Читать книгу Kiez, Koks & Kaiserschnitt - Christian U. Märschel - Страница 10
ОглавлениеKiezianer ohne Furcht und Tadel
Ich weiß nicht, in letzter Zeit könnte ich immerzu schreiben.
So, als ob der Tag bald gekommen sei, an dem ich vollends erleuchtet würde. Mir kommt es vor, als sähe ich jeden Tag klarer, würden mir die Zusammenhänge immer bewusster und logischer. Einerseits schön, andererseits langweilend. Weil Du weißt, alles, was jetzt noch unklar ist, wird nicht so wichtig sein und sich spätestens morgen von selbst erklären.
Vielleicht liegt es auch nur an den Menschen, an meinem Umfeld. Sie sind zu einfach gestrickt, zu schnell durchschaubar, ihre Aktionen kalkulierbar, die Reaktionen voraussehbar.
Die Menschen auf dem Kiez.
Josef, der Oberkellner: ihm möchte ich sagen, dass ich glaube, in den drei Jahren, in denen ich nun auf dem Kiez bin, mehr gelernt zu haben, als er in seinen fünfundzwanzig Dienstjahren. Er hat bestimmt mehr darüber gelernt, Leute zu betrügen, abzuziehen. Weil das seine Interessenausrichtung war. Das habe ich in der kurzen Zeit meiner Präsenz auch gelernt, obwohl ich es nicht wollte. Ich musste das ja lernen, gehört ja zum Geschärft. Und obwohl man sich mit Dingen, die man nicht will, schwerer tut, hab ich trotzdem noch Zeit gehabt, etwas zu lernen, was ich lernen wollte. Ich habe in den drei Jahren viel über Menschen gelernt. Nicht über alle Menschen. Aber über die, die auf dem Kiez leben und arbeiten.
Schade, dass sich Menschen so schnell schematisieren lassen, in Gruppen zusammenordnen, in Schubladen stecken, das Kleinste Gemeinsame Vielfache ist schnell gefunden, das Wurzelziehen kein Problem. Jeder ist durch jeden teilbar, beliebig auswechselbar. Man erkennt sie: an den ganz bestimmten Verhaltensmustern. Schon nach kurzer Zeit. Wenn man genau hinsieht.
Mich wundert, mit welcher Selbstverständlichkeit und mit wie wenig erforderlichem Mut die Leute hier ans Werk gehen, frech und dreist zu sein, und für sich erst einmal den Platz in der Mitte beanspruchen. Alle die sich hier rumtreiben, sind schwach. Und die meisten dabei so stark. Alles Menschen, die nur mit Ihrer großen Klappe ihr kleines Leben regeln. Wenn sie es denn regeln. Kein Ehrgeiz, nur halbschlau, wie’s geht, weiß oder lernt jeder vom anderen, da merkt man schnell, wer die besten Lehrherren hatte.
Aber jeder selbst ist ein Individuum, er ist die Ausnahme, gut, dass sie nicht so geworden ist wie er und der doch ganz anders als der.
Jedem hier ist als Kind etwas für ihn persönlich ganz schlimmes passiert, weshalb er so geworden ist, wie er jetzt ist.
Da kommst Du erst etwas später dahinter. Nicht viel später. Weil jeder ganz toll ist und ganz gerne über sich redet. Und er oder sie erzählt Dir schon bald seine Lebensgeschichte, als wärst Du ein alter Freund. Du musst nur ein wenig fragen, am Anfang geschickt noch, nachher weniger, nach und nach läuft es dann wie von selbst. Und Du musst zuhören. Diesen armen Menschen hier hat nämlich vorher noch nie einer zugehört im Leben.
Die Eltern nicht, die hatten andere Probleme, die vermeintlichen Freunde auch nicht, deren Eltern hatten die selben Probleme, die waren aus der selben Ecke und wollten selbst, dass ihnen einer zuhört. Und so muss einer immer lauter schreien als der andere, damit man ihn dennoch ein wenig wahrnimmt im Gebell des Rudels. Und jeder muss immer toller sein in seinen Geschichten, immer das Schlimmste und noch Schlimmeres erlebt haben, am meisten vom Opa missbraucht worden sein.
Tänzerinnengeschichten. Kiezgeschichten. Zweifellos nicht alle erfunden.
Zweifellos mit einem mehr oder weniger großen Fetzchen Wahrheit daran. Und zweifellos tragisch, für solide Leute beinahe unerklärlich, nicht nachzuvollziehen. ‚Ja gibt’s das denn? Wie konnte der nur? Wieso hast Du denn nicht…? Und Deine Mutter denn…? Und was war mit dem Lehrer…? Niemand? Ganz allein?’
Ganz allein.
Und so langsam legen sie sich eine Rüstung zu. Lauter bellen. Lauter. Noch lauter. LAUT!!! Und siehe da: ein paar in der Meute drehen sich tatsächlich um! Sehen Dich an, sind aufmerksam geworden. So schlimm??
Ja, so schlimm.
So! geht das also.
Meistens sind es Frauen, Mädchen, halbe Kinder zum Teil noch, die hier arbeiten. Junge, hübsche, nette Dinger - auf den ersten Blick. Zweifellos - hübsch sind sie irgendwie alle. Sie pflegen die wenigen Habseligkeiten, die sie haben und die sie verkaufen können: ein nettes Äußeres, lange Beine, schöne Haare. Du wunderst Dich, in welch frechem, vorlautem Ton Dir eine hübsche Dame hier patzige Antworten geben kann? Bist Du nicht ihr Freund, dann bist Du ihr Feind. Oder ihr Freier, im Cabaret-Betrieb harmlos „Gast“ genannt.
Zwischen Freund und Feind gibt es nichts. Und alle sind zu blöd, zu dumm, halbschlau. Sie konnten auch gar nichts anderes machen, als hier ihre Trümpfe auszuspielen, die sie haben: das gute Aussehen, das sie glücklicherweise mitbekommen haben auf ihren harten Lebensweg, die egoistisch-arrogante, vorlaut-freche, rotzige Art, sich sofort und für alles zu rechtfertigen und zu wehren, auch wenn sie nur zu Unrecht annehmen, man wolle an ihrem Glamour kratzen. Und die langen Fingernägel, mit Vorliebe rot lackiert, die sie selbst oder ihre Kosmetikerin liebevoll gezüchtet und gestaltet haben, damit sie Dir, wenn nichts mehr hilft, damit die Augen auskratzen können.
Heutzutage –damals gab es die noch nicht für das Normalo-Girl, weil schlichtweg unbezahlbar – kommen auch noch die Platiktiten dazu, stolz vor die stolz geschwellte (oder geschwollene) Brust gehängt, je grösser, je besser – schaut her, meine neuen Titten, -Version 1- selbstbezahlt, ich mach tierisch Kohle!, oder –Version 2- vom Freier bezahlt, ich bin doch nicht so blöd und geb meine Kohle für sowas aus!
Wenn man all diese Veranlagungen mitbringt, ist es nicht schwer, das Geschäft der Abzieherei - das Geschäft des Kiez - auch noch zu lernen. Es bietet sich an, es gibt ja auch gar nichts anderes, was sich anböte, man muss nicht mehr die schon in der Vergangenheit gehasste und ohnehin schwierige Schulbank drücken, braucht keine Lehre zu machen und sich kaum unterzuordnen - und die, denen man sich dann doch hin und wieder mal beugen muss - gehören ja ins selbe Kader. Und in der Familie weiß man doch miteinander umzugehen.
Und wenn ich mir dies zusammengefasst so betrachte, dann sehe ich auf einmal klar. All dies zuvor gesagte trifft gleichermaßen auf alle Damen in meinem Umfeld zu - mehr oder weniger, in der ein- oder anderen Weise.
Leute, die keine Verträge abschließen wollen, sich nicht festlegen wollen, immer auf dem Weg sind und nie ans Ziel kommen, weil sie nicht wissen, wo das Ziel ist. Die immer Letztens schon was ganz anderes machen wollten aber nun ja doch noch ein bisschen müssen, weil - das Geld, das schöne Geld, wäre ja auch schade drum, wo verdient man denn heute noch so schnell so viel Geld mit so wenig Arbeit - als halbschlauer Mensch, nicht bereit, sich zu verändern, anzupassen, etwas dazuzulernen?
Und so wird aus der einst strebsamen, hübschen Hauptschülerin mit Qualifikation zur Sonderschulreife, die noch nie so richtig wusste, was sie nun eigentlich werden wollte, außer schnellstens geheiratet, außer aber vielleicht doch Altenpflegerin? - eine Tänzerin. Und siehe da, wer hätte das zuvor geahnt? - eine gute sogar noch, eine sehr gute, ja! Das spornt doch an! Da tut sich doch eine neue Chance auf! Da kann man noch was werden in dem Job, ohne lange Anlaufzeit, ohne große Mühen, nur mit den gottgegebenen Gaben (und kleinen Korrekturen des Schönheitsgottes) und unter seinesgleichen, die auch alle so viel Selbstbewusstseinsprobleme haben, wenn sie ehrlich sind, und man ist ehrlich, untereinander, muss man ja, und wenn man mit einer Selbsterkenntnis der erste ist, dann hört einem wenigstens noch einer zu!
Da gibt es auch die ewig Gestrigen, die voll auf der Überholspur ständig in der Vergangenheit leben, mit ihrem ganzen Seelenmüll, das sind die anderen fuffzig Prozent, mit hundertachtzig Sachen rückwärts in die Parklücke, die alles souverän und obercool meistern, im Rampenlicht stehen und immer wieder glänzend aussehen. Nach dem die ersten Umdrehungen auf der Bühne und im Glas gesessen haben, jedenfalls. Denn ohne die Hilfsmittel des Erfolges und des Hochprozentigen sind sie doch alle kleine Lichter, eigentlich, und von draußen her betrachtet. Mit ihren Problemen, die sie ein Leben lang mit sich rumschleppen - die wirklich gravierend waren! - unfähig, damit fertig zu werden und sie abzulegen. Unfähig, sich ein Analysesystem aufzubauen, den Blick nach vorne zu richten. Klar, wer so mit sich selbst beschäftigt ist, hat auch keinen Raum, sich mit anderen zu beschäftigen, sich zu orientieren. Festplatte voll, Speicherkapazität erschöpft, TILT. In der Family merkt man das nicht. Aber andere merken dass.
Die anderen können sich mit ganz vielen Dingen auf einmal beschäftigen und ihre Probleme verarbeiten, lösen gar. Ja, die können noch was anderes, ganz tolles: die können Probleme sogar von vorn herein vermeiden! Denken - nennen die das. Die denken vorher, bevor sie was tun, was dann hinterher Probleme verursachen könnte. Die Family aber denkt hinterher, wenn’s passiert ist. Sie denkt laut, denn wenn es alle anderen miterleben, dann haben die wenigstens auch was erlebt. Und man hat wieder was zum Quatschen, zwischen zwei Freiern. Eigentlich über die eigene Unfähigkeit und Dummheit. Oder die der anderen. Aber das merkt in der Family so schnell keiner.
Und wenn schon - wir sagen’s alle nicht allen weiter, wir sind ja dicke Freunde. So lange, wie es dauert.
Und wir sind Kiezianer.
Ohne Furcht und Tadel.
Und ohne Hoffnung.
Sehe ich dies von aussen? Oder bin ich Teil dieser Familie?
Und doch habe ich sie alle geliebt, jeden auf seine Art und Weise. Und doch haben sie mir alle die schönsten Jahre meines Lebens bereitet.
„Das hier gehört alles mir, je Schraube, jeder rostige Nagel, jeder Kugelschreiber“!
Mein Chef heisst Peter.
Peter der Grosse. Wenn er nicht hinhört, nennen wir den Laden „Peters World“. In Holland gibt es einen Erlebnispark für Kinder, der heisst „Wallibi’s World“. So ähnlich ist das hier auch. Ein Kinder-Erlebnispark. Nur halt für grosse Kinder.
Peter, meinem Chef möchte ich sagen:
Wenn Du uns schon ständig zusammengelogene Geschichten erzählst, dann merk Dir die Storyline. Und widersprich dir nicht ständig.
„Gestern, nachdem ich weg war, war ein Freund von mir hier im Laden. Der hat erzählt, ihr habt das und das getan...!“ Peter – du hast doch gar keine Freunde. Du hast doch nur den Laden hier. Ach ja, und die Zockerbude, wo du immer hingehst, in dem Moment, wo gerade beide Koberer im aden sind und Du denkst, dass es niemand merkt.
Peter, erzähl nicht am Telefon, wenn du längst zuhause bist und stündlich anrufst und dich beschwerst, dass wir noch keine Kassen von 10.000 haben: „...die Strasse ist doch voll, das seh ich doch von hier aus in dem Laden in dem ich bin, erzähl mir doch nicht, es ist nichts los! Die Koberer sollen gefälligst Gäste rein bringen!“
Nein, von deiner Bude im achten Stock in Wandsbek kannst du wirklich nicht die Reeperbahn sehen, Peter, und es gibt Leute, die können an einem nicht vorhandenen Hintergrund-Geräusch hören, dass du zuhause bist. Weil auch ein nicht zu hörendes Geräusch kann man hören. Ich höre sogar, ob du beim telefonieren stehst oder sitzt!
Kein Umsatz kommt nicht von alleine. Der kommt, wenn die zum Tanzen eingestellten Frauen nicht tanzen, nichtmal wenn neue Gäste in den Laden kommen, sondern zu zweit gelangweilt auf der Couch sitzen, die du sinnoller Weise auf die Bühne gestellt hast, und auf der sichs so bequem sitzt. Zu zweit kann man besser mit dem Handy spielen, der ganze Laden tut das, kein Wunder, dass de Gäste wieder raus gehen.
Aber verantwortlich sind die Kellner, nicht der Chef!
So geht das! So.
Der Chef gehört in puncto Intelligenz und betriebswirtschaftlicher Qualifikation voll zur Family.
Kiezianer. Ohne Furcht und Tadel.