hiesigen Handelsagenten

des Tempels. Ist er anwesend?«

Die junge Frau warf einen raschen Blick auf ihre Unterlagen

und beantwortete ihre Frage mit einem freundlichen Lächeln.

»Agent Gnorx ist im Haus und er erwartet euch bereits, Kapitän

Lethos.«

Ausführlich beschrieb die junge Frau der Kommandantin der

Heiligen Kuh den Weg zum Büro des Agenten. Aurelia bedankte

sich für die genaue Auskunft und wunderte sich, dass die Empfangsdame

schon von ihrem Kommen unterrichtet schien.

›Nachrichten verbreiten sich hier rascher als ein Fiesling rammeln

kann‹, dachte sie in spöttischer Anspielung auf deren kurzen

Liebesakt. ›Dabei sind wir doch gerade erst im Hafen angekommen.

Katzenhaft schritt sie in Richtung der angegebenen Tür, wobei

die weichen Lederstiefel, versehen mit einer Sohle aus rutschfester

Darqhaut, nicht das leiseste Geräusch verursachten. Lautlos

öffnete sie die Tür und Aurelia fand sich in einem ungefähr dreißig

Fuß langen Gang wieder, in dem zu beiden Seiten mehrere Türen zu

sehen waren, aus denen teilweise die Geräusche einer Unterhaltung

an ihr Ohr drangen. Eilig schritt sie daran vorbei, bis sie das Ende

des Flurs erreichte, wo sich der mit einem feinen Stoff ausgelegte

Aufgang zur ersten Etage befand. Wieder fiel ihr der protzig zur

Schau gestellte Wohlstand auf, denn der Handlauf der Treppe bestand

mit Sicherheit aus Messing und war mit hübschen und aufwendigen

Verzierungen versehen. Für ein Hafenkontor eindeutig

zu kostspielig, befand Aurelia und ging die Treppe hinauf. Oben

verzweigte sich der Aufgang nach beiden Seiten und sie wählte den

rechten, wie es ihr die junge Frau vom Empfang gesagt hatte. Und

richtig, an der zweiten Tür zu ihrer Linken prangte ein großes silbernes

Schild, das im kleinen Maßstab ebenfalls das Emblem des

Tempels trug. Darauf stand in großen Goldbuchstaben ein Name

geschrieben. Gehalten in den schwungvollen feinen Lettern der

Universalsprache stand dort: Joliko Gnorx – Handelsagent.

Einen Augenblick zögerte Aurelia, dann hob sie entschlossen

die Hand und klopfte vernehmlich an.

»Nur herein«, ließ sich eine hohe Fistelstimme vernehmen und

wie von Geisterhand öffnete sich ohne ihr Zutun die schwere Holztür.

Unbeeindruckt von dieser kleinen Demonstration magischer

Kunst betrat Aurelia das Büro und erblickte einen grauhaarigen

Mann, dessen Stimme so gar nicht zu seiner Erscheinung passte.

Fast zwergenhaft klein, doch dafür mit einem riesigen Schädel ausgestattet,

erhob er sich von seinem bequemen mit weichem Leder

überzogenen Stuhl. Dabei stellte Aurelia fest, dass er ihr mit seiner

Körperlänge gerade bis zum Brustansatz reichte. Lässig streckte er

einen langen Arm aus und reichte ihr eine überraschend zartgliedrige

Hand, mit der er kraftvoll ihre eigene umschloss.

»Ihr seid also Kapitän Aurelia von Lethos? Ich hab schon viel

von euch gehört, Mylady. Ihr genießt das Vertrauen der Tempelleitung,

sonst ständet ihr jetzt nicht hier«, sagte er und ein angedeutetes

Lächeln umspielte für einen kurzen Moment seinen

Mund. Unverschämt offen musterte er die vor ihm stehende Frau

mit einem scharfen prüfenden Blick aus seinen rauchgrauen Augen.

Dabei vermied er jede Anspielung auf ihre Stellung als Ex-

Gemahlin des Tempelobersten Fürst Ramoris.

»Wir sehen uns heute zum ersten Mal, Kapitän Lethos. Daher

möchte ich euch bitten, auch wenn ich an eurer Identität nicht den

geringsten Zweifel hege, sich mit denn dafür vorgesehenen Papieren

zu legitimieren. Die Angelegenheit ist zu bedeutsam als dass

ich mir ein Versäumnis bei den Formalitäten erlauben kann. Ihr

werdet sicher Verständnis für diese Maßnahme haben, Mylady!«

Er entschärfte seine Aufforderung erneut mit dem Versuch eines

freundlichen Lächelns, das jedoch nicht ganz gelang, denn seine

Augen blieben trotz aller Höflichkeit kalt und misstrauisch. Aurelia

verspürte einen Anflug von Eiseskälte und ihre Nackenhaare

richteten sich auf. Dieser Mann, obwohl körperlich deformiert,

war gefährlich. Er musste gefährlich sein, denn die Tempelsekte

hätte niemals einen solch wichtigen Posten mit einem ungeeigneten

Agenten besetzt. Daher würde er über Fähigkeiten und Qualitäten

verfügen, die ihn für diese Aufgabe qualifizierten. Ihr schauderte,

wenn sie daran dachte, um was für Eigenschaften es sich dabei

handeln mochte, zu denen Verschlagenheit und Hinterlistigkeit

ebenso gehörten wie absolute Loyalität zum Tempel.

Sie hatte in den langen Jahren, in denen sie mit der Sekte zu

tun hatte, feststellen müssen, dass ein Menschenleben wenig für

sie zählte und dass Intrige, Verrat als auch Folter zu ihren üblichen

Verhaltensweisen zählten. Dieses ständige auf der Hut sein

müssen, das Gefühl zu haben, überall von Spionen und Verrätern

umgeben zu sein, zehrte an den Nerven Aurelias.

»Natürlich, Agent Gnorx, ich habe die erforderlichen Papiere

bei mir.« Mit diesen Worten überreichte sie dem Agenten ihr Beglaubigungsschreiben,

das von Fürst Ramoris selbst unterzeichnet

war. Dazu noch ihr persönliches ID-Siegel, wodurch ihre Identität

zweifelsfrei festgestellt werden konnte. Es war absolut sicher, weil

ein starker Zauber im Siegel ihre Geiststruktur bewahrte, die in

der Zentrale des Tempels auf magische Weise aufgezeichnet und

im Siegel festgehalten wurde. Der dafür erforderliche Zauber war

sehr aufwändig und teuer. Daher verwendete ihn die Sicherheitsabteilung

des Tempels nur für absolut wichtige Personen und

Geheimnisträger. Denn bei aller Vorsicht waren sie auch geizige

Krämerseelen, die unnötige Ausgaben scheuten wie der Teufel das

Weihwasser.

Agent Gnorx überflog das Schreiben nur kurz und konzentrierte

sich dabei auf vornehmlich auf Unterschrift und Siegel von Fürst

Ramoris. Dann trat er hinter seinen voluminösen Schreibtisch, wo

er das ID-Siegel über ein rubinrotes Juwel hielt, das er zuvor aus

einer Lade des massiven Tisches geholt hatte.

»Selten habe ich Gelegenheit, den ID-Prüfer zu nutzen, Kapitän

Lethos. Nur wenige Personen wurden jemals mit einem solchen

Siegel auf diesen Planeten geschickt. Nehmt es mir nicht

übel, doch ihr seid kein einfacher Kapitän und wenn ihr über eine

solche Beglaubigung verfügt, so müsst ihr für den Tempel von ungewöhnlicher

Wichtigkeit sein.«

Fragend blickte ihr der Agent in die Augen und hoffte auf eine

Antwort, die seine Neugier befriedigten mochte.

»Das mag sein, Agent Gnorx, doch weder bin ich befugt noch

wäre es ratsam, euch weitere Details meiner Mission zu nennen. Es

bestände die Gefahr, dass Verräter oder Spione diese Information

erlangen und welche Folgen das für den Betroffenen mit sich bringen

würde, brauche ich euch wohl nicht näher zu erläutern.«

Missmutig setzte sich Gnorx auf seinen Stuhl. Einen langen

Augenblick dachte er nach und legte dabei seine hohe Stirn in

zahlreiche Falten.

»Eure Legitimation ist einwandfrei, Kapitän Lethos. Ihr seid

die, für die ihr euch ausgebt, das steht zweifelsfrei fest und daher

will ich es kurz machen. Nehmt doch bitte Platz«, dabei wies er

auf den Stuhl, der vor seinem Tisch stand. Mit leicht angespannter

Wachsamkeit nahm Aurelia das Angebot an und setzte sich. »Eine

Anweisung des Tempelrats ist mir zugegangen, die mich beauftragt,

einem Kapitän Lethos mehrere Artefakte zu übergeben,

damit dieser danach gemäß seiner Anweisungen verfährt. Liegen

euch diesbezügliche Befehle vor, Kapitän Lethos?«

»Ja, die habe ich, allerdings bin ich nicht ermächtigt, euch diese

mitzuteilen, daher bitte ich um Verständnis für diese Maßnahme

des Rats. Sie hat sicherlich nichts mit mangelndem Vertrauen in

eure Tätigkeit auf Riva zu tun. Meine Befehle sind jedoch eindeutig

und schließen Informationen an Dritte auf alle Fälle aus. Ihr

wisst ja, wie streng die Vorschriften des Rats bezüglich Geheimhaltung

sind. Daran bin ich auf jeden Fall gebunden.«

»Das ist mir bekannt, Kapitän«, knurrte Gnorx unzufrieden.

»Ihr erfüllt eure Befehle gemäß dieser Vorschriften. Ich werde das

in meinem Bericht an den Rat festhalten. So wie ihr mein Verhalten

ebenfalls als einwandfrei im Sinne der Vorschriften beurteilen

werdet.«

»Selbstverständlich, Agent Gnorx. Ihr habt eure Pflicht genau

und korrekt erledigt, es gibt nichts zu beanstanden. Der Rat wird

sicherlich eine Belobigung oder sogar eine Belohnung für euch haben,

wenn Übergabe als auch Lieferung zu seiner Zufriedenheit

abgewickelt worden sind.«

Joliko Gnorx stutzte. Vernahm er in der Stimme des Kapitäns

eine leichte Belustigung? Oder war darin ein versteckter Hinweis

enthalten und sollte er zu einer unbedachten Bemerkung verleitet

werden, die ihm später den Weg in die oberen Ebenen der Tempelhierarchie

verwehren mochte? Es gab innerhalb der Priesterschaft

Gruppierungen, die untereinander um Macht und Einfluss stritten.

Auch gab es Gerüchte um eine geheime Bruderschaft innerhalb

der Organisation. Somit musste man vor allem und jedem

auf der Hut sein. Misstrauen war zu jeder Zeit angebracht und

jedes Wort musste sorgsam abgewogen werden.

Er traute diesem Kapitän Lethos nicht über den Weg, sie mochte

ein Mitglied dieser geheimen Bruderschaft sein, auch wenn sie

vom Tempelobersten selbst beauftragt war. Sie war mit Sicherheit

eine wichtige Person in den Plänen des Rats, vielleicht eine Geheimbeauftragte

des Fürsten selbst, denn sonst würde sie nicht mit

einer solch heiklen Mission betraut werden.

Fürst Ramoris, der Oberste des Rats, hatte ihre Order eigenhändig

unterzeichnet und gesiegelt. Dazu war sie mit einem der wenigen

ID-Siegel ausgestattet, die der Tempel vergab, damit schien

ein Betrug so gut wie ausgeschlossen. Joliko Gnorx beschloss auf

Nummer Sicher zu gehen und sich ganz genau an die Vorschriften

zu halten.

»Ich erfülle nur meine Pflicht und sollte der Rat damit zufrieden

sein, so ist es mir Lohn genug, Kapitän Lethos, so wie euch

auch. Wir stehen doch alle im Glauben des Tempels und tun alles,

was in unserer Macht liegt, um Ungläubige auf den rechten Weg

zu führen.«

Er sagte dies in einem Brustton der Überzeugung, dass Aurelia

fast geneigt war, ihm seine Worte abzunehmen, jedoch nur fast.

Das kalte Glitzern seiner Augen war ihr nicht entgangen, dieser

Mann war zu allem fähig und würde sie ohne Skrupel betrügen,

wenn er sich einen Vorteil versprach, solange kein Verdacht auf ihn

fallen würde.

»Kommen wir nun zum eigentlichen Zweck eures Besuchs, Kapitän

Lethos. Ich werde euch nun drei Artefakte aushändigen –

deren Sinn und Bedeutung mir allerdings nicht umfassend bekannt

sind. Mein Auftrag lautet nur, sie euch zu übergeben.« Mühsam

stand er auf, schlurfte dann leicht humpelnd zu einem massiven

Schrank, der in der hinteren Ecke des Raumes stand. Es handelte

sich eindeutig um das Werk heimischer Schmiedekunst, wie Aurelia

aus den kunstvollen Gravuren schloss, mit denen dieser gelbliche

Metallklotz aus Bronze verziert war. Er diente als Sicherheitsbehälter

für wertvolle Juwelen und Dokumente, um sie gegen Feuer

und Diebstahl zu schützen. Trutzig beherrschte er die Ecke, wo er

seine zwei bis drei Tonnen eindrucksvoll zur Geltung brachte. Die

Tür war mit mehreren Schlössern versehen. Daneben verfügte sie

noch über ein schweres Handrad, um den Verschluss zusätzlich zu

sichern.

Aurelia sah zu, wie der Agent einen Schlüsselbund aus der Tasche

zog und unter der Vielzahl der Schlüssel nach drei bestimmten

suchte. Sobald er sie gefunden hatte, führte er sie der Reihe nach

in die vorgesehenen Öffnungen am Schrank und drehte sie dann

entgegen dem Uhrzeigersinn. Ein leises Knacken ertönte, dann

konnte Joliko Gnorx das freigegebene Handrad bewegen und die

Tür mit einem schmatzenden Laut aufziehen. Behutsam entnahm

er dem Innenraum zwei verhüllte Gegenstände sowie ein Dokument

und legte alles zusammen auf den großen Tisch.

»Ich werde euch die Gegenstände zeigen und dann wieder einpacken,

damit sie nicht für jedermanns Auge sichtbar sind, Kapitän.

Anschließend werdet ihr mir auf diesem Papier die richtige

Übergabe mit Unterschrift und einem Abdruck des ID-Siegels

bestätigen – so sehen es die Vorschriften vor. Danach werde ich

einen vertrauenswürdigen bewaffneten Boten kommen lassen, der

die Artefakte zum Schiff tragen wird – selbstverständlich in eurer

Begleitung. Seid ihr damit einverstanden, Kapitän Lethos?«

Aurelia nickte nur bestätigend, wobei sie sich interessiert nach

vorne beugte, um genau zu beobachten, wie Joliko Gnorx das erste

Artefakt aus seiner Umhüllung nahm. Unwillkürlich hielt sie

die Luft an, denn vor ihr lag ein faustgroßes Juwel, reinweiß und

unbeschreiblich schön anzusehen. Zahllose Facetten brachen das

Sonnenlicht, das durch ein großes vergittertes Fenster fiel und ließen

es in den Farben des Regenbogens aufleuchten.

»Es ist wunderschön«, hauchte Aurelia ergriffen und konnte

sich an dem Funkeln des Juwels nicht sattsehen. Sie kniff einmal

kurz die Augen zusammen, weil sie glaubte, nebulöse Schlieren

unter der Oberfläche wahrzunehmen, war jedoch unsicher, ob sie

nicht einer Sinnestäuschung erlag.

»Ja, ihr seht richtig, Kapitän. Es handelt sich um ein Sehendes Auge,

nicht um eine normale Kristallkugel, wie sie Wahrsager und Seher

auf den Basaren verwenden und die recht häufig sind. Nein, dies ist

ein echtes Auge, eines der Wenigen, die jemals entdeckt wurden.«

Voller Stolz, so als wäre es seine eigene Schöpfung, betrachtete

Gnorx das faszinierende Objekt. Kurz war ihm der Gedanke durch

den Kopf geschossen, es für sich selbst zu behalten, doch dann

siegte die Vernunft. Der Rat würde einen Verlust nicht akzeptieren

und sein Leben wäre verwirkt, würde das Auge aus seiner Obhut

verschwinden. Außerdem war die Nutzung des Auges, soviel hatte

er in Erfahrung gebracht, an magische Vorgaben gebunden, die er

auf keinen Fall erfüllen konnte. Und jeder noch so hohe Preis, den

er für dieses außergewöhnliche Objekt erzielen mochte, war sein

Leben nicht wert.

Denn nirgendwo würde er sich auf Dauer verstecken können.

Die Häscher des Tempelrats würden ihn aufspüren und sämtliche

Kopfgeldjäger des Arms wären hinter ihm her, um die hohe Belohnung,

die auf sein Ergreifen stehen musste, einzustreichen. Nein,

es war klüger die Gier zu unterdrücken. Irgendwann mochte sich

eine günstigere Gelegenheit mit einem weniger auffälligen Gegenstand

ergeben und dann würde er zugreifen. Aurelia bemerkte

seine Nachdenklichkeit und der gierige Blick, mit dem er das Auge

betrachtete, waren ihr nicht entgangen. Intuitiv erahnte sie seine

Gedanken, die für ein Mitglied des Tempels auch nicht abwegig

waren, denn Gier, Missgunst und Hunger nach Macht waren die

Triebfedern, von denen die Elite der Sekte besessen war. »Wahrhaftig,

ein sehr seltenes Artefakt«, bemerkte sie trocken und unterbrach

damit den Gedankenfluss des Agenten. »Könnt ihr mir sagen, wie ihr zu

dieser Kostbarkeit gekommen seid?«

Gnorx zögerte kurz, dann wischte er seine Bedenken beiseite.

Das meiste war schon längst Gesprächsstoff in den hiesigen Tavernen.

»Ich glaube, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich euch sage,

dass ein Sternenfahrer vor einiger Zeit auf ein Wrack der Ghurka

stieß. Er war auf einer Route abseits der normalen Handelswege

unterwegs, auf der Suche nach neuen Märkten als er durch einen

unglaublichen Zufall eine ausgesaugte Lebensblase sichtete. Das

Schiff im Inneren wurde von einer großen Scilla überrascht und

ist bei dem Angriff zerstört worden. Die Besatzung hatte wohl

keine Zeit mehr gefunden, um zu fliehen und wurde getötet. Jedenfalls

fand sich kein Überlebender. Doch vor ihrem Untergang

wehrten sie sich noch verzweifelt und müssen der Scilla heftig zugesetzt

haben. Nach der Zerstörung des Schiffes ist der Astrokrake

verschwunden, ohne das Schiff komplett auszuplündern, wie es

normalerweise ihre Art ist. In den Überresten der Kapitänskajüte

fand der Sternenfahrer die Kiste mit den persönlichen Habseligkeiten

des Schiffsführers. Was er davon für sich behalten hat,

weiß ich nicht. Jedoch muss ihm das Sehende Auge wohl zu heiß für

ein Geschäft mit einem Hehler gewesen sein. Also hat er es mir,

dem bevollmächtigtem Agenten des Tempels auf Riva, angeboten.

Und natürlich habe ich zugegriffen, denn der Rat ist seit langer

Zeit auf der Suche nach einem solchen Auge. Es soll über sagenhafte

Fähigkeiten verfügen und alle Fragen beantworten können,

die man ihm stellt. Jedoch nur, wenn man weiß, wie seine Sperre

umgangen wird. Ansonsten bleibt es stumm oder, schlimmer noch,

tötet den Fragesteller auf grausame Weise.«

Nachdenklich runzelte Aurelia die Stirn. Sie hatte noch nie ein

Sehendes Auge zu Gesicht bekommen, dies war das Erste, das sie leibhaftig

vor sich liegen sah. Konnte es ihr bei der Suche nach ihrer

verschwundenen Tochter helfen? Doch ohne einen Magier, der

auch noch um die Zugangsmöglichkeit wissen musste, würde es

ihr nichts nutzen. Sie unterbrach ihre Überlegungen und richtete

ihr Augenmerk auf den nächsten Gegenstand.

»Um was handelt es sich bei den anderen Artefakten?«, fragte

sie den schweigsam gewordenen Agenten.

»Nun, ganz genau kann ich eure Frage nicht beantworten, Kapitän

Lethos«, erwiderte Gnorx beiläufig und wickelte dabei den Gegenstand

aus dem schwarzen Tuch, in dem er eingehüllt war. Zum

Vorschein kam eine Waffe. Augenscheinlich ein langer Dolch, der

sich in einer schlichten Scheide aus Holz befand, dessen Art ihr

unbekannt war. Der Knauf hatte sicherlich sechs Zoll Länge. Außerdem

war am Ende des Griffes ein großes grünes Juwel eingelassen.

Behutsam und vorsichtig zog der Agent den Dolch aus seiner

Schutzhülle. Dabei kamen zwölf Zoll eines silbergrau glänzenden

Metalls zum Vorschein. Die Klinge war beidseitig geschliffen und

mit einer nadelscharfen Spitze ausgestattet. Zusätzlich wies sie auf

beiden Seiten eine tiefe Blutrinne auf. In der Tat, eine wahrhaft

tödliche Waffe.

»Dieser Dolch wurde aus Obsidianerz gefertigt«, stellte Gnorx

nüchtern fest. »Ihr wisst, wie selten dieses Erz ist. Es wurde von

den alten Lemurern auf Naxos verarbeitet und deren Schmiede

müssen auch diesen Dolch hergestellt haben. Er gehörte einem

der mächtigsten Magnate auf Riva und kam ihm …, nun ja, abhanden.

Allerdings war er nicht der eigentliche Eigentümer dieser

Waffe. Einst gehörte sie dem Herrscherhaus von Gondwana, dem

sie vor langer Zeit von einem Meisterdieb entwendet worden ist. Es

ranken sich viele Geschichten und Gerüchte um diesen Dolch, der

von seinem ehemaligen Besitzer Meuchling genannt wurde. Er muss

eine große Bedeutung für ihn gehabt haben, denn es wurde eine

sagenhaft hohe Belohnung für die Wiederbeschaffung ausgesetzt.

So hoch, dass der Meisterdieb, dem dieser Raub gelang, Gondwana

verließ und im Sternenmeer untertauchte. Wie der Dolch

am Ende nach Riva gekommen ist, weiß niemand zu sagen. Der

Tempel erfuhr von seiner Existenz und machte dem Magnaten ein

großzügiges Angebot. Dummerweise beging er den Fehler, es auszuschlagen.

Nun …, nicht viel später wurde ihm der Dolch leider

gestohlen und landete dann auf Umwegen bei mir. Eine wahrhaft

unglaubliche Geschichte, meint ihr nicht auch, Kapitän Lethos?«

Aurelia nickte und konnte sich gut vorstellen, wie die Diebe des

Tempels sich der Waffe bemächtigten ohne selbst in Verdacht zu

geraten. Was ihnen nicht freiwillig überlassen wurde, holten sich

die Rotröcke auf anderen Wegen. Man tat gut daran, nicht ins

Visier des Tempels zu geraten.

»Und was macht den Dolch zu einem interessanten Artefakt

für den Rat, abgesehen davon, dass er aus kostbaren Obsidianerz

besteht?«, versuchte Aurelia zu erfahren. »Nun Kapitän …, genau

dieses Geheimnis gedenken die Gelehrten des Rats zu lösen. Es ist

nicht genau bekannt, über welche magischen Eigenschaften dieser

Dolch verfügt. Das Wissen darum ist leider mit dem Tod des

Magnaten in seiner Gruft verschwunden. Ärgerlicherweise gab es

keine Aufzeichnungen darüber, jedenfalls wurden keine gefunden.

Dabei wird der Tempelrat, wie ihr euch denken könnt, kaum bei

den Königen von Gondwana nachfragen, was es mit dem Dolch

auf sich hat, denn dort sind wir leider nicht mit einer Niederlassung

vertreten. Dieses Volk betet bedauerlicherweise andere Götter

an und die Herrscher von Gondwana haben die Errichtung

einer Mission verboten. Aber, beim einzig wahren Gott Nantau,

der Tempel wird sie eines Tages zum richtigen Glauben führen.«

Der Agent schnaubte wütend und schob die Waffe wieder in die

hölzerne Scheide und betrachtete dabei mit Kennerblick den grün

schimmernden Stein, der im Griffstück eingelassen war.

»Ihr habt von drei Artefakten gesprochen, Agent Gnorx. Ich

sehe nur zwei. Wo ist das Dritte?«

»Ach …, ihr wisst es wirklich nicht«, bemerkte Joliko Gnorx

und eine leichte Überheblichkeit schwang in seiner Stimme mit.

»Ich nahm an, ihr wäret informiert, Kapitän Lethos. Nun denn,

dann will ich euch aufklären, Mylady. Das dritte Artefakt ist diese

Dolchscheide. Zugegeben, sie sieht ziemlich unscheinbar aus und

ist doch das Rätselhafteste der drei Gegenstände. Sie besteht aus

dem Holz eines Orcabaums. Jenem Holz, aus dem die Zauberstäbe

der meisten großen Magier bestehen. Vielleicht wisst ihr, dass

diese magischen Stäbe die Kraft eines Zauberers erheblich erhöht

und die Wirkung seiner Sprüche verstärkt. Der Baum kommt angeblich

nur auf einem einzigen Planeten vor. Allerdings wissen

wir nicht, um welche Welt es sich dabei handelt. Wir wissen nur,

dass der Baum äußerst selten ist und allein in diesem unbekannten

Lebensraum wächst. Alle Versuche, Sämlinge auf einer anderen

Welt anzupflanzen, sind daran gescheitert, dass uns keine Frucht

des Orcabaums zu Verfügung stand. Eine hohe Belohnung winkt

demjenigen, der dem Rat das Heimatsystem dieser Baumgattung

benennen kann. Ich bin schon jahrelang auf der Jagd nach dieser

Information, leider vergeblich. Es gibt jedoch unbewiesene Gerüchte,

dass manche von diesen Stäben zusätzlich von einem …, hmm

… – von einem Geist besessen sind. Dadurch soll der Stab noch

mächtiger werden, weil dieser Geist angeblich die negativen Auswirkungen

neutralisieren kann. Ihr könnt euch sicherlich denken,

Mylady, dass der Wunsch des Rats nach solch einem Stab ziemlich

groß ist, um es vorsichtig auszudrücken. Die Tempelmagier sind

geradezu versessen darauf, endlich einen solchen Verstärkerstab in

die Finger zu bekommen, damit sie ihn untersuchen können. Die

Macht, die er einem zauberkundigen Magier verleihen kann, muss

gewaltig sein und darf nicht in falsche Hände gelangen. Nur bei

den Oberen unseres Ordens ist er gut aufgehoben und kann zum

Nutzen unseres Tempels wirken.«

Mit geradezu fanatischer Begeisterung hatte der Handelsagent

diese Information ausgeplaudert ohne daran zu denken, dass er

sich damit angreifbar machte. Aurelia nickte zustimmend und war

sich der Zweideutigkeit seiner Aussage sehr wohl bewusst. »Ich

stimme euch zu, Agent Gnorx. In der Tat sind dies allesamt mächtige

Artefakte und ich sollte sie so rasch als möglich zu ihrem

Bestimmungsort bringen, wo sie die Gelehrten des Tempels bereits

voller Ungeduld erwarten.«

Joliko Gnorx wäre nicht Statthalter der Sekte auf Riva, hätte

sein Charakter nicht auch ausgeprägte Züge von List und Verschlagenheit.

Mit einem hintersinnigen Lächeln unterbreitete er

ihr ein verlockendes Angebot.

»Wäre es da nicht ratsam, eurer Galeone Geleitschutz zu geben,

Kapitän Lethos? Es sind unruhige Zeiten und es treibt sich überall

räuberisches Gesindel herum. Unsere Meere werden von Piraten

heimgesucht, selbst der Sternenozean ist vor diesen Freibeutern

nicht sicher. Ich könnte euch eine Fregatte als Geleitschutz mitgeben.

Was haltet ihr von diesem Vorschlag, Mylady? Der Tempel

wäre unter Umständen sogar bereit, die anfallenden Kosten zu

übernehmen. Ich würde mich dafür einsetzen.«

»Es ist sehr lobenswert von euch, Agent Gnorx, dass ihr euch

um diese Gefahren sorgt und euch um meine Sicherheit bemüht.

Leider sehen meine Befehle vor, dass die Galeone nur alleine zum

Bestimmungsort segeln darf. Kein Konvoi oder sonstige Schutzbegleitung

ist zulässig. Meine Tarnung als Handelsschiff, das zudem

gut und schwer bewaffnet ist, war immer ausreichend und wird es

auch weiterhin sein. Verlasst euch auf die Strategie des Tempels,

die sich bisher als sehr erfolgreich erwiesen hat.«

Abfuhr hinunterschluckte, um sich dann rasch in eine geschäftsmäßige

Bemerkung zu flüchten.

»Gut, ich sehe, dass ich euch nicht umstimmen kann, Kapitän

Lethos. Es sei, wie ihr wünscht und es euch eure Befehle vorschreiben.

Ich werde daher jetzt meinen Adjutanten rufen, der euch zum

Schiff begleiten wird.«

Er drückte auf eine verborgene Einrichtung, die nach dem Boten

rief. Es dauerte nur wenige Momente, bis sich die Tür öffnete

und ein junger Rotrock eintrat, der nach einem grüßenden Kopfnicken stumm

neben dem Eingang stehen blieb.

»Leutnant Velaro, ihr werdet Kapitän Lethos zu ihrer Galeone

begleiten. Ihr habt dafür Sorge zu tragen, dass sie wohlbehalten

ohne jede Belästigung ihr Schiff erreicht«, befahl Joliko Gnorx

seinem Untergebenen, woraufhin dieser, ohne eine Antwort zu geben,

nur bestätigend den Kopf neigte.

»Ich werde den Dolch unter meiner Uniformjacke am Gürtel

befestigen, dort fällt er praktisch nicht auf. Der andere Gegenstand

passt ohne Probleme in meine Ledertasche«, entschied Aurelia.

»Wenn ihr dies für notwendig erachtet, Kapitän Lethos, dann

macht es so wie ihr es für richtig haltet. Mein Adjutant wird euch

sicheres Geleit geben. Obwohl hier keine Gefahr droht, denn dies

ist schließlich Hoheitsgebiet des Tempels. Doch ich habe meine

Vorschriften und möchte mich keiner Nachlässigkeit schuldig machen

– ihr versteht, Mylady. Ich wünsche euch jedenfalls gutes

Gelingen und werde den Rat von der erfolgten Übergabe unterrichten.«

Mit diesen Worten reichte Joliko Gnorx Aurelia die Hand,

schüttelte sie kurz, um sich dann ohne weitere Bemerkungen an

seinen Schreibtisch zu setzen. Wortlos verstaute Aurelia das Auge

in der Ledertasche und befestigte den Dolch am Gürtel. Anschließend

rückte sie mit wenigen Handbewegungen die Uniformjacke

zurecht, sodass von der Waffe nur noch der untere Teil der hölzernen

Scheide hervorlugte.

»Ich werde eure Worte im Gedächtnis behalten, Agent Gnorx

und hoffe, dass ihr bei eurer Suche nach den gewünschten Informationen

Erfolg haben werdet«, verabschiedete sich Aurelia kurz

und knapp, wobei sie sich bereits dem Ausgang zuwandte. Der mit

einem Rapier bewaffnete Leutnant öffnete die Tür und folgte ihr

schweigsam. Stumm, fast nachdenklich, machte sich Aurelia auf

den Rückweg. Sie nickte grüßend zu der netten Empfangsdame

in der Eingangshalle hinüber und stand dann mit dem Adjutanten

am Hafenpier.

»Leutnant Velaro, den Weg zu meinem Schiff finde ich selbst.

Wie Agent Gnorx versichert hat, droht mir hier keinerlei Gefahr.

Ihr könnt also getrost in euer Quartier zurückkehren.«

Der Rotrock, ein stämmiger junger Mann in einer tadellos sitzenden

Uniform, schüttelte bedauernd den Kopf.

»Nein, Kapitän Lethos, meine Order ist eindeutig, ich muss

euch zum Schiff begleiten. Erst wenn ihr an Bord gegangen seid,

ist mein Auftrag erledigt.«

»Dann lauft halt mit, es sind ja nur wenige hundert Schritte.«

Aurelia schritt zügig voran, getrieben von einer inneren Unruhe,

die sie sich selbst nicht erklären konnte und die sich erst legen würde,

wenn sie die Artefakte in der Sicherheit ihrer massiven Truhe

wusste. Dort waren sie durch ein stabiles Schloss und von einem

wirkungsvollen Zauber geschützt. Das geschäftige Treiben um sich

herum nahm sie nur aus den Augenwinkeln wahr. Darum entging

ihr, dass sie von einer kleinen Gruppe Vermummter beobachtet

wurden, die sie langsam einkreisten.

Es waren vielleicht drei oder vier in dunklen Gewändern gekleidete

Männer, die langsam aber sicher immer näher rückten. Alle

trugen eine Art Turban, der ihre Häupter umschlang. Eine schalartige

Verlängerung verdeckte ihre Gesichter und ließ nur die schmalen

Augenschlitze frei. Unauffällig hatten sie eine Hand unter dem

Gewand verborgen. Sie schienen nur auf den richtigen Augenblick

zu warten. Plötzlich und unerwartet erhob sich am hinteren Ende

der Pier, genau dort wo die beiden Klipper lagen, großer Lärm.

Getöse und heftiges Geschrei waren so laut zu hören, dass sich alle

Augen auf den Ursprung des Tumults richteten.

Auch Aurelia und Leutnant Velaro hielten inne. Beide wandten

sich nach hinten, um nach der Ursache der Unruhe zu sehen.

Erstmals überkam Aurelia eine leise Vorahnung kommenden Unheils

und fluchte still vor sich hin. Sie hatte ihre Waffe an Bord

gelassen, eine gefährliche Unachtsamkeit. Denn mit dem Blick der

erfahrenen Kämpferin bemerkte sie jetzt die vier gleich gekleideten

Männer, die sich ihnen verdächtig schnell näherten und auf einmal

lange Klingen sowie schwere Dolche in den Fäusten hielten.

»Überfall, Leutnant, macht euch kampfbereit«, rief sie ihrem

Begleiter laut zu. Noch während sie dem unerfahrenen Rotrock

die Warnung zurief, zog sie bereits Meuchling aus der Scheide.

Der Adjutant reagierte schnell und versuchte rasch, sein Rapier

zu ziehen, doch einer der Angreifer war schneller. Noch bevor

der Leutnant einen hastigen Abwehrversuch unternehmen konnte,

hatte ihn der Mann bereits erreicht. Mit einem mächtigen Stich

stieß er ihm sein Messer in den Leib und aufstöhnend brach der

junge Mann zusammen.

Das Messer des Attentäters noch im Körper, stürzte Velaro zu

Boden, wobei er im Fallen dem Angreifer die Waffe entriss. Von

den Umstehenden hatte niemand etwas bemerkt oder hielt sich

wohlweislich aus dem Geschehen heraus. Somit stand Aurelia auf

einmal allein vier Gegnern gegenüber. Nein, es waren nur noch

drei, denn dem Angreifer, dem es gelungen war den Leutnant niederzustechen,

schlitzte sie aus einer blitzschnellen Drehbewegung

heraus die Kehle auf. Mit einem gurgelnden Schrei auf den Lippen

stürzte er neben seinem Opfer zu Boden und alle sahen sein Blut

von Aurelias Dolch tropfen. Meuchling hatte nach langer Zeit wieder

Gelegenheit bekommen, seine außergewöhnliche Schärfe unter

Beweis zu stellen. Erschrocken wegen der heftigen Gegenwehr zogen

sich die übrigen Halunken für einen Moment zurück.

»Gebt uns die Tasche, dann verschonen wir euer Leben, Kapitän«, rief ihr

der vermutliche Anführer der Bande zu. Unterdessen

hatte sich einer seiner Leute ein Stück weit zurückgezogen, dabei

magische Worte gemurmelt und eindeutige Bewegungen mit der

Hand in ihre Richtung vollführt.

»Nur über meine Leiche«, schrie Aurelia kampfesmutig zurück.

»Ihr müsst euch schon selber holen, was ihr von mir haben wollt.«

Drohend hob sie den langen Dolch, fast schon ein kurzes

Schwert und machte dabei einen Schritt nach hinten.

»Das werden wir, Kapitän. Ihr habt keine Chance, denn niemand

wird euch zu Hilfe kommen. Gleich wird euch ein Zauber

lähmen, wenn ihr mir nicht sofort die Tasche aushändigt.«

Verzweifelt warf Aurelia einen schnellen Blick über die Schulter.

Vielleicht hatte die Schiffswache den Tumult bemerkt und de’Soto

kam ihr bereits mit Verstärkung zu Hilfe. Dieser Überfall wirkte

wie ein abgekartetes Spiel, doch wer auch immer die Angreifer

waren, sie durfte die Artefakte nicht in ihre Hände fallen lassen.

Wenn sie nur an das Rapier des Leutnants kam, dann hatte sie

gute Aussichten, den Überfall zu ihren Gunsten zu entscheiden.

Denn sie war eine hervorragende Fechterin und würde es sicher

mit drei Männern aufnehmen, die nur mit langen Messern bewaffnet

waren. Sollte sie allerdings durch einen Zauber gelähmt

werden, war sie verloren.

»Wer seid ihr? In wessen Auftrag handelt ihr?«, versuchte sie

Zeit zu gewinnen und trat einen weiteren Schritt zurück. Damit

kam sie näher zur Wasserkante, »Redet nicht, gebt uns die Tasche«,

forderte der Anführer mit drohender Stimme und streckte dabei

befehlend seinen Arm aus.

»Sagt mir erst, woher ihr wisst, was ich bei mir habe«, versuchte

Aurelia erneut dem Vermummten eine Antwort zu entlocken.

»Nun, Kapitän, ich würde es euch sogar sagen, wenn ihr, nachdem

wir uns der Tasche bemächtigt haben, anschließend nur noch

ein kalter Leichnam wäret. Leider haben Lebende die schlechte

Angewohnheit bei unpassender Gelegenheit zu viel zu reden. Also

ist es besser, ihr wisst von nichts. Gebt mir endlich die Tasche,

bevor es zu spät für euch ist.«

Mit seiner Aussage hatte der Vermummte unbesonnen etwas

Wichtiges verraten, nämlich, dass man sie nicht töten wollte oder

durfte, wofür auch der angedrohte Einsatz eines Lähmungszaubers

sprach. Im Gegenteil, ihr Leben musste wohl auf jeden Fall

verschont werden, was wiederum gewisse Rückschlüsse auf den

Auftraggeber zuließ, über den sie sich Gedanken machen würde,

sobald sie wieder in der Sicherheit ihres Schiffes war.

Der Leutnant lag inzwischen zu weit von ihr entfernt, als das sie

noch eine Chance sah, an sein Rapier zu kommen. So hielt sie den

überlangen Dolch wie eine Schwertkämpferin vor sich, um ihre

Gegner auf Distanz zu halten. Plötzlich hob der Angreifer, der

sich ein paar Schritte zurückgezogen hatte, seine Arme und rief

Worte einer fremden Sprache, um dabei gleichzeitig einen Zauberspruch

auf den Kapitän zu schleudern.

›Verflucht, ein Magier, verdammter Darq, gegen Zauberei bin

ich machtlos‹ dachte Aurelia und biss die Zähne zusammen. Gleich

würde sie gelähmt zu Boden sinken, um dann von diesen Halunken ausgeraubt

zu werden. In ihrer Wut verspürte sie kaum das leichte Vibrieren, das von

Meuchling in ihrer Faust ausging. Ein farbiges Irrlicht umspielte für einen

Wimpernschlag die Klinge, als diese den magischen Angriff auf seinen

Ausgangspunkt zurückschleuderte.

Aurelia traute ihren Augen nicht, als der Magier auf

einmal zusammenbrach und hilflos zu Boden sank. Maßlos überrascht

blickte auch der Anführer der Bande auf seinen regungslosen

Kampfgenossen, wobei er lauthals fluchte.

»Los, wir verschwinden, so sollte das nicht laufen. Man hat uns

nicht die Wahrheit gesagt, wir hauen ab.«

Er sah den Auftrag anscheinend als gescheitert an, doch was

nun folgte, war an brutaler Grausamkeit nicht zu überbieten. Er

beugte sich hinab und durchtrennte mit einem einzigen Schnitt die

Kehle seines gelähmten Mitstreiters. Fassungslos und mit angstgeweiteten

Augen hatte der letzte der Schurken zugesehen, wie sein

Anführer diese unmenschliche Tat verübte. Entsetzt schrie er auf,

drehte sich um und verschwand mit wehendem Schal im Gewirr

der Lagerschuppen. Hasserfüllt blickte der Mörder Aurelia ins

Gesicht. Dabei wischte er den blutigen Dolch seelenruhig am Gewand

des Toten ab und stieß hervor:

»Diesmal hat es nicht geklappt, Kapitän Lethos. Doch seid gewiss,

wir haben uns nicht das letzte Mal getroffen.«

Nach diesen Worten erhob er sich und tauchte im entstandenen

Getümmel unter. Zurück blieben zwei blutüberströmte Leichen sowie

der schwer verletzte Leutnant Velaro. Jetzt endlich trauten sich

die Umstehenden heran. Alle palaverten wild durcheinander während

sie immer wieder klagend mit den Händen gestikulierten.

»Holt einen Medicus«, verlangte Aurelia schwer atmend, immer

noch benommen vom schrecklichen Geschehen. »Der Leutnant ist

verletzt, er muss sofort versorgt werden – schnell, schnell.«

Sie schob den Dolch, der sie auf so wundersame Weise gerettet

hatte, zurück in die Scheide. Dann beugte sie sich über den leichenblassen

Leutnant. Er war bewusstlos und röchelte leise, doch

sein Atem ging fast normal. Dank Neptun blutete er kaum, denn

das Messer, das ihm noch im Leib steckte, verschloss die Wunde

wie ein Pfropf.

Aurelia blickte auf den toten Magier hinab. Sie bückte sich und

hob den Schal von seinem Gesicht. Überrascht schaute sie genauer

hin. Jedoch es gab keinen Zweifel, es waren die Gesichtszüge einer

Frau. Der Mann war eine Frau gewesen, unzweifelhaft. Allerdings

war sie ihr vollkommen unbekannt. Mochte der Sicherheitsdienst

von Joliko Gnorx herausfinden, wer die toten Angreifer waren oder

in wessen Auftrag sie handelten. Obwohl sie bereits die Ahnung

hatte, dass bei einer Untersuchung nicht viel herauskommen würde.

Als sie den Medicus heraneilen sah, erhob sie sich und machte

sich hastig auf, endlich ihr Schiff zu erreichen. An der Gangway

empfing sie ihr erster Offizier de’Soto.

»Was ist los, Käpt’n? Wir hörten von einem Tumult oder Überfall.

Doch genaueres konnte ich bisher nicht in Erfahrung bringen.«

»Viel hätte nicht gefehlt, de’Soto, dann hättet ihr das Kommando

über die Heilige Kuh übernehmen müssen. Ja, es gab einen

Überfall auf mich und meinen Begleiter. Wahrscheinlich sollten

mir die Gegenstände geraubt werden, die mir Agent Gnorx übergeben

hatte. Irgendjemand hat nicht dicht gehalten, denn sie wussten

genau, was sie wollten. Doch lasst mich zuerst an Bord, hier auf

dem Schiff fühle ich mich sicherer. Kommt in einer Stunde zu mir,

de’Soto, dann werde ich euch Genaueres mitteilen. Wir werden

beraten, wie wir weiter verfahren werden. Inzwischen fragt beim

Hafenamt nach, ob der Überfall gemeldet wurde und wie es dem

Leutnant Velaro geht. Vielleicht haben sie schon einen der geflüchteten

Halunken gefasst, was ich jedoch sehr bezweifeln möchte.

Noch eins, de’Soto, lasst eine Doppelwache an der Gangway aufstellen.

Niemand darf an Bord gelangen, der keine Erlaubnis von

mir oder euch erhalten hat.«

Zustimmend nickte de’Soto. Rasch führte er den Befehl des

Kapitäns aus, um sich anschließend selbst zum Hafenamt zu begeben …


Zeit: Gegenwart minus drei Jahre

Koordinate: Riva – Ladimara


Unterdessen erreichte eine heimliche Nachricht das Hauptquartier

der Diebesgilde in Ladimara und ein Botenwiesel machte sich

mit einer wichtigen Mitteilung auf den Weg zum Hafenviertel, wo

es eine bestimmte Taverne aufsuchte. Einige Zeit später verließ ein

kleines Boot, besetzt mit drei Insassen, seinen Anlegeplatz. Es ruderte

aus dem Hafen hinaus und verschwand im Gewirr der vielen

Inselchen, die verstreut im großen Delta des gleichnamigen Ladimaraflusses

lagen. Dieses Labyrinth bildete ein ideales Versteck für zwielichtige Gestalten.

Die große Gestalt auf der Hinterbank des kleinen Ruderbootes,

auffällig mit ihrer Augenkappe und dem dunklen Dreispitz auf

dem Kopf, wusste nun Bescheid. Sie konnte in Erfahrung bringen,

wofür sie die schmuddelige Hafentaverne aufgesucht hatte. Auch

der hohe Betrag, den der Mann in Form von Juwelen auf den

schmierigen Tresen des diebischen Wirtes legen musste, sollte sich

mehr als auszahlen. In den nächsten Tagen, soviel war sicher, würde

es zu ungewöhnlichen Aktivitäten kommen. Die Beute, hinter der

er her war, befand sich in greifbarer Nähe. Der Kapitän dachte

nicht daran, sie den verhassten Rotröcken zu überlassen. Seine Informanten

hatten gute Arbeit geleistet, denn die erhaltene Mitteilung

stammte aus verlässlicher Quelle und war fast unbezahlbar.

Das kleine Beutelchen Juwelen war daher leicht zu verschmerzen.

Es würde seinen Einsatz mit einem unendlich wertvolleren Gegenstand

wieder einbringen. Der Pirat seufzte innerlich tief auf. Endlich

– endlich war der solang gesuchte Gegenstand in Reichweite.

Nun bedurfte es nur noch einer geschickten Aktion, um sich in

den Besitz eines der seltensten Artefakte zu setzen, die das Magische

Universum zu bieten hatte.

Zwei Stunden ruderten die beiden kräftigen Matrosen durch

das Labyrinth der verschlungenen Wasserwege, die sich durch das

weitläufige Delta des Ladimaraflusses schlängelten. Immer wieder

veränderte es mit dem Kommen und Gehen der Jahreszeiten sein

Antlitz. Dabei täuschte er selbst alteingesessene Anlieger mit ständig

wechselndem Aussehen.

Endlich umrundete das Boot eine winzige Insel, die kaum

sechshundert Quadratfuß groß über und über von dichtem Grün

bedeckt war. Als das Boot die stark bewaldete Spitze hinter sich

ließ, bot sich dem Auge des Piratenkapitäns ein imposantes Bild.

Eine mächtige Viermastfregatte lag mit gerefften Segeln vor Anker

und dümpelte leicht im Takt der Wellen. Stolz ragten ihre Masten

in die Höhe und ein goldfarbener Schriftzug am Bug des Rumpfes

verkündete ihren ruhmvollen Namen: Sternenteufel.

Der Mann im Ausguck hatte sie bereits erspäht. Heftig winkte

er mit der Fahne das Signal: ›An Bord alles klar‹. Kurze Zeit später

erreichte das Ruderboot das gut dreihundert Fuß lange Schiff und

ging Backbord längsseits. Ein bärtiges Gesicht schaute über die

Reling und rief:

»Aye, Käpt’n . Der Erste wollte schon einen Trupp losschicken,

um euch in der Stadt zu suchen. Hatte wohl Sorge, dass euch etwas

zugestoßen sei, Sire.« »Lasst das Fallreep runter, Labida. Gebt

Grimmbart Bescheid, dass ich wieder an Bord bin«, ordnete Stern

an, wobei er geschickt die herabgelassene Strickleiter hochkletterte.

Oben erwartete ihn bereits sein treuer Jirr Baa’thok, der als ständiger

Schatten immer in seiner Nähe weilte.

»Es tut gut, euch wieder zu sehen, Käpt’n, denn es beunruhigt

mich, wenn ich nicht an eurer Seite bin. Diese Stadt riecht nach

Unrat und nach Abschaum. Außerdem wimmelt sie von Halunken,

Dieben und Mördern. Ihr solltet mich bei solchen Ausflügen

besser mitnehmen.«

»Mein treuer Jirr, das nächste Mal seid ihr dabei. Aber ein

Ghurka fällt auf wie ein Rotrock unter Piraten. Ihr wisst doch –

ich durfte kein Aufsehen erregen, daher musste ich euch auf dem

Schiff lassen«, beruhigte Hieronymus Stern seinen Leibwächter.

»Zudem bin ich durchaus in der Lage, auf mich aufzupassen. Außerdem

waren doch Plattfuß und Blutige Hand bei mir, das reicht als

Begleitung aus. Wie ihr seht, sind wir wohlbehalten zurück.«

Jovial legte Stern dem Ghurka eine Hand auf die Schulter, wobei

er sich ein wenig strecken musste. Er drückte sie leicht als Ausdruck

der Anerkennung für seine geäußerte Sorge und Loyalität,

dann schritt er mit ihm zusammen zur Kapitänsmesse.

Der Ghurka überragte ihn um fast einen Kopf. Der raubtierähnliche

Schädel mit seiner leicht hervorstehenden Schnauze, in der die

dolchspitzen Zähne eher an ein Haifischgebiss erinnerten, wirkte

furchterregend. Die große flache Nase fiel durch ihre weite Nüstern

auf. Sie bebte beim Luft holen mit einem leichten Vibrieren,

immer bestrebt, jeden Duftpartikel einzusaugen. Das Geruchsvermögen

eines Ghurka war einfach phänomenal. Zwei stechend

schwarze Augen blickten unter einer löwengleichen Mähne hervor

und musterten Stern mit einem unverhohlen besorgten Blick.

Die fahlgelbe Fellpracht ließ zwei handtellergroße Ohrmuscheln

frei, die sich wie bei einer Katze, in ständiger Bewegung befanden.

Ghurka besaßen ein sehr empfindliches Gehör, mit dem sie leiseste

Geräusche wahrzunehmen vermochten. Sie waren von der Natur

nahezu ideal ausgestattet worden und waren damit perfekte Jäger.

Im Unterschied zu Menschen sowie anderen zweibeinigen Rassen

verfügten die Ghurka über eine sechsfingerige Hand, die mehr an

eine krallenbewehrte Pranke denken ließ als an ein feingliedriges

Instrument zur Erschaffung handwerklicher Dinge. Dabei dienten

die beiden äußeren Glieder als Daumen, was ihnen eine unerhörte

Geschicklichkeit verschaffte.

Stern wusste, dass er sich keinen besseren Leibwächter wünschen

konnte als diesen gut ausgebildeten Ghurka. Nicht, dass er einen

benötigte, doch er konnte die Dienste von Jirr Baa’thok nicht abweisen.

Dieser hatte ihm Treue und Leibeigenschaft bis zu seinem

Tod geschworen als er ihm vor einigen Jahren das Leben rettete.

Eine Ablehnung hätte nach dem eigentümlichen Ehrenkodex der

Ghurka Jirr’s Selbstmord zur Folge gehabt. Außerdem sah er es als

Vorteil, einen guten Kontakt zu den Ghurka zu haben, denn dieses

Volk war stark und mächtig. Es hatte Kenntnis von vielen Dingen,

die für einen Piraten von Nutzen sein konnten

Es war nicht einfach für einen Ghurka, getrennt von seiner Rasse

zu leben, doch hin und wieder bekam Jirr Baa’thok Gesellschaft

von einem Angehörigen seines Volkes. Immer dann, wenn Shak el

Ko’hor, genannt ›Der Löwe<, sich die Ehre gab, als Gast des Kapitäns

an Bord zu sein, um ihn auf einige Fahrten als inoffizieller

Vertreter seines Volkes zu begleiten, unterhielt Jirr sich ausgiebig

mit dem erfahrenen el Ko’hor in der Sprache seines Volkes.

In der Kapitänsmesse wartete ein leichter Imbiss auf Stern,

denn sein Smutje Stinkefisch hatte vorausschauend mit seinem

Erscheinen gerechnet und einige Kleinigkeiten bereitgestellt. Schalen

mit Obst, Gemüse sowie eine hölzerne Platte mit herzhaftem

Brot und feinster Büffelmufftibutter luden zum Speisen ein. Während

sich Stern im angrenzenden Raum frisch machte und seinen

alten Weggefährten, den Papagei Balthasar begrüßte, betrat sein

erste Offizier und Stellvertreter die Messe. Adamir Grimmbart

war ein stattlicher Mann um die Fünfzig. Er stammte, wie sein

Kapitän, von der alten Erde. Sein kurzes Haar färbte sich bereits

mit leichtem Grau, doch die braunen Augen blickten streng, aber

klar aus seinem pockennarbigen Gesicht. Die hohe Stirn verriet

einen scharfen Verstand während das kantige Kinn auf einen willensstarken

Charakter schließen ließ. Sein Körper machte einen

etwas grobknochigen Eindruck und die Bewegungen wirkten nicht

unbedingt geschmeidig sondern eher etwas steif. Doch dieses Bild

täuschte gewaltig, denn der alte Haudegen konnte flink wie eine

Pitakatze sein.

Der Mann machte einen erfahrenen Eindruck, dabei strahlte er

eine gewisse Ruhe und Gelassenheit aus, ideale Eigenschaften für

einen Offizier des Sternenteufel. Auf dem, im Gegensatz zu fast

allen anderen Piratenschiffen, eine Art lockere militärische Ordnung

und Disziplin herrschte. Er trug keine Uniform, sondern

die übliche Bekleidung der normalen Matrosen. Sein grobes blaues

Leinenhemd steckte in einer derben grauen Stoffhose, die allerdings

von einem reich verzierten, breiten schwarzen Gürtel gehalten

wurde. Die Schwertscheide an der Seite war leer, nur ein langer

Dolch steckte in einem ledernen Futteral, wie auch die halbhohen

Stiefel aus dem gleichen Material waren, das er am liebsten trug.

Eine breite grüne Schärpe aus feinem Stoff, verziert mit einem

weißen Totenkopf, dessen rechte Augenhöhle durch eine Augenkappe

verdeckt war, lief schräg von der rechten Schulter bis zur

linken Hüfte. Sie verhalf dem erfahrenen Sternenfahrer zu jenem

Hauch verruchter Piratenromantik, der bei Frauen gut ankam.

»Wie ist es gelaufen, Jirr?«, erkundigte sich Grimmbart bei

dem großen Ghurka und setzte sich lässig auf einen der stabilen

Stuhlsessel, die um den großen Kapitänstisch standen. »Hat der

Kapitän die Informationen erhalten, deretwegen er in die Stadt

gegangen ist?«

Jirr Baa’thok fletschte abweisend mit den Zähnen, denn er redete

ungern und hielt sich lieber schweigsam im Hintergrund.

»Was fragt ihr, Grimmbart. Der Käpt’n ist gerade an Bord gekommen

und hat nichts erzählt. Bewahrt noch einen Augenblick

Geduld, dann werdet ihr es von ihm selbst hören«, bemerkte er

kurz und trocken mit seiner tiefen Stimme, die immer nach dem

grollenden Knurren eines irdischen Löwen klang.

Grimmbart langte zur Obstschale und nahm eine saftige Kirifrucht,

die er genüsslich in den Mund schob. Bevor er dem mundfaulen

Ghurka eine weitere Frage stellen konnte, öffnete sich die

hintere Tür der Messe und der Kapitän erschien in der Öffnung.

»Lasst es euch ruhig schmecken, Adamir. Ihr bekommt ja selten

etwas Gesundes zwischen die Zähne. Da ist es nur recht, wenn ihr

jede Gelegenheit nutzt, um etwas Vernünftiges zu euch zu nehmen.

Vielleicht solltet ihr weniger von diesen verdammten Räucherstäbchen

qualmen. Sie verpesten nicht nur die Luft, sondern

machen auch die Lenden lahm.«

Grimmbart musste lachen. Dabei gab er Zähne frei, die bereits

ziemlich verfärbt waren. Eine Folge übermäßigen Genusses

dieses Lasters, das immer weiter um sich griff. Stern setzte sich

neben seinen Stellvertreter während der Ghurka es vorzog, stehen

zu bleiben, wobei er mit wachen Augen Tür und Raum im Blick

behielt.

»Es hat geklappt, Grimmbart. Der Informant in dieser schmierigen

Hafentaverne hatte nicht gelogen. Wie ihr wisst, erhielt ich

die Nachricht von einem Agenten der Rotröcke aus Shan’hor, dem

Sitz des hiesigen Statthalters des Tempels. Er bot mir für eine

nicht unbeträchtliche Summe Informationen an, die uns Kurs und

Ladung einer Galeone des Tempels verrät. Und – Grimmbart, sie

hat wertvolle Fracht geladen, unter anderem auch mehrere Tonnen

Bastillafelle.«

Der Erste hob die Augenbrauen, wobei er anerkennend mit der

Zunge schnalzte. »Bastillafelle, wie schön. Die sind einen Haufen

Silberlinge wert, das wird der Mannschaft gefallen. Sie will mal

wieder richtige Beute machen, nicht nur Fässer mit Bier und Wein

schleppen, die sie nicht mal selber leeren dürfen. Oder, wie beim

vorletzten Beutezug, nur Kisten mit Spektrakel als Ladung.«

»Die Felle und der Rest der Ladung sind nur Tarnung, Grimmbart.

Nein, diese Galeone ist ein besonderes Schiff. Wie ich hörte,

segelt dieser Kapitän des Öfteren im Auftrag der Tempeloberen.

Er bringt außerordentlich wertvolle Fracht in ein geheimes Depot

dieses scheinheiligen Ordens. Ich glaube, wir sind auf eine heiße

Spur gestoßen. Wenn wir sie zu deuten verstehen, führt sie uns zu

den Reichtümern des Tempels.«

Grimmbart bekam große Augen.

»Meint ihr wirklich, Käpt’n? Ihr sucht bereits lange nach den

Schatzkammern des Tempels. Doch bisher gab es nur Gerüchte

und wir sind stets irgendwelchen Phantomen nachgejagt. Sollte es

diesmal anders sein?«

Leiser Zweifel mischte sich in seine Stimme.

»Mit Sicherheit, Adamir, mit Sicherheit. Denn bei dieser Fracht

gibt es noch etwas Besonderes, auf den Rest der Ladung könnten

wir getrost verzichten. Das Schiff soll mehrere magische Artefakte

nach Thetis bringen, so ist mir glaubhaft versichert worden. Und

eines dieser Artefakte ist ein echtes Sehendes Auge. So etwas vertraut

man keinem normalen Kapitän an, niemals.« Grimmbart holte

tief Luft.

»Kaum zu glauben, Käpt’n. Ich habe noch nie eines zu Gesicht

bekommen und halte seine Existenz fast für ein Märchen. Vermutlich

handelt es sich auch nur um eine gewöhnliche Kristallkugel,

wie sie Wahrsager und Seher auf den Jahrmärkten benutzen.«

Hieronymus Stern schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Adamir, es

gibt sie wirklich. Vor langer Zeit ist mir eins in die Hände gefallen.

Doch leider kam es mir abhanden und ich weiß bis heute nicht,

wer es mir gestohlen hat. Allein wegen dieser Artefakte lohnt es,

die Galeone zu kapern. Sie segelt ohne jeden Geleitschutz und

dabei verlässt sie sich nur auf ihre Tarnung und gute Bewaffnung.

Wir sollten uns einen gerissenen Plan ausdenken, wie wir sie ohne

große Verluste entern können. Vor allem müssen wir verhindern,

dass sie sinkt, bevor wir diese Artefakte an uns genommen haben.«

Grimmbart nickte zustimmend. Der alte Kampfgenosse von

Stern hatte großes Vertrauen in die Fähigkeit seines Kapitäns, der,

wie er selbst, von der alten Erde stammte. Sie segelten schon lange

Jahre unter gemeinsamer Flagge und waren aufeinander eingespielt.

»Wie viel Zeit haben wir, Käpt’n? Wann wird die Galeone den

Hafen von Shan’hor verlassen?«

Stern überlegte einen langen Augenblick, bevor er antwortete.

»Hmm …, die Fahrt nach Ladimara dauert unter normalen

Wetterbedingungen ungefähr zehn Tage. Ihr hier im Delta aufzulauern,

wäre zu gefährlich, da sie Hilfe aus der Stadt erhalten

könnte. Wir sollten ihr also entgegen segeln und an einer der kleinen

unbewohnten Inseln abfangen, an der ihr Kurs sie vorbeiführen wird.«

Mit dem Finger deutete er auf einen Punkt der Seekarte, die er

zwischenzeitlich auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

»Hier, Grimmbart, bei dieser Insel werden wir sie uns schnappen

und ich habe auch schon eine Idee, wie wir es anstellen werden.«

Skeptisch blickte Grimmbart seinen Kapitän an und ahnte, dass

dieser wieder eines seiner Husarenstücke ausgeheckt hatte. Mit

ausführlichen Worten beschrieb Hieronymus Stern seinem ersten

Offizier den Plan, der ihm bereits seit einiger Zeit durch den Kopf

gegangen war und sein Auge funkelte in diebischer Vorfreude.

›Verrückter Kerl‹, dachte Grimmbart. Er seufzte innerlich, sagte

jedoch laut: »Hieronymus, euer Vorhaben ist so unwahrscheinlich,

dass es sogar gelingen könnte und wenn nicht, dann können wir

mit dem Sternenteufel immer noch direkt angreifen, um die Galeone

zu entern. Wenn es klappt, wird es kaum Tote geben und wir

ersparen uns ein blutiges Gefecht. Also los, packen wir’s an!«

Mit einem hinterlistigen Lächeln blickte er zu dem aufmerksam

lauschenden Ghurka hinüber.

»Und ihr, Baa’thok, bereitet euch schon mal auf euren großen

Auftritt vor. Ich hoffe ihr seid nicht wasserscheu, mein Lieber.«

… vor sechs Tagen hatte die Heilige Kuh den Hafen von Shan’hor

verlassen und segelte unter Vollzeug mit Kurs auf Ladimara. Der

Wind blies kräftig und füllte die Segel mit seinem lauwarmen

Atem. Die tief liegende Galeone machte trotz ihrer schweren Ladung

gute Fahrt. Sie würden, wenn nicht noch ein Sturm aufzog,

in vier Tagen den Hafen von Ladimara erreichen. De’Soto blickte

missmutig über das Deck. Überall waren die Matrosen eifrig am

arbeiten, denn keiner wollte den Unmut des ersten Offiziers auf

sich ziehen. Zu schnell war er mit der neunschwänzigen Katze bei

der Hand. Dabei ließ er oft bereits kleinste Vergehen hart bestrafen.

Wenn nicht manchmal der Kapitän mäßigend eingegriffen

hätte, wer weiß, vielleicht wäre es unter den Matrosen schon zu

einer Meuterei gekommen. De’Soto war unbeliebt, er wusste es,

doch es störte ihn wenig. Solange das niedere Volk seine Arbeit

verrichtete, waren ihm Sorgen und Nöte dieser Menschen keinen

Gedanken wert. Es beunruhigte ihn, dass er trotz Einsatzes der

üblichen Bestechungsmethoden keine genaueren Informationen in

Erfahrung bringen konnte, die mit dem Überfall auf Kapitän Lethos

in Zusammenhang standen. Das erschien ihm äußerst ungewöhnlich,

denn bisher hatte der Geheimdienst immer Mittel und

Wege gefunden, um Informationen zu erlangen.

Agent Gnorx war äußerst ungehalten darüber gewesen, dass es

im Hoheitsgebiet des Tempels zu einem Überfall gekommen war.

Sein Adjutant hatte den Angriff zwar schwer verletzt überlebt,

jedoch würde er mit Sicherheit einige Zeit ausfallen. Die beiden

toten Angreifer waren den ermittelnden Behörden unbekannt und

niemand konnte sie identifizieren. Rätselhaft blieb daher auch,

woher sie kamen und wo sich ihr Unterschlupf befand. Ebenso

unklar blieb, wie sie an die Information gelangen konnten, dass

Kapitän Lethos wertvolle Artefakte bei sich führte. Es gab keinerlei

Anhaltspunkte, wie aus dem Nichts waren sie aufgetaucht

und im Nichts waren die beiden Überlebenden anscheinend auch

wieder verschwunden.

Agent Gnorx hatte sofort den Sicherheitsdienst der örtlichen

Tempelniederlassung alarmiert, der unverzüglich eine Suchaktion

gestartet hatte. Überall hingen Mitteilungen der Behörden, die für

Hinweise oder Ergreifung der Gesuchten eine hohe Belohnung

aussetzten. Es war wie verhext, nichts tat sich und die Zeit lief

ihnen davon, denn das Schiff musste unter allen Umständen am

nächsten Tag den Hafen verlassen.

Kapitän Lethos drängte auf baldigen Aufbruch, um die übergebenen

Artefakte vereinbarungsgemäß so schnell als möglich

zu ihrem Bestimmungsort zu bringen. Dies war auch im Sinne

de’Sotos, denn es konnte seiner Karriere nur nützen, wenn er diese

Mission erfolgreich beendete. Er musste es Agent Gnorx und dem

hiesigen Sicherheitsdienst überlassen, die Hintergründe herauszufinden

und die Gesuchten ausfindig zu machen. Seine Erfahrung

sagte ihm, dass hinter dieser Angelegenheit eine größere Sache verborgen

lag, denn der Jagdinstinkt des Geheimdienstmannes meldete

sich mit Macht in de’Soto. Ein Ruf des Matrosen im Top

unterbrach seine Überlegungen.

»Schiffbrüchiger in Sicht, Erster. Steuerbord voraus – gegen 14 Uhr.«

De’Soto setzte das Spektrakel ans Auge, wobei er suchend in

die angegebene Richtung blickte. In weiter Ferne nahm er die Silhouette

einer kleinen Inselgruppe wahr, die sie in weitem Abstand

passieren würden. Die Dünung war mäßig, doch eine einzelne Person

war in den Weiten dieser Wasserwüste schwer auszumachen.

Normalerweise war sie nur zu sehen, wenn sie gerade auf dem

Kamm einer Welle ritt.

Inzwischen war auch Kapitän Lethos auf Deck erschienen.

Wortlos suchte sie mit ihrem Spektrakel, das etwas größer als seines

war, die Meeresoberfläche ab.

»Wo genau habt ihr den Schiffbrüchigen gesichtet?«, rief sie

fragend zum Top hoch.

Der Matrose sah von seinem hohen Aussichtspunkt nochmals

genau durch sein Sehrohr. Dann deutete er mit dem Arm in die

angegebene Richtung.

»Ungefähr zwei Seemeilen Steuerbord, Käpt’n. Der Schiffbrüchige

scheint sich an einem Stück Treibholz festzuhalten und

winkt zu uns herüber.«

Aurelia überlegte nur kurz. Es war seemännische Pflicht, einem

Schiffbrüchigem zu Hilfe zu eilen. Auch wenn es sie zur Eile

drängte, den Hafen von Ladimara so schnell als möglich zu erreichen,

konnte sie den Hilflosen nicht einfach seinem Schicksal

überlassen. De’Soto bemerkte aus den Augenwinkeln, welche Gedanken

dem Kapitän durch den Kopf gingen. Doch er hütete sich,

Einspruch gegen eine Rettungsaktion anzumelden. Das würde seinem

Ansehen nicht nur bei der Mannschaft, sondern auch beim

Kapitän den letzten Todesstoß versetzen und es würde vermutlich

nicht lange dauern, bis er eines Nachts mit einem Messerstich im

Rücken über Bord ging.

›Also besser die Gelegenheit für ein besseres Ansehen nutzen‹,

dachte de’Soto mürrisch.

»Käpt’n, ohne dass ich eurem Befehl zuvorkommen will – doch

wir sollten den Kurs ändern und dem Schiffbrüchigen zu Hilfe

eilen. Er ist nicht weit entfernt. Unser Zeitverlust wird sich daher

in Grenzen halten.«

Überrascht blickte Aurelia ihren ersten Offizier an. Eine solche

Bemerkung hätte sie von diesem eiskalten Geheimdienstoffizier

nicht erwartet.

»Das hatte ich auch vor, Erster. Doch es freut mich, dass wir

einer Meinung sind. Gebt dem Steuermann Befehl, Kurs auf den

Schiffbrüchigen zu nehmen und bereitet alles für die Bergung vor.«

»Aye Käpt’n, wird erledigt.«

De’Soto wandte sich an den Steuermann, um ihm die notwendigen

Befehle zu erteilen. Anschließend rief er den zuständigen

Bootsmaat zu sich.

»Sobald wir in der Nähe des Schiffbrüchigen sind, werft die

Strickleiter über die Reling. Falls er zu schwach sein sollte, um

selbst zu klettern, muss ein Beiboot zu Wasser gelassen werden,

damit wir ihn an Bord holen können.«

»Zu Befehl, Master. Ich werde selbst die Rettungsaktion übernehmen.

Zur Unterstützung hole ich mir noch zwei Matrosen«,

antwortete der Maat diensteifrig.

Schwerfällig drehte die Galeone auf den neuen Kurs, wodurch

sie sich langsam der heftig winkenden Person auf dem Treibgut

näherte. Aurelia verfolgte mit wachem Blick das Geschehen und

versuchte, die Person auf dem Wasser wieder in den Fokus ihres

Spektrakels zu bekommen. Inzwischen war die Galeone um einiges

dichter an sie herangerückt und deutlicher als zuvor konnte

sie die winkende Gestalt in Augenschein nehmen.

War das überhaupt ein Mann?

Irgendetwas stimmte nicht mit seinem Aussehen. Doch der

Kopf tauchte immer nur kurz aus einem Wellental empor, um anschließend

wieder in der Dünung zu verschwinden. Daher war es

schwierig, Genaueres zu erkennen. Trotzdem glaubte Aurelia eindeutig,

eine fellbedeckte Gestalt erkannt zu haben. Was wollten

sie sich da an Bord holen?

»De’Soto«, rief sie ihrem ersten Offizier zu. »Lasst bei der Bergung

Vorsicht walten. Stellt sicherheitshalber zwei bewaffnete Matrosen

in die Nähe. Ich glaube, unser neuer Gast ist kein menschliches

Wesen sondern Angehöriger einer fremden Rasse.«

Überrascht hob de’Soto sein Spektrakel und versuchte das treibende

Bündel genauer in Augenschein zu nehmen. Inzwischen lagen

nur noch gut zweihundert Yard zwischen dem Schiffbrüchigen

und der Heiligen Kuh und so konnte er, auch mit seinem kleineren

Glas, Einzelheiten klar erkennen.

›Bei Neptun‹, dachte er verblüfft. ›Der Kapitän hat recht.‹

»Ich kann ihn jetzt deutlich sehen, Käpt’n und ihr habt recht, es

ist kein Mensch. Wir retten einen verdammten Ghurka.«

De’Soto verfluchte die Schicksalsgöttin. Ausgerechnet ein Angehöriger

dieses Volkes wurde von einem Schiff des Tempels gerettet,

welch ein Hohn. Das Verhältnis zwischen Menschen und

Ghurka war allgemein nicht schlecht. Eben wie zwischen Nachbarn,

die miteinander auskommen mussten ohne sich wirklich zu

mögen. Doch dem Tempel waren sie suspekt, wobei dieses Empfinden

durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Zu groß und zu

mächtig war der Einfluss der Ghurka auf den Handel des Arms.

Er störte damit das heimliche Machtstreben des inneren Zirkels

der Tempelführung.

Die Sekte konnte die Ghurka nicht unterwandern und ebenfalls

nicht verhindern, dass auf vielen Welten Handelsstationen dieses

Volkes eingerichtet wurden, mit denen die dortigen Bewohner regen

Waren- und Informationsaustausch trieben. Die Ghurka waren

raffiniert und gerissen. Sie fingen ihre Kunden mit niedrigen

Preisen, um, nachdem sie Fuß gefasst hatten, ihre Gewinnspannen

nach und nach zu steigern. Sie waren, schlicht gesagt, Sand im Getriebe

des gut geölten Uhrwerks, das die Sekte so erfolgreich betrieb.

Daher versuchte der Tempel mit aller Macht seinen Einfluss

geltend zu machen, um die lästige Konkurrenz zurückzudrängen.

Dazu setzte der Tempelorden vor allem auf die Arbeit seiner

örtlichen Agenten als auch des Geheimdienstes, der immer wieder

heimliche Aktionen gegen die ungeliebten Ghurka verübte. Wenig

erstaunlich daher, dass der heimliche militärische Arm der Sekte,

die gefürchteten Roten Korsaren, bevorzugt Handelsschiffe der

Ghurka überfiel.

De’Soto lächelte grimmig. Möglicherweise ergab sich die Gelegenheit,

aus diesem Schiffbrüchigen einige Informationen von

Wert für den Tempel herauszuholen.

In der Zwischenzeit hatte der Bootsmann, am Fallreep hängend,

mit einer wahrhaft artistischen Leistung den Ghurka gepackt, um

ihn auf die Strickleiter zu hieven. Er wirkte geschwächt, konnte

sich jedoch aus eigener Kraft festhalten und mit Hilfe des Bootsmannes

mühsam das Fallreep hochklettern. De’Soto überwand

seine Abneigung, packte den fremden Seefahrer am Arm und half

ihm persönlich über die Reling. Dann betrachtete er den durchnässten

Fellberg aus unmittelbarer Nähe.

»Ich kann nicht sagen, dass ich über die Rettung eines Ghurka

hocherfreut bin. Doch Nantau erbarmt sich jeder Kreatur. Damit

gewährt der Tempel auch Angehörigen anderer Rassen Schutz und

Hilfe, so sie denn benötigt wird. Seid ihr soweit bei Kräften, dass

ihr mir euren Namen nennen könnt, Ghurka?«

Leicht schwankend stand der löwenköpfige Riese vor ihm. Erleichtert

und dankbar schaute er seinem Retter in die Augen.

»Mein Name ist Ja’hir el Prado. Ich danke euch für eure Hilfe. Ihr

habt mir das Leben gerettet, Mylord. Denn ohne eure Unterstützung

wäre ich sicherlich umgekommen. Könnte ich etwas Wasser

zu trinken bekommen? Ich treibe seit drei Tagen in der heißen

Sonne und bin am verdursten«, bat der Ghurka mit grollender,

jedoch schwacher Stimme. Sein Banderash war einwandfrei zu verstehen

und keinerlei Akzent darin zu vernehmen.

Herrisch winkte de’Soto einen Matrosen herbei und befahl ihm

einen Krug mit frischem Wasser für den Schiffbrüchigen zu bringen.

»Natürlich, Ja’hir. Wir danken Nantau, dass wir euch retten

konnten. Schließlich wird jede gute Tat von den Göttern vergolten,

also haben wir alle gewonnen. Ihr euer Leben und wir steigen

eine Sprosse höher auf der Leiter der Glückseligkeit, so wie es uns

unser Glaube verheißt. Ich bin übrigens der erste Offizier dieser

Galeone. Mein Name ist Master de’Soto, ihr solltet euch diesen

Namen gut merken«, informierte der stellvertretende Kommandant

der Heiligen Kuh den Geretteten zweideutig.

Der Ghurka setzte den herbeigebrachten Krug an den Mund.

Mit gierigen Schlucken trank er die Hälfte des Gefäßes leer, bevor

er es erstmals absetzte.

»Maat, besorgt einigermaßen passende Kleidung für unseren

Gast und bringt sie in die Kapitänsmesse«, erteilte der Erste Anweisung,

bevor er sich wieder dem Ghurka zuwandte.

»Seid so freundlich, mich in die Kapitänsmesse zu begleiten,

Ja’hir. Dort werdet ihr euch umkleiden können. Außerdem stehen

Wein und Speise zur Stärkung für euch bereit. Kapitän Lethos

wird euch empfangen und einige Fragen haben, die ihr, so ihr euch

dazu imstande seht, bitte beantwortet.«

»Ich nehme euer Angebot dankend an, Master de’Soto«, antwortete

Ja’hir mit bereits kräftigerer Stimme, wobei er die allgemein

gebräuchliche Anrede für Personen mit Befehlsgewalt benutzte.

»Steuermann, setzt das Schiff wieder auf alten Kurs«, gab

de’Soto lautstark Anweisung an den Rudergast, bevor er sich in

Richtung Kapitänsmesse bewegte, um gleichzeitig mit einer Handbewegung

die beiden bewaffneten Matrosen fortzuscheuchen.

»Lasst mich bald mit dem Kapitän sprechen, Master de’Soto.

Möglicherweise gibt es einen Grund, noch etwas in diesem Gebiet zu bleiben.«

Erstaunt blickte de’Soto den in einer aufgeweichten Uniform

steckenden Ghurka fragend an, sagte jedoch nichts.

›Was sollte uns in dieser öden Wasserwüste interessieren‹, dachte

er verächtlich. ›Die Sonne hat ihm wohl zulange das Hirn gebraten

und er ist nicht mehr ganz bei Verstand.‹

Die Kapitänsmesse war ein großer geräumiger Raum und, wie

es dem Kapitän einer Hallelujagaleone zustand, üppig ausgestattet.

Aurelia erwartete bereits mit Spannung den geretteten Ghurka, den

sie mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen begrüßte.

»Darf ich vorstellen, Käpt’n . Ja’hir el Prado, der in Seenot geratene

Ghurka, den zu retten uns Nantau erlaubte. Dies ist der

Kapitän der Heiligen Kuh, Mylady Aurelia von Lethos«, beendete

de’Soto die formelle Vorstellung.

Es klopfte an der Tür und nach einem kurzen Moment des

Zögerns trat der Bootsmaat ein, der ein Bündel Kleidung hereinbrachte.

»Bevor wir unsere Unterhaltung fortsetzen, sollte sich unser

Gast erst einmal frisch machen und trockene Kleidung anziehen.

Danach kann er sich ausgiebig stärken, um nebenbei zu berichten,

was ihm zugestoßen ist«, schlug Aurelia vor, wobei sie auf die Tür

zum Nebenraum wies.

»Dort findet ihr alles, um euch herzurichten, Master Ja’hir. Seid

so freundlich und nutzt die Annehmlichkeiten, die mein Schiff zu

bieten hat. Betrachtet euch als mein Gast.«

»Mein ergebener Dank, Kapitän Lethos. Ich nehme euer Angebot

an und werde es gerne nutzen. Doch zuvor möchte ich euch

noch bitten, das Schiff solange kreuzen zu lassen, bis ich euch

weitere wichtige Informationen gegeben habe, die von großer Bedeutung

für euch sein könnten.«

Überrascht, wie zuvor de’Soto, schaute Aurelia den immer noch

nassen Ghurka an. Sie blickte in zwei schwarze Augen, die ihr vertrauenswürdig

erschienen. Einer inneren Eingebung folgend, entschloss

sie sich auf ihre Intuition zu hören, obwohl dies eindeutig

gegen die Dienstanweisungen eines Kapitäns verstieß.

»In Ordnung, Master Ja’hir. Ihr habt mich neugierig gemacht.

Ich denke, dass eine Stunde Verzögerung genügen sollte, eure Geschichte anzuhören.

Danach werde ich entscheiden, wie wir weiter verfahren werden. Es wäre jedoch in

unser aller Interesse wenn ihr euch etwas beeilen könntet, damit die Mannschaft nicht beunruhigt wird.«

»Danke für euer Vertrauen, Kapitän. Ihr werdet es nicht bereuen.«

Nach diesen Worten verschwand der Ghurka mitsamt dem

Kleiderbündel im angrenzenden Raum, um sich zu trocknen und

umzuziehen.

De’Soto frohlockte innerlich. Sollte sich der Kapitän geirrt haben,

musste sich diese Entscheidung nachteilig in ihrer Akte auswirken.

Damit würden sich seine Chancen, das Kommando über

die Heilige Kuh zu erhalten, deutlich erhöhen.

Zehn Minuten später erschien Ja’hir in den geliehenen Kleidern,

die ihm trotz aller Mühe des Quartiermeisters, viel zu klein waren.

Doch sie waren trocken und würden für den Augenblick ihren

Zweck erfüllen, bis seine eigene Uniform gereinigt und frei von

Feuchtigkeit war.

Unterdessen hatte Aurelia aus der Kombüse einige Schüsseln

mit Früchten und Obst kommen lassen und dazu eine Flasche

Wein sowie Quirr auf den Tisch gestellt. Dabei handelte es sich um

ein beliebtes Mischgetränk, das aus gegorener Büffelmufftimilch

und abgestandenem Bier hergestellt wurde.

»Nehmt Platz, Master Ja’hir. Bedient euch – ihr müsst doch

ziemlich ausgehungert sein, wenn ihr schon mehrere Tagen hilflos

im Meer getrieben seid.«

Mit einladender Handbewegung forderte sie den Ghurka auf,

sich an den großen Tisch zu setzen und bei den Speisen zuzulangen.

Behutsam nahm der Riese Platz, wobei er das Ächzen

des Stuhlbeins ignorierte, dem mit einmal ein so großes Gewicht

zugemutet wurde. Hungrig griff Ja’hir in die Schale und nahm

sich gleich mehrere Früchte, in die er gierig hineinbiss. Hastig verschlang

er einige der wohlschmeckenden Kiri und wischte den herablaufenden

Saft mit dem Hemdsärmel ab.

»Entschuldigt mein Benehmen, Kapitän. Für gewöhnlich speise

ich mit Besteck und weiß mich sehr wohl gesittet zu benehmen.

Ich entstamme einer hochgestellten Familie und wurde entsprechend

erzogen. Allerdings verspüre ich einen solch unbändigen

Heißhunger, dass er mich meine guten Manieren vergessen lässt.«

»Macht euch darüber keine Gedanken, Master Ja’hir. Ich habe

vollstes Verständnis für dieses Verhalten und kenne durchaus

schlimmere Tischsitten. Doch berichtet, was ist euch zugestoßen

und wie seid ihr in diese Lage gekommen?«

Gespannt warteten Aurelia und de’Soto auf den Bericht des

Ghurka und in den Augen des ersten Offiziers glomm ein gefährliches

Licht auf.

»Nun, ich bin oder war, zumindest bis vor ein paar Tagen, persönlicher

Adjutant von Kapitän Jom’hur el Prado. Er ist, nein war,

ein naher Verwandter von mir, wie ihr an der Namensgleichheit

sicherlich bereits bemerkt habt. Ich stand bereits seit einigen Jahren

in seinen Diensten und erfüllte meine Pflicht mit Eifer und

Hingabe, wie es sich für einen el Prado geziemt. Er kommandierte

die Zweimastfregatte ›Stolz von Prado’. Dies ist der Familienname

unseres Clans, müsst ihr wissen. Wir befanden uns auf dem Weg

nach Riva weil mein Vetter, der Kapitän, hier einen heimischen

Agenten treffen wollte, um eine wertvolle Fracht zu übergeben. Da

Kapitän Jom’hur die Hauptroute unbedingt zu vermeiden dachte,

kamen wir über eine der selten befahrenen Nebenstrecken unserem

Ziel näher. Anschließend war geplant, nach Joy zu segeln, wo der

Kapitän an den JIXX-Spielen teilnehmen wollte.

In der Nähe des Sternenhaufens Glas’him, euch bekannt unter

dem Namen Das Auge des Drachen, entdeckten wir eine Scilla. Wie

ihr wohl wisst, Kapitän, sind sie selten im Sternenmeer anzutreffen.

Sie stellen in der Regel eine große Gefahr für jedes Schiff dar,

doch diese Scilla nicht, denn sie lag unmissverständlich im Sterben.

Dies ließ sich eindeutig daran erkennen, dass ihre Lebensblase

kaum noch vorhanden war. Deshalb entschloss sich unser tapfere

Kapitän, die Scilla anzugreifen. Es gelang uns, sie zu töten. Doch,

obwohl sie fast schon tot war, fügte sie uns in ihrem Todeskampf

noch schweren Schaden zu.«

Ja’hir zitterte kurz bei dieser Schilderung und wandte für einen

Augenblick seinen Kopf zur Seite, um einen Schluck Wein zu sich

zu nehmen. Dann nahm er das Wort wieder auf, um mit seinem

Bericht fortzufahren, dem die beiden Zuhörer gebannt lauschten.

»Es ist unter Sternenfahrern allgemein bekannt, dass ältere Scillamännchen

in ihrem Zweitmagen oft Gegenstände aus Schiffsüberfällen

aufnehmen. Gelegentlich sind wertvolle Schätze darunter.

Daher hat es sich unser Kapitän nicht nehmen lassen, danach

zu suchen. Und – Mylady, Mylord, er wurde fündig. Dieses alte

Scillamännchen war geradezu vollgestopft mit allen möglichen

Dingen. Teilweise zerstört oder beschädigt gab es trotzdem genug,

dass sich lohnte, mitzunehmen. Es war eine wirklich fette Beute

und hätte den Schaden, den die Scilla angerichtet hatte, mehr als

wettgemacht. Doch wir wurden bereits verfolgt, denn eine Dreimastfregatte

der Roten Korsaren hatte uns gesichtet und sich an

unseren Kurs gehängt.«

De’Soto merkte auf. Er wusste natürlich, das die Roten Korsaren

oftmals im Auftrag des Tempels unterwegs waren, denn sie

stellten den geheimen militärischen Arm des Ordens dar. Über

dessen Aufgaben allerdings nur die wenigsten Personen des engsten

Zirkels informiert waren. Handelte dieser Rote Korsar womöglich

mit Order des Tempels oder war er auf eigene Rechnung

unterwegs? Dieser Sache würde er auf Thetis genauer nachgehen.

De’Soto wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bericht des

Ghurka zu. »Wir erreichten schließlich knapp vor den Korsaren

Riva, wo wir in diesem Gebiet die Planetenwasserung vollzogen.

Normalerweise sollten wir näher bei Ladimara herunterkommen,

doch reichte der Sternenstaub nur noch bis hierher oder es gab

eine falsche Berechnung – ich weiß es nicht. Unser Kapitän wusste

jedenfalls die Korsaren im Nacken, daher fürchtete er um seine

hart erkämpfte Beute. Da bot sich diese kleine Inselgruppe an, die

wir nur wenige Meilen von hier entfernt sichteten. Im Schutz der

Dunkelheit setzten wir mit einer Pinasse über und brachten die

wertvollsten Stücke der Beute sowie die meisten Kisten in einer

Höhle unter. Deren Eingang haben wir anschließend sehr sorgsam

verdeckt, so gut, dass sie ein Unbefugter nicht finden dürfte.

Kaum waren wir zurück, der Tag graute bereits, tauchte die Fregatte

des Korsaren mit vollen Segeln in unserer Nähe auf. Es gab

keine Chance, ihr zu entkommen. Im Schutz der Nacht hatten

sie sich unbemerkt genähert. Wir hätten im Sternenmeer vielleicht

entkommen können, denn unser Schiff war mit Sicherheit schneller.

Doch es war im Kampf mit der Scilla zu schwer beschädigt

worden, daher holte uns dieses Korsarenschiff ein. Sie hissten ihre

blutrote Fahne mit dem Totenschädel, um kurz darauf das Feuer

zu eröffnen. Wir waren knapp an Pfeilen und Geschossen, denn

der Kampf mit der Scilla hatte uns mehr Munition gekostet als

der Kapitän erwarten konnte. Sie haben uns schnell ausmanövriert,

zudem schossen sie unsere Segel in Brand und gingen dann längsseits,

um uns zu entern. Was dann kam …«

Wieder schwieg Ja’hir in Erinnerung an das blutige Geschehen

während ihm zwei einsame Tränen aus den Augenwinkeln rannen.

»Die Männer der Ghurka sind mutige und tapfere Kämpfer,

die im Zweikampf kaum zu besiegen sind. Doch diese Bestien

waren wie von Sinnen. Sie stürmten mit fanatischem Gebrüll und

Schaum vor dem Mund unser Schiff. Ich bin mir sicher, dass sie

alle unter Drogen standen, denn sie kannten kein Erbarmen. Sie

metzelten selbst diejenigen nieder, die ihre Waffen wegwarfen, um

sich zu ergeben. Die Angreifer waren uns an Zahl und Ausrüstung

weit überlegen. Möglicherweise wurde sogar Magie eingesetzt, ich

vermag es nicht zu sagen. Innerhalb von nur zwei Stunden war unser

Schiff erobert. Ich versteckte mich am Bugspriet unterhalb der

Galionsfigur. Dort hing ich ungesehen über drei Stunden. In dieser

Zeit ging das Morden und Schlachten unaufhörlich weiter. Immer

wieder warfen sie Tote über Bord. Das Meer war übersäet mit den

Leichen meiner toten Kameraden.

Dann folterten sie den Kapitän, meinen Vetter ersten Grades,

mit brutaler Grausamkeit. Ich höre noch immer seine Schreie.

Doch er erwies sich der Familienehre würdig und verriet ihnen

nichts von der Beute. Er starb mit dem Heldengesang seines Clans

auf den Lippen. Ich …, ich bin stolz auf ihn. Er lebe hoch …

und möge er den Platz unter seinen Ahnen einnehmen, wie es ihm

gebührt!«

Einerseits ergriffen, andererseits entsetzt von seiner Erzählung,

hob Aurelia den Kelch, wobei sie dem Ghurka mitfühlend

zunickte. Dieser stürzte den Inhalt seines Bechers in einem Zug

hinunter, um dann gedankenverloren ins Leere zu blicken.

»Was geschah dann?«, unterbrach die kalte Stimme von de’Soto

seine augenscheinlich grauenhaften Erinnerungen.

»Die Korsaren hatten die komplette Besatzung getötet und

über Bord geworfen, wo sie innerhalb kurzer Zeit von den großen

Raubfischen gefressen wurden. Diese Bestien wurden von dem

vielen Blut angelockt, denn sie tauchten in ganzen Schwärmen auf.

Mich verließen langsam die Kräfte, ich wusste, dass ich mich nicht

mehr lange halten konnte. Die Piraten hatten eine Prisenmannschaft

an Bord gebracht, um das erbeutete Schiff nach Ladimara

zu segeln, wo sie vermutlich ihr Versteck hatten – ich weiß es

nicht. Jedenfalls sah ich die Inseln langsam hinter dem Horizont

verschwinden, womit ich jede Hoffnung verlor, mit dem Leben

davon zu kommen.

Als ich in geringer Entfernung einen großen Baumstamm treiben

sah, ließ ich mich fallen, um mich daran festzuklammern, denn an

Bord erwartete mich nur der Tod, sobald sie mich entdeckt hätten.

Den Göttern sei Dank, die Besatzung bemerkte mich nicht, denn

sie waren damit beschäftigt, die Vorräte an Caruba und Wein zu

dezimieren. Sie soffen alles leer und grölten dabei nur siegestrunken

vor sich hin. Unterdessen klammerte ich mich hilflos an den

Stamm während ich die beiden Schiffe allmählich am Horizont

verschwinden sah. Zwei Tage und Nächte trieb ich im Meer, ohne

jede Hoffnung auf Rettung. Doch immer in der Furcht, einem

großen Raubfisch zum Opfer zu fallen. Bis ich heute euer Schiff

erblickte. Den Göttern sei Dank, sie haben meine Gebete erhört.

Damit stehe ich tief in eurer Schuld. Da ein Ghurka seine Schuld

stets begleicht, will ich euch verraten, wo mein Kapitän die Beute

versteckt hat.«

»Warum solltet ihr das tun, Ja’hir?«, fragte de’Soto voller

Misstrauen. »Hättet ihr den Schatz nicht später bergen und dann

selbst behalten können?«

Mit einem knurrenden Fauchen sprang der Ghurka auf und

fletschte die haifischähnlichen Zähne.

»Master de’Soto, nur weil ihr mein Retter seid, vergebe ich euch

diese Frage. Ansonsten müsste ich sofortige Genugtuung verlangen.

Kennt ihr denn nicht den heiligen Ehrenkodex der Ghurka?

Diesen Kodex, der über allen materiellen Reichtümern steht? Er

verlangt, dass zuallererst jede Schuld beglichen werden muss. Mein

Volk würde mich ausstoßen, sollte ich dem Kodex nicht Folge leisten.«

Mit grollendem Zorn in der Stimme hatte sich Ja’hir zu seiner

vollen Größe aufgerichtet. Dabei blickte er drohend auf den ebenfalls

aufgesprungenen de’Soto herunter.

»Beruhigt euch, Ja’hir. De’Soto ist über die Gepflogenheiten der

Ghurka nicht informiert, sonst hätte er euch diese Frage nicht gestellt«, versuchte

Aurelia den wutentbrannten Ja’hir zu beschwichtigen.De’Soto nahm die Hand

von der Waffe, um dann den Kopf in einer widerwilligen Geste der Entschuldigung

zu neigen.

»Ich bitte um Nachsicht, Master Ja’hir. Es ist, wie der Kapitän

sagt, mir sind die Sitten und Gebräuche eures Volkes fremd. Seht

mir diese unentschuldbare Unerfahrenheit nach. Es wird nicht

wieder vorkommen, dass ich eure Ehre in Zweifel ziehe.«

Noch immer grollend, setzte sich Ja’hir, um seinen Zorn mit

einem erneuten Schluck aus dem Kelch zu besänftigen.

»Darum bat ich euch, mit dem Schiff noch in diesem Gewässer

zu bleiben«, wandte er sich direkt an Aurelia. »Weil ich glaube,

dass euch diese Beute mehr als nur interessieren dürfte. Ich erbitte

für mich nur soviel, dass ich eine sichere Passage zu meinem Heimatplaneten

bekomme. Der Rest mag euch oder eurem Tempel gehören.«

Aurelia überdachte das Gesagte einen Moment und blickte

de’Soto fragend an. Sie war zwar der befehlshabende Kapitän,

doch sie wollte sich der Zustimmung des ersten Offiziers versichern,

der als heimlicher Aufpasser des Tempelrats ein gewichtiges

Wort an Mitsprache ausübte, wenn es um Angelegenheiten des

Tempels ging.

»Welche Schätze erwarten uns denn?«, erkundigte sich de’Soto

mit leichtem Spott. »Lohnt es überhaupt, dafür soviel Mühe auf

sich zu nehmen?«

»Ihr glaubt wohl, wir Ghurka würden Glasperlen und billigen

Tand als Schätze betrachten, so wie es eure Vorfahren vor langer

Zeit auf dem Planeten Erde taten. Auf vielen Welten versuchen

menschliche Händler immer noch die unwissenden Bewohner auf

diese Art zu betrügen. Doch da täuscht ihr euch, Master de’Soto.

Es handelt sich dabei um einige Kisten Juwelen, sowie einzigartigen

filigranen Schmuck berühmter Künstler vergangener Epochen.

Außerdem handgefertigte Kristallskulpturen höchster Qualität

und, das wichtigste, einige magische Artefakte, die das Herz

eines jeden Schatzsuchers höher schlagen lassen.«

Aurelia horchte auf. Zwar waren Gold, Silber und Schmuck immer

eine begehrte Beute für den Tempel, doch galt sein Hauptinteresse

eindeutig jedem magischen Gegenstand. Die Tempeloberen

versuchten mit allen Mitteln, jeder Schriftrolle mit Zaubersprüchen

oder Phiole mit geheimen Tränken habhaft zu werden. Vor allem jedoch

waren sie hinter magischen Waffen, Rüstungen und Gegenständen her.

»Wisst ihr, um welche magische Artefakte es sich dabei handelt?«,

wollte sie von dem mitteilsamen Ja’hir wissen.

»Mir sind nicht alle bekannt, Kapitän Lethos. Mein Vetter war

hinsichtlich der Artefakte sehr schweigsam. Doch wer bereits einmal

einen Zauberstab aus Orcaholz gesehen hat, vermag ihn wohl

zu erkennen, wenn er ihn vor Augen hat. Außerdem, und hier war

mein Vetter etwas geschwätzig, erwähnte er, dass er nun endlich

von der Herkunft dieser Stäbe erfahren hatte. Das es um diese

Information ging, die er auf Riva jemanden mitteilen wollte. Die

Koordinaten des Systems liegen in einem versiegelten Umschlag in

einer der Kisten.«

Aurelia stockte der Atem. Welch ein unglaublicher Zufall. Gerade

nach dieser Information suchte der Tempel schon seit ewigen

Zeiten. Auch Agent Gnorx war seit Jahren, wenn auch vergeblich,

mit Nachforschungen beschäftigt. Dies hatte er in ihrer Unterhaltung,

an die sie sich gut erinnern konnte, ausdrücklich erwähnt.

Eine einmalige Gelegenheit für den Tempel, wobei es als Zugabe

noch einen echten Zauberstab aus Orcaholz zu holen gab, der sein

Gewicht in Sternenstaub wert war.

»Was haltet ihr davon, de’Soto, lohnt es sich?« Spöttisch blickte

sie zu ihrem ersten Offizier, der auf seinem Stuhl saß, wo er den

Ausführungen des Ghurka mit halb offenem Mund gefolgt war.

Gier glitzerte in seinen Augen auf, denn die Möglichkeit, durch

diesen Erfolg in der Hierarchie des Tempels rascher aufzusteigen

als er es zuvor für möglich gehalten hatte, ließ ihn alles Misstrauen

und jede Vorsicht vergessen.

Wir sind euch sehr dankbar, Master Ja’hir, dass ihr uns diese

Beute als Geschenk für eure Rettung überlassen wollt.«

Stumm nickte der Ghurka mit dem Kopf, um sich dann, in Gedanken

versunken, eine weitere Kirifrucht zu nehmen.

»Dann werden wir, so nahe als glich, bei der Insel Anker werfen,

um mit einem Beiboot an Land zu rudern. Bereitet alles vor, de’Soto.

Wir werden zehn Matrosen mitnehmen, alle bewaffnet. Sucht die

Zuverlässigsten aus und vergattert sie zu absolutem Schweigen, wir

werden sie als Träger benötigen. Ihr werdet in der Zwischenzeit das

Kommando über die Heilige Kuh übernehmen und meine Rückkehr

abwarten. Sollte etwas Unerwartetes geschehen, werde ich einen Signalpfeil

abschießen, der euch zu Hilfe ruft.«

›Was sollte Unvorhergesehenes passieren‹, dachte de’Soto spöttisch,

während er innerlich über die Äußerung seiner Vorgesetzten

lächeln musste. ›Jetzt fängt der Kapitän an, Gespenster zu sehen.

In dieser Wasserwüste gibt es weit und breit keine Gefahr für eine

schwer bewaffnete Galeone.‹

»Aye, Kapitän, ich werde sofort alles Notwendige veranlassen.

Der Steuermann wird sofort Kurs auf die kleine Inselgruppe setzen.«

Niemand von beiden bemerkte das stille Grinsen, das für einen

Moment über die Gesichtszüge des Ghurka huschte …

Von sechs Matrosen gerudert, näherte sich das offene Boot

schnell der kleinen Insel. Im Hintergrund, gut eine halbe Meile

entfernt, ankerte die Heilige Kuh unter dem Kommando des

ersten Offiziers im sicheren Tiefwasser, um ungeduldig auf die

Rückkehr der Schatzsucher zu warten. Aurelia saß zusammen mit

Ja’hir im Bug des Bootes und nahm die Insel mit ihrem Spektrakel

gründlich in Augenschein.

Es war ein kahles karges Eiland, deren höchste Kuppe gerade

mal tausend Fuß Höhe erreichte. An den steinigen Hängen

machte sich nur vereinzelt ein wenig Grün bemerkbar. Insgesamt

war es eine trostlose Landschaft. Sie war unverkennbar vulkanischen

Ursprungs, denn immer wieder stieß der tätige Schlund

kleine Rauchwolken aus, die seine Besucher zur Eile ermahnten.

Seevögel umkreisten die ungebetenen Gäste und kreischten ihren

Zorn zu ihnen hinunter. Eine ganze Flottille hatte sich über ihren

Köpfen versammelt, aus der ab und zu ein besonders mutiger Vogel

zu ihnen herabstieß, um dann blitzschnell wieder nach oben

zu schießen.

Verborgen vom Vulkankegel und unbemerkt von den wachsamen

Augen des Ausgucks der Galeone, kreiste auf der anderen

Seite der Insel eine zweite Vogelschar, um einen ebenso unerwünschten

Eindringling.

Kapitän Lethos sprang als Erste an Land und winkte den Matrosen,

ihr zu folgen. »Zeigt uns den Weg, Ja’hir, ihr seid ja bereits

hier gewesen«, bat Aurelia, die es vermied, dem unbewaffneten

Ghurka einen direkten Befehl zu erteilen. Immerhin hatte sie ihn

als Gast willkommen geheißen, da ziemte es sich ihrer Meinung

nach nicht, ihn wie einen gewöhnlichen Matrosen zu behandeln.

Inzwischen trug er wieder seine eigene Uniform, eine in Gold und

Blautönen gefärbte Jacke sowie eine dunkelblaue Hose aus einem

unbekannten Wollstoff. Er machte darin eine überaus stattliche

Figur und sie kam nicht umhin, seine imposante Erscheinung zu

bewundern.

»Folgt mir, Kapitän, wir müssen zu dem Einschnitt dort drüben«, wies Ja’hir

mit dem Arm in Richtung einer Schlucht, die den hohen Hügelkamm durchschnitt.

Mit großen Schritten eilte er vorweg, gefolgt von Aurelia, die ihre langen Haare

unter einem hellen Kopftuch versteckte. An der linken Seite hing ein Rapier,

das in einer verzierten Scheide aus Bronzeblech steckte. Sie war

an einem breiten Ledergürtel befestigt, der eng um ihre schmale

Taille geschlungen war. Dazu kam noch ein langer Dolch, den sie

rechtsseitig trug. Sie war auf alles vorbereitet und hatte die Männer

angewiesen, aufmerksam die Umgebung im Auge zu behalten.

Doch außer dem ständigen Gekreische der Seevögel bewegte sich

nur hin und wieder eine kleine Staubwolke, aufgewirbelt vom kräftigen

Wind oder den stapfenden Füßen der Männer.

In der Schlucht umfing sie wohltuender Schatten, der das helle

Tageslicht zu einem matten Schimmer verblassen ließ. Neben ihnen

erhob sich die steinige Wand zu beiden Seiten rasch in mehrere

hundert Fuß Höhe, um dem Licht der Sonne den Blick auf

den Grund der Schlucht zu verwehren. Schweigend marschierte

der Tross weiter und ließ die Galeone hinter sich zurück, die längst

ihren Augen entschwunden war.

Nach einem raschen Marsch von zehn Minuten bemerkte

Aurelia in gut dreihundert Fuß Entfernung endlich das Ende

der Schlucht und atmete erleichtert auf. Diese enge Kluft, kaum

zwanzig Fuß breit, bereitete ihr Unbehagen. Sie war so sehr an die

Weite des Meeres gewöhnt, dass sie sich von den dunklen Wänden,

die links und rechts emporstiegen, förmlich eingeschlossen

fühlte. Schneller wurde ihr Schritt und schließlich öffnete sich der

Schlund der Schlucht, um die Aussicht auf einen kleinen Talkessel

freizugeben. Dieser wurde von mehreren Erhebungen eingeschlossen,

deren auslaufende Hänge die große Talmulde bildeten.

Nach weiteren dreißig Schritten stoppte Aurelia, um das Gelände

einer gründlichen Musterung zu unterziehen. Nirgendwo war der

Eingang einer Höhle zu entdecken, sie würde den Ghurka fragen

müssen …

»Willkommen Kapitän«, ertönt eine männliche Stimme, die

selbstbewusst, fast schon ein wenig überheblich klang. »Ich habe

euch eigentlich ein wenig früher erwartet und musste mich daher

etwas in Geduld üben, was mir, zugegebenermaßen, ziemlich

schwerfällt. Doch eure Erscheinung lässt die Ungeduld im Nachhinein

leichter ertragen.«

Mit einem Wutschrei auf den Lippen drehte Aurelia sich um

und blickte zurück zum Eingang der Schlucht. Es mochten vierzig

bis fünfzig schwer bewaffnete Männer sein, die ihnen den Rückweg

zum Schiff abschnitten. Wilde Gestalten in abenteuerlicher

Kleidung verteilten sich halbkreisförmig um ihre kleine Gruppe.

Während vor ihnen einige weitere Dutzend Bewaffneter aus ihren Verstecken

auftauchten und ihnen damit den Weg ins Tal verwehrten.

Leicht verwirrt beobachtete Aurelia, wie der Ghurka sich

von ihr trennte, um sich neben den Fremden zu stellen. Doch auf

einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

»Oh, ich Närrin. Wie eine Anfängerin bin ich ihnen in die Falle gegangen«,

stöhnte sie lauthals in Selbstanklage auf.

Ihre Männer hatten die Säbel erhoben, wobei sie furchtsam zu

ihrer Anführerin schauten. Die Übermacht des Gegners war eindeutig.

Es gab keine Chance, zu entkommen. Nur mit Mut und List würden sie dieser

Falle entgehen können.

»Gebt euch zu erkennen, Pirat. Damit ich weiß, mit wem ich

es zu tun habe. Ich bin Kapitän Aurelia von Lethos, Schiffskommandantin

der Heiligen Kuh, die nicht weit von hier vor Anker

liegt und wahrscheinlich im Augenblick zwei bewaffnete Hundertschaften

meiner Leute ausschifft, weil ich noch nicht das vereinbarte Signal gegeben habe.«

»Ein netter Versuch, Kapitän Lethos. Ich darf mich ebenfalls vorstellen. Mein Name ist Hieronymus Stern, Kapitän der Fregatte Sternenteufel, die im Augenblick gerade ihre Armbrustgeschütze auf eure Galeone richtet.«

Aurelia stöhnte innerlich auf, welch ein böser Schicksalsschlag.

Ausgerechnet dieser Erzfeind des Tempels musste sich hier befinden.

Obwohl sie ihn in ihrem Innersten eigentlich als Verbündeten sah, musste sie nach

außen die Interessen des Tempels vertreten und sich dementsprechend verhalten.

»Was verschafft mir die Ehre, von euch persönlich überfallen zu werden, Kapitän Stern? Wäret ihr bereit, mich darüber in Kenntnis zu setzen? Ich dachte, ihr seid normalerweise auf bessere und leichtere Beute aus als sie mein Handelsschiff darstellt.«

»Ich muss euch zustimmen, Kapitän Lethos. Normalerweise

jage ich im Sternenmeer nach interessanteren Zielen und friedliche

Handelsschiffe, die nicht im Dienst des Tempels stehen, gehören

nicht unbedingt dazu. Doch in eurem Fall muss ich leider eine

Ausnahme machen, denn ihr habt lohnende Beute an Bord. Und

außerdem, geschätzte Feindin, seid ihr Angehörige des Tempels,

kommandiert ein Schiff des Tempels, transportiert Fracht für den

Tempel. Und alles, was mit dem Orden zu tun hat, ist für mich ein

lohnendes Ziel, wenn ihr versteht, was ich meine.«

Tief empfundener Hass sprach aus den Worten, die Stern mit

unterdrücktem Zorn hervorgestoßen hatte.

»Ich weiß zwar nicht, warum ihr den Tempel und seine Mitglieder

so zu hassen scheint. Doch was für Beute versprecht ihr

euch, Kapitän? Ich habe normale Fracht für Ladimara geladen.

Wein, Edelhölzer, dazu noch einige Tonnen Bier. Dies dürfte für

eure Mannschaft sicher eine begehrte Fracht sein«, versuchte Aurelia

einen psychologischen Angriff. Zustimmendes Murmeln erhob

sich aus den Reihen der Gegner, wobei manche der Männer

sich bereits in erwartungsvoller Vorfreude die Lippen leckten.

»Ein guter Versuch, Kapitän Lethos, doch was soll das? Meine

Männer werden noch genug Bier und Wein erhalten, wenn wir euer

Schiff erst entladen haben. Nein, mir geht es um andere Fracht.

Nicht um Juwelen, Gold oder Silber, sondern um die wahrhaft

kostbaren Dinge, für die der Tempel Entführung und Mord begeht

als auch Verrat an den eigenen Leuten nicht scheut. Ich spreche,

um eurem schwachen Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge

zu helfen, von magischen Artefakten. Und zwar nicht von irgendwelchen

Artefakten, sondern von dem Begehrtesten, Mylady. Ihr

habt ein Sehendes Auge in Shan’hor erhalten und werdet daher so

freundlich sein, es mir zu überlassen.«

Aurelia verfluchte die Quelle des Verrats, die sie nicht zu Unrecht

im Büro des Agenten Gnorx vermutete. Seine Gier nach dem

Auge war für sie mehr als deutlich erkennbar gewesen. Diesem

Mann traute sie jede Hinterlist zu und auch der Überfall auf dem

Hafengelände rechnete sie ihm an, doch dafür fehlten ihr leider

die Beweise.

»Ihr wisst mehr als ich, Kapitän Stern. Sicher werdet ihr mir die

Quelle nicht nennen, wozu auch. Ihr wollt sie ja schließlich noch

weiter nutzen. Doch so einfach werdet ihr nicht an das Gesuchte

kommen. Meine Order lautet: Wenn das Artefakt in die Hände

eines Feindes fallen könnte, ist es unter allen Umständen zu vernichten.

Was sollte mich also daran hindern, diesem Befehl Folge zu leisten?«

Hieronymus Stern musste die geschickte Gesprächsführung seiner

Gegnerin anerkennen. Sie hatte die Schwachstelle des Plans

schnell erkannt. Nun standen sie vor einer Pattsituation. Natürlich

konnte er sie und ihre Gruppe besiegen. Auch die Galeone auszuschalten,

war nicht das Problem. Der Haken war ganz einfach der,

dass die Vernichtung des Sehenden Auges unter allen Umständen verhindert

werden musste. Er konnte nicht sicher sein, dass es diese

Order nicht gab und dass ihr Stellvertreter diese Anweisung vor

einer Eroberung des Schiffes in die Tat umsetzte. Das Risiko war

ihm zu hoch. Es musste einen anderen Weg geben, in den Besitz

des Auges zu kommen.

Er wandte sich an Jirr Baa’thok, seinen treuen Leibwächter, der

seine Rolle als Ja’hir el Prado so hervorragend gespielt hatte und

fragte leise:

»Was meint ihr, Jirr? Ihr habt sie besser kennengelernt. Kann

man mit ihr eine Verständigung erzielen? Oder mit ihrem Stellvertreter,

der jetzt das Kommando über die Galeone hat?«

Ebenso leise versuchte der Ghurka zu antworten.

»Mit dem Stellvertreter de’Soto wird keine Einigung möglich

sein, Käpt’n. Er ist ein fanatischer Anhänger des Tempels. Daher

würde er eher seinen Kapitän opfern als die Artefakte an einen

der größten Feinde des Tempels herausgeben. Die Schiffskommandantin

ist anders. Sie riecht nach … Hass, nach Hass auf den

Tempel. Ich spüre in ihr eine eigenartige Leere. Sie scheint auf der

Suche nach etwas zu sein. Jedoch kann ich euch nicht sagen, wonach.

Macht ihr ein ehrenvolles Angebot, bei dem sie ihr Gesicht

wahren kann und sie wird euch den Artefakt aushändigen, da bin

ich mir sicher.«

Aurelia verfolgte die leise Unterhaltung der beiden mit gemischten

Gefühlen. Sie hatte zu dem angeblichen Schiffbrüchigen

Zutrauen gehabt. Ja, sogar eine intuitive Verbindung empfunden.

Nun fühlte sie sich nur schrecklich getäuscht. Sie spürte Angst

– Angst davor, dass ihre Suche hier zu Ende sein mochte. Angst,

dass sie hier scheiterte, ohne dass sie ihre Tochter gefunden hatte.

Sie würde alles dafür tun, um ihre Suche fortsetzen zu können,

mit oder ohne Unterstützung des Tempels. Wenn es sein musste,

würde sie sich auch mit seinem größten Feind verbünden, der ihr,

trotz der misslichen Situation, in die er sie gebracht hatte, durchaus

sympathisch schien.

Nun gut, er war ein Pirat, doch im Grunde war sie ebenfalls eine

Piratin, nur dass sie sich den Deckmantel des Tempels umgehängt

hatte. Verwirrt stellte sie fest, dass ihre Loyalität bereits vor jeglicher

Vereinbarung mit dem Gegner zu wanken begann. Dies war

eine vollkommen neue Erfahrung für Aurelia, die sie, jedenfalls

momentan, in große Gewissenskonflikte stürzte.

Hieronymus Stern richtete sein Augenmerk wieder auf die

schöne Frau vor sich, die in Hörweite auf das Ergebnis ihrer Unterredung

wartete.

»Kapitän Lethos, wäret ihr bereit, mit mir eine Unterhaltung

unter vier Augen zu führen? Ich sage euch unversehrte Rückkehr

zu und wir brauchen uns nicht außer Sichtweite eurer Leute zu begeben.«

Aurelia überlegte nicht lange, sie hatte nichts zu verlieren.

»Ich vertraue eurem Wort, Kapitän Stern. Ihr genießt anscheinend

den Ruf eines ehrenhaften Piraten, so ist es mir jedenfalls zu

Ohren gekommen.«

Sie wandte sich an ihren Bootsmaat Ismail.

»Maat, sollte mir etwas zustoßen, übernehmt ihr das Kommando.

Versucht, einen Durchbruch zu erkämpfen, um unser Schiff

zu erreichen. Oder, wenn dies aussichtslos erscheint, ergebt euch

und unterwerft euch der Gnade von Kapitän Stern. Ich habe gehört,

dass er seine Gefangenen anständig behandelt und sie nicht

als Sklaven verkauft oder über die Planke gehen lässt sondern bei

passender Gelegenheit in einer bewohnten Gegend freilässt.«

Der Maat nickte ergeben und ging wieder zu seinen Kameraden,

um sich mit einem niedergeschlagenen Gesichtsausdruck auf den

Boden zu setzen, wo er mit einigen seiner Kameraden zu tuscheln

begann.

Stern und Aurelia entfernten sich gut hundert Fuß von der

Gruppe und setzten sich dann auf zwei kleinere Steinblöcke, die

einen guten Platz für die bevorstehende Unterredung abgaben.

»Nun, Kapitän Lethos, ich will offen mit euch sprechen. Entweder es gelingt

mir, euch zu überzeugen oder ihr seid meine Gefangene,

Mylady. Schlimmer noch, ihr könntet im Kampf getötet

werden, was ich außerordentlich bedauerlich fände.«

Aurelia hob verwundert den Kopf. Was hatte der Kapitän des

Sternenteufel für einen hinterhältigen Plan, wo er doch so gut wie

alle Trümpfe in der Hand hielt? Sein Schiff war ihrer Galeone

weit überlegen, daher war an Flucht nicht zu denken, somit saß

sie buchstäblich in der Falle. Ihre einzige Chance bestand darin,

diesen Mann mit einer List hereinzulegen. Neugierig wartete die

Kommandantin der Heiligen Kuh auf das, was jetzt kommen

sollte. Dabei betrachtete sie den einäugigen Piraten, der sie so raffiniert

in die Falle gelockt hatte, mit einem durchaus wohlwollenden Blick.

»Kapitän Lethos oder darf ich euch Aurelia nennen, Mylady?«,

wobei Hieronymus Stern ihr leichtes Kopfnicken als Zustimmung

auffasste.

»Also, Aurelia, ich bin ein Gegner des Tempels wie auch seiner

Machenschaften. Ich hasse diesen Orden, der übler ist als die

schlimmsten Krankheiten, die Menschen jemals erdulden mussten.

Wie ein Krake breitet sich dieses Geschwür aus und verschlingt

dabei Welt um Welt. Ich bin nur ein kleiner Pirat, der dieser Hydra

nicht den Kopf abschlagen kann ohne dass ihr gleich zwei

neue nachwachsen. Doch ich versuche, mich zu wehren und ihnen

Schaden zuzufügen, denn ich bin wie eine immer wiederkehrende

Seuche für den Tempel. Noch nicht wirklich gefährlich, jedoch

unangenehm und lästig. Zuviel Herrscher auf zu vielen Welten

haben sich mit den Rotröcken eingelassen oder sind ihren Sirenengesängen

erlegen. Irgendwann werden sie bereuen, dass sie sich mit

diesem Lumpenpack verbündet haben.

Es muss Mittel und Wege geben, dieses Übel an der Wurzel zu

bekämpfen. Dafür brauche und suche ich nach diesen Artefakten,

denn sie sind imstande, mir diese Mittel an die Hand zu geben.

Ich habe einige seltsame Verbündete in diesem Kampf gefunden.

Jedoch es fehlt der Schlüssel, mit dem das richtige Schloss geöffnet

wird. Das Sehende Auge könnte mir dazu verhelfen, diesen Schlüssel

zu finden oder ist möglicherweise selbst der Schlüssel.

Jirr, ihr kennt ihn ja bereits als Ja’hir, sagte mir, dass etwas in

euch ist, dass mich hoffen lässt, ihr könntet eine Verbündete werden.

Ihr seht, ich vertraue euch Dinge an, um deren Wissen die

Tempeloberen viel geben würden.«

Aufmerksam hatte Aurelia dem einäugigen Piraten gelauscht

und seine Worte tief einsinken lassen. Sie spürte bereits intuitiv,

dass viel mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätzlichkeiten zwischen

ihnen vorhanden waren. Nur, dass sie auf verschiedenen Seiten

standen. In seiner Gegenwart empfand sie eigenartigerweise ein

Gefühl von … Geborgenheit, so seltsam das auch erscheinen mochte.

Etwas flackerte in ihrem Inneren auf, etwas, das sie seit langer

Zeit nicht mehr empfunden hatte. Konnte es tatsächlich sein, dass

sie, die eiskalte Kommandantin und Kriegerin Gefühle für einen

Feind des Tempels empfand? Zu lange war sie ohne Gefährten

gewesen obwohl es an Angeboten nicht mangelte. Doch seit ihrer

Trennung von Fürst Ramoris hatte sie nur gelegentlich einem

Liebhaber erlaubt, mit ihr das Lager zu teilen, um den Bedürfnissen

des Leibes genüge zu tun.

Ihr Herz war nie wieder berührt worden, so sehr sie sich auch

nach einem starken Partner sehnte. Angehörige des Ordens kamen

für sie aus innerer Überzeugung überhaupt nicht infrage. Andere

Männer hatten einfach nicht das Format, den Esprit, um mehr

als oberflächliches Interesse hervorzurufen. Sie rief sich zur Ordnung,

um die Aussagen des Kapitäns zu überdenken. Der Tempel

führte keinen offenen Krieg, denn seine Aktivitäten mussten nach

außen immer den Anschein von Rechtschaffenheit, von Respekt

vor den Herrschenden und von zur Schau gestellter Demut tragen.

In diesen Disziplinen hatten sie es zu unerreichter Meisterschaft

gebracht und damit in Jahrhunderten eine Welt nach der anderen

unterwandert.

Die Geschwindigkeit dieser schleichenden Übernahme hatte in

den letzten Jahren dramatisch zugenommen und mit Schrecken

erkannte Aurelia auf einmal die wahre Bedrohung, die den zivilisierten

Welten drohte. Eine Schreckensherrschaft, die keinerlei

Freiheit mehr zulassen würde. Unterwerfung und Gehorsam von

Geburt an bis zum Tod waren das unerschütterliche Dogma des

Tempelrats. Konnte sie den Aussagen des Kapitäns vertrauen? Die

Geschichten, die über ihn in Umlauf waren, sprachen eigentlich

dagegen. Der Tempel hatte intern ein diabolisches Bild von diesem

Feind gezeichnet. Mit unerbittlicher Grausamkeit sollte er

friedliebende Schiffe, Dörfer und kleine Städte überfallen, die

Bewohner niedermetzeln, um danach nur verbrannte Erde hinter

sich zu lassen. Dieser Mann, ein wahnsinniger Schlächter nach den

Aussagen des Tempels, saß nun vor ihr. Allerdings vermittelte er

ihr überhaupt nicht diesen Eindruck sondern eher das Gegenteil.

Immer mehr spürte sie eine Übereinstimmung mit ihren eigenen

Werten, was sie überraschte.

Gewiss, seine Erscheinung wirkte bedrohlich, denn das verdeckte

Auge machte einen furchterregenden Eindruck. Manchmal

vermeinte sie, ein schwaches rötliches Glimmen hinter der Augenkappe

zu sehen, dass sie erschreckte. Sie fragte sich insgeheim, was

sich hinter dieser Abdeckung wohl verbergen mochte.

»Kapitän Stern, ich will eurer Offenheit mit gleicher Aufrichtigkeit

begegnen. Ja, euer Ghurka hat recht, ich bin auf einer Suche.

Schon seit langen Jahren fahnde ich nach meiner entführten

Tochter und sie zu finden, ist mein einziger Lebenssinn geworden.

Wie ich in die Hände des Tempels gekommen bin, ist eine andere

Geschichte. Doch ich versuche, seine Macht zu nutzen, um meine

Nachforschungen durchführen zu können. Wenn ihr mir versprechen

könnt, diese Suche mit euch und eurem Schiff weiterzuführen,

dann wäre ich bereit, euch in den Besitz des Sehenden Auges

zu bringen.«

Stern war von ihren emotional vorgetragenen Worten tief berührt.

Hier sprach eine verzweifelte Frau, eine Mutter, die ihr

Kind suchte und das schon seit langen Jahren. Wie konnte er sich

als Mann erdreisten, Kritik an der Art ihrer Suche zu äußern! Jedes

Mittel würde ihr recht sein, um dieses Ziel zu erreichen, denn es

wäre einfach die Umsetzung eines Naturgesetzes.

»Im Grunde genommen, Aurelia«, und Hieronymus Stern benutzte

bereits wie selbstverständlich diese Form der vertraulichen

Anrede, »ziehen wir praktisch beide an einem Strang. Wir versuchen Dinge

zu verhindern oder zumindest zu beeinflussen, hinter

denen sich Machenschaften des Ordens offenbaren. Ihr nutzt eure

Position von innen heraus, um auch gegen die Interessen des Tempels

zu handeln, ich von außen. Sollten wir nicht überlegen, ob wir

zusammen eine größere Wirkung erzielen könnten?«

Aurelia war mehr als erstaunt, ja geradezu euphorisch, über die

Wendung, die ihr Gespräch genommen hatte. Als Gegner hatten

sie sich noch vor einigen Augenblicken gegenübergestanden und

nun waren sie kurz davor, gemeinsam konspirative Pläne gegen den

Tempel zu schmieden.

»Kann ich euch vertrauen, Hieronymus? Es hat mich lange Jahre

in den Diensten des Ordens gekostet, bis ich dieses Kommando

erhalten habe. Ich würde alles aufgeben müssen und alles verlieren,

was ich bis dahin erreicht habe. Habt ihr mir mehr zu bieten? Der

Tempel wird nicht nur euch, sondern auch mich jagen. In Zukunft

noch stärker als bisher. Sie werden ihre Agenten und Meuchelmörder

auf uns beide ansetzen.«

Wieder überlegte Stern einen längeren Moment, ehe er antwortete.

»Nein, Aurelia, eine größere Sicherheit kann ich euch nicht bieten.

Doch eine größere Freiheit kann ich euch versprechen, denn

diese Angst vor einer Aufdeckung eurer heimlichen Pläne würde

von euch abfallen. Und der Sternenteufel ist ein mächtiges Schiff.

Er ist fast jedem anderen gewachsen oder überlegen. Außerdem

habe ich durchaus starke Freunde und Verbündete, nicht nur unter

den Menschen, sondern auch bei den Ghurka und, dies ist ein

Geheimnis, dass ich euch nun anvertraue, auch bei den Hütern

der Weisheit. Mit ihrer Hilfe kann es mir gelingen, dem Sehenden Auge

Informationen zu entlocken, weil sie allein über die notwendige

Zugangsmagie verfügen. Warum, glaubt ihr, bin ich so versessen

darauf, das Auge unversehrt in meinen Besitz zu bekommen?«

Aurelia konnte es nicht glauben, dieser Piratenkapitän ermöglichte

ihr vielleicht, das Schicksal und den Aufenthaltsort ihrer

Tochter ausfindig zu machen. Eine innerliche Eingebung manifestierte

sich und mit einem Mal stand Aurelias Entschluss fest.

Sie würde sich ihm anschließen, koste es was es wolle. Ihr Herz

hatte die Entscheidung getroffen und so seltsam es schien, dieser

Entschluss fühlte sich gut und richtig an.

»Ich bin euer, Hieronymus. Versprecht mir, mich bei der Suche

nach meiner Tochter mit allen Mitteln zu unterstützen. Nehmt

mich in eure Mannschaft auf, dann werden wir gemeinsam den

Kampf gegen den Tempel führen.«

»Dann soll es so sein, Aurelia. Ich bin froh, euch als Verbündete

und neues Mannschaftsmitglied an Bord zu haben. Lasst uns

gemeinsam nach eurer Tochter suchen und den Machenschaften

des Ordens Einhalt gebieten. Doch sagt noch nichts, bis wir einen

Plan haben, wie wir in den Besitz des Auges gelangen. Oder seid

ihr euch eurer Leute hier zu hundert Prozent sicher?«

Aurelia überlegte kurz und blickte zu der kleinen Gruppe ihrer

Mannschaft. »Nein, bei drei oder vier von ihnen bin ich mir

ziemlich sicher, dass sie loyal zu mir stehen. Den anderen traue ich

zu, dass sie unter Druck oder für Silberlinge Verrat begehen. Wie

wollt ihr es anstellen, Hieronymus?«

Der Kapitän des Sternenteufel winkte seinen Leibwächter herbei

und unterrichtete ihn in wenigen Worten von der neuen Situation.

Der Ghurka nickte erfreut und bemerkte nur:

»Ich wusste, dass ich mich nicht getäuscht habe, sie ist ein großer

Gewinn für uns, Käpt’n.«

Hastig entwarf Stern einen Plan, an dessen Feinheiten sie gemeinsam

feilten. Es musste improvisiert werden, jedoch durfte

kein grober Fehler im Ablauf passieren. Alles hing davon ab, ob es

Aurelia ernst meinte und er ihr vertrauen konnte …

Ungeduldig blickte de’Soto nach dem Stand der Sonne. Nicht

mehr lange, dann brach die Dunkelheit herein. Noch immer war

nichts von Kapitän Lethos und ihren Männern zu sehen. Zweifel

begannen in ihm zu nagen. War dieser Ghurka am Ende doch

nicht der, für den er sich ausgab? Doch de’Soto konnte sich beim

besten Willen nicht vorstellen, was ein einzelner Ghurka gegen

zehn bewaffnete Männer ausrichten mochte oder wozu ein Verrat

dienen sollte. Wieder richtete er das Spektrakel auf den Strand.

Aufatmend bemerkte er, dass sich das sehnlich erwartete Beiboot

inzwischen der Galeone näherte. Doch, wie er mit einem scharfen

Blick erkennen konnte, waren es weniger Leute als bei der Hinfahrt.

Eindeutig vermochte de’Soto den riesigen Ghurka sowie

Aurelia zu identifizieren. Dann waren da noch drei Matrosen an

den Ruderblättern, doch wo waren die anderen? Misstrauisch rief

er das Boot an als es auf Rufweite herangekommen war.

»Käpt’n, ist alles in Ordnung? Wo sind die restlichen Matrosen?«

»Es ist alles klar Schiff, de’Soto«, schallte es zurück, wobei er

zweifelsfrei die Stimme des Kapitäns erkannte. Kurze Zeit später

kletterte sie, zusammen mit Ja’hir, das Fallreep hoch und sprang

über die Reling.

»Es ist unglaublich, de’Soto. Diese Mengen an Kisten und Bündel

zu bergen dauert mit den paar Leuten zu lange, wir brauchen

unbedingt Verstärkung. Zusätzlich benötigen wir Lampen und

noch mehr Grabzeug. Einiges ist von einem Erdrutsch verschüttet

worden, vor allem die Artefakte liegen darunter begraben.«

Der Erste schwankte zwischen Begeisterung und Vorsicht.

»Hat das nicht bis morgen Zeit? Bei Tageslicht können wir viel

besser arbeiten als im flackernden Schein der Öllampen.«

»Nein, lasst uns alles so schnell als möglich bergen, morgen

zieht vielleicht schon ein Sturm auf, dann ist die gesamte Bergung

in Gefahr, de’Soto.«

Diesem Argument seines Kapitäns konnte sich der strenge Logiker

de’Soto nicht entziehen, daher stimmte er widerstrebend zu.

»Ich bin zu erschöpft, de’Soto, darum übertrage ich euch die

Aufgabe, die Bergung des Schatzes zu übernehmen. Nehmt noch

ein zweites Boot und weitere zehn Matrosen mit, dann sollte die

ganze Aktion innerhalb von sechs Stunden geschafft sein.«

Die Aussicht, als erster die sagenhaften Artefakte zu bergen und

den Ruhm dafür einzustreichen, betäubte de’Soto’s instinktives

Misstrauen. Eilig beorderte er zehn weitere Männer mit entsprechender

Ausrüstung in die Boote.

»Der Maat Ismail kennt den Weg zur Höhle, de’Soto. Seid vorsichtig

beim graben, nicht dass es noch zu weiteren Erdrutschen

kommt. Und beeilt euch, mir liegt daran, noch heute Nacht den

Anker zu lichten und Kurs auf Ladimara zu nehmen.«

Kaum hatte der erste Offizier das Schiff verlassen, verschwand

Aurelia mit dem Ghurka in der Kapitänsmesse, um gewisse Vorbereitungen

zu treffen. Hinten am Achtersteven befand sich die kleine Kapitänsgig und

dort hinein verluden Aurelia und der Ghurka in sachter Eile mehrere schwere

Kisten.

In der Zwischenzeit erreichte de’Soto den Strand und marschierte

bei her- einbrechender Dämmerung hinter dem führenden

Maat her. Kurze Zeit später hatten sie die schmale Schlucht

passiert. Langsam legte sich Dunkelheit über alles, nur mehrere

Fackeln spendeten mit ihrem flackernden Schein gespenstisches

Licht. De’Soto verspürte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.

Irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas fühlte sich überhaupt

nicht richtig an …

»Halt, ihr seid umzingelt. Jede Gegenwehr ist zwecklos. Wir

haben zwei Dutzend Armbrüste auf euch gerichtet und wer sich

nicht ergibt, wird niedergeschossen.«

Hart und befehlend dröhnte die Stimme aus dem Dunkel. Dennoch

versuchten zwei oder drei Matrosen, Widerstand zu leisten.

Sie zogen ihre Entersäbel, um sich auf den unsichtbaren Feind zu

stürzen. Kaum, dass sie ihre Waffen erhoben hatten, vernahm man

das furchtbare Sirren zurückschnellender Sehnen. Bolzen zischten

durch die Luft und bohrten sich mit einem unangenehmen Geräusch

ins Fleisch ihrer Opfer. Mit einem Aufschrei und einem

oder mehreren Bolzen im Körper sanken die Leichtsinnigen verletzt

zu Boden.

»Wer, wer … ist da?«, stotterte de’Soto in lähmender Überraschung.

Dieser Überfall kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel

und riss ihn aus allen Träumen.

»Das tut nichts zur Sache, de’Soto«, hörte er die harte Stimme

erneut. »Man hat euch betrogen. Euer Verräter sitzt in hoher Stellung

in euren eigenen Reihen. Ich mache euch ein Angebot, jedoch

nur einmal, darum hört gut zu, denn ich werde mich nicht wiederholen.

Ihr werdet vier eurer Leute zum Schiff zurückschicken. Sie

werden mit beiden Booten am Strand zur Galeone zurückrudern,

um dem Kapitän folgenden Befehl zu übermitteln:

›Innerhalb der nächsten vier Stunden wird die gesamte Fracht

an Bastillafellen in zwei Boote geladen, die sie anschließend, eine

halbe Meile seewärts, auf das Meer pullen. Dort werden sie mit

einem ausgeworfenen Treibanker aufgegeben. Die Matrosen kehren

in einem dritten Boot zum Schiff zurück.‹

Wenn dieser Befehl ausgeführt wird, erhält die Heilige Kuh und

darauf gebe ich mein Wort, freie Fahrt. Somit behaltet ihr euer

Leben und könnt im Morgengrauen auf das Schiff zurückkehren.

Alles verstanden, de’Soto?«

Der erste Offizier kochte vor Wut. Doch hilflos in dieser Falle

gefangen, blieb ihm nichts anderes übrig als dem Befehl nachzukommen.

Nantau sei Dank, wenigstens die Artefakte blieben von der Plünderung verschont.

Damit würde er vor dem Tribunal des Ordens sein Leben, möglicherweise sogar seine Stellung retten können. Ob dies auch für Kapitän Lethos galt, erschien ihm jedoch

mehr als fraglich.

»In Ordnung , ich akzeptiere eure Befehle, wer auch immer ihr

seid«, lautete die Antwort, die er dem unsichtbaren Anführer der

Angreifer gab.

›Irgendwann zahle ich diesem Darq die Demütigung zurück‹,

schwor sich de’Soto insgeheim voller Grimm, um dann die erhaltenen

Anweisungen zu befolgen …

Im Morgengrauen kehrte ein wütender de’Soto, durchnässt von

nächtlichen Regenschauern, an Bord der Galeone zurück. Vergeblich

suchten er und die Mannschaft nach dem Kapitän, der ebenso

verschwunden war wie der riesige Ghurka. Wahrscheinlich war sie

von ihm überwältigt und entführt worden, denn es fehlten fast alle

persönlichen Gegenstände des Kapitäns, wie auch die verschlossene

Truhe mit den darin verwahrten Artefakten.

De’Soto sah sich in seinem anfänglichen Misstrauen bestätigt.

Sie waren hereingelegt worden und die zusätzliche Entführung

einer Adeligen aus einem Fürstenhaus lieferte ihnen eine

wertvolle Geisel, die zudem noch ein hohes Lösegeld einbringen

mochte …

Unbemerkt glitt im fahlen Zwielicht des aufkommenden Morgens

ein riesiger Schatten an der Galeone vorbei und verschwand

fast lautlos in der Weite des Meeres.






































* Der silberne Reiter *


Ich bin der silberne Reiter,

meine Silbermaske gewährt mir magisch Kraft.

Der Silbervogel mein treu Begleiter,

mein Geist – gefangen in silbern Haft.


Ich reit mit ihr durch Himmels Weiten,

bekämpf das Böse überall.

Nur Gerechtigkeit soll mich leiten,

bring den Unhold ich zu Fall.


Die Maske verleiht Magie,

um Zeit und Raum anzuhalten.

Diese Kraft versiegt doch nie,

denn Schicksals Wille muss nun walten.


Ich bereit den dunklen Mächten,

Angst und Schrecken an jedem Ort.

Seh bei den Guten nach dem Rechten,

steh beim Schicksal doch im Wort.


Treib sie vor mich her in Scharen,

zerstreu die finstre Brut.

Sie sollen in der Hölle garen

und zerschmelzen dort in feurig Glut.


Ich bin Rächer der verlor’nen Seelen

und hol sie heim – in der Familie Schoß.

Dass sie ihren Liebsten nimmer fehlen,

die Freud im Herzen ist dann riesig groß.


Gut und Böse ewig streiten,

hell und dunkel ihr Kontrast.

Egal ob hier– ob in Sternenweiten,

dieser Kampf ist ew’ge Last.


Ich bin als Silberreiter stets zur Stell,

um Unrecht zu vermeiden.

Silbervogel reitet auf die schnelle,

damit entsteht kein neues Leiden.


Gefürchtet von der dunklen Seite,

geliebt von Guten und Gerechten.

Flieht das Übel – sucht das Weite,

jag sie fort – das sie nimmer knechten.


Ich bin der echte Silberreiter,

die Maske mein Erkennungszeichen.

Es zieht mich fort – weit und immer weiter

und hinterlass der bösen Mächte Leichen.

Das Magische Universum

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