Читать книгу Kiez, Koks & Kaiserschnitt - Christian U. Märschel - Страница 3

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VORWORT: Guten Morgen, Paradies!

Es ist tiefschwarze, rote Nacht, die Sterne über dem ausgetrockneten Flussbett der ehemaligen Süderelbe leuchten rötlich bis lila. Zwischen den Punkten der Sterne heben sich mehrere Punkte ab, schneller größer werdend. Sie sind aufgereiht wie auf einer Perlenkette, blinken, mal schneller, mal langsamer und kommen in rasendem Tempo über das trockene Flussbett geschossen. Sie werden langsamer, die Perlenkette dreht sich um sich selbst, Rauch steigt darunter auf, dann landet die Kette langsam. Einige der Lichter erlöschen, andere blinken weiter, es zischt.

Niemand nimmt Notiz davon.

Es ist niemand da.

Staub wirbelt auf, trockener Staub, es hat seit Ewigkeiten nicht mehr geregnet. Aus dem Nebel tauchen kleine runzelige Gestalten auf in weißen Anzügen. Sie haben altmodische Geräte dabei, die gar nicht in diese Zeit passen: Schaufeln, Spitzhacken, Pinsel und Besen. Sie fangen an zu graben, dort, wo einmal die Elbbrücken standen, damals, als die Süderelbe hier noch floss. Die Schaufeln graben sich in den Boden, jeder Einstich macht ein kratzendes Geräusch, dass durch das Echo vermehrfacht wird. Jeder sorgfältige, vorsichtige Strich mit dem Besen oder dem Pinsel macht ein lautes Echo, das aus dem Nichts widerhallt.

Die Schaufel stößt auf Beton.

Vorsichtig graben die Gestalten weiter, wollen nichts beschädigen, was geschichtsträchtig und historisch –prähistorisch vielleicht- sein könnte. In dem rötlichen Nebel, der über dem staubigen Flussbett hängt, ist nicht alles deutlich zu sehen.

Jetzt graben sie etwas aus. Eine Mumie, konserviert im letzten Rest eines Betonpfeilers der Elbbrücke. Seit Ewigkeiten eingeschlossen, ohne dass Luft sie hätte zersetzen können. Damals nicht. Und heute auch nicht. Heute gibt es keine Luft mehr.

Und keine Elbe.

Wie von Ferne sehe ich, wie die Marsmännchen-ähnlichen Wesen die letzten Betonbröckchen von mir abkratzen und mich wegtragen, auf einer Art futuristischer Tragbahre, die von selber schwebt, durch die rote, staubige, nebelige Umgebung. Endlich raus aus dem Pfeiler, endlich, nach dreitausend Jahren. Das hässliche Loch in meinem Kopf tut schon seit fast zweieinhalb Jahrtausenden nicht mehr weh. Zum Glück haben mich die Luden damals erst erschossen, bevor sie mich einzementierten. So manch einer hat das ohne die erlösende Kugel miterleben dürfen…

Im Nebel und im aufwirbelnden, roten Staub hebt das Ufo ab und verschwindet mit mir irgendwo zwischen den rot leuchtenden Sternen.

Ich wache auf.

Es ist Tag, die Sonne scheint rot durch die roten Vorhänge auf den roten Teppichboden und erleuchtet die roten Tapeten. Nur die schneeweißen Möbel leuchten mich aufdringlich grell an. Es kratzt und klopft und hallt immer noch. Anscheinend haben sie endlich begonnen, die leerstehende Nachbarwohnung umzubauen. Ein ganz gewöhnlicher Morgen im ‚Paradies’ in der Danziger Strasse, Hamburg St.-Georg. Nur dass der Morgen hier immer erst mittags beginnt.

Zum Glück ist noch etwas Weißes Glück da, ich mache mir auf dem Tisch mit der riesigen Glasplatte, die von einer splitternackten Meerjungfrau gestützt wird, erstmal eine Nase fertig.

Die Line wird schnell kleiner unter dem darüber fahrenden Röhrchen aus goldfarbenem Metall, dass einen Miniatur-Staubsauger, dessen Vorlage wohl ein Hoover war, darstellt.

Jetzt seh’ ich klarer. Aber hören tue ich jetzt nichts mehr.

Der Krach aus der Nachbarwohnung ist auf einmal verstummt.

Vor­wort - zum bes­se­ren Ver­ständ­nis

Die­ses Buch ist kein Ro­man.

Es ist ein Rück­blick auf ei­nen wich­ti­gen Zeit­ab­schnitt in mei­nem Le­ben, der sich wirk­lich so­ zu­ge­tra­gen hat.

Es ist nichts ver­än­dert, nichts be­schö­nigt und nichts hin­zu­ge­fügt.

Un­we­sent­li­ches ha­be ich al­ler­dings weg­ge­las­sen, weil es Dich wohl nicht in­ter­es­sie­ren wür­de.

Man­che Per­so­nen oder Hand­lun­gen ha­be ich sehr de­tail­liert be­schrie­ben. Den ei­nen oder an­de­ren mag das lang­wei­len. Ich ha­be es als wich­tig emp­fun­den, be­son­ders die Per­so­nen, die für die Ent­wick­lung der Din­ge wich­tig wa­ren, so gut und ge­nau wie mög­lich zu cha­rak­te­ri­sie­ren. Vielleicht hilft es Dir, mein Leben im so genannten Rotlichtmilieu, das sich einfach so von selbst entwickelt hat und in das ich mich ganz bewusst habe reinziehen lassen, zu verstehen.

Ich beschreibe in den meisten Kapiteln Dinge, Vorgänge und Erlebnisse, die für jemanden, der diese besondere Welt nicht kennt, vielleicht schwer verständlich oder sogar unverständlich sind. Ich kann nicht davon ausgehen, dass gewissen Vorgänge bekannt sind: „Ich habe mein Auto gewaschen, du weißt schon, wie das geht…“ Darum versuche ich, alles so genau wie möglich zu beschreiben. Nicht als Bastelanleitung für ein verpfuschtes Leben, sondern um den wirklichen Eindruck und auch das Verständnis der Situation zu ermöglichen.

Konju ist ein sehr lieber und warmherziger Mensch, der aber schon durch seine Aussprache seine ausländische Abstammung verrät: „Ab’rr Dick’rr, solltest Du’ss mal sehen, wie ich das wiedder gemacht habbe…“ Konju kann einfach nicht sagen: „Aber Dicker, du hättest mal sehen sollen, wie ich das wieder gemacht habe…“ Darum ist das Buch an manchen Stellen vielleicht schwieriger zu lesen. Aber wenn man sich die Zeit nimmt, kann man in den einzelnen Personen und Passagen aufgehen. Und vielleicht verstehen, warum ich damals so war wie ich war.

Die er­schei­nen­den Na­men sind in­ der Re­gel die wirk­li­chen Na­men der Per­so­nen, die ich be­schrei­be. Jedenfalls deren Vornamen. So könnte die von mir beschriebene Ela vielleicht die Ela sein, die bei Dir um die Ecke wohnt, in dem schmucken Reihenhäuschen!? Na­men von Leu­ten, die durch de­ren Nen­nung auch jetzt noch -Jahre danach- Schwie­rig­kei­ten be­kom­men könn­ten, ha­be ich ver­än­dert. Es wird Dir nicht auffallen, Du kennst die Leute wahrscheinlich eh’ nicht. Das än­dert aber nichts an der Au­then­ti­zi­tät der Hand­lung.

In vie­len Ab­schnit­ten be­schrei­be ich Stim­mun­gen. Das sind die Stim­mun­gen, die ich wäh­rend des Schrei­bens hat­te. So kommt es, das man­che Stücke de­pres­siv und selbst­kri­tisch ge­schrie­ben sind, an­de­re wie­der op­ti­mi­stisch.

Es ist meine Verarbeitung der Erlebnisse, die ich einfach nicht verarbeiten kann.

Für je­den Men­schen ist sein in­di­vi­duel­les Schick­sal das be­deu­tend­ste.

Was man im Le­ben er­lebt oder wie man sich von Schick­sal be­ein­flus­sen lässt, hängt von je­dem selbst ab. Ins­ge­samt ge­se­hen ha­be ich be­stimmt nicht das schlech­te­ste Los ge­zo­gen.

Aber ich glau­be, dass ich Din­ge ge­se­hen und er­lebt ha­be, die nicht je­der er­lebt.

Wen die Halb­welt, das Halb­sei­de­ne in­ter­es­siert oder fas­zi­niert –oder gerade auch nicht!- , für den sol­len mei­ne nie­der­ge­schrie­be­nen Er­leb­nis­se in­for­ma­tiv sein, aber auch war­nend.

Je­der muss für sich selbst her­aus­fin­den, wo sei­ne Gren­zen sind und was er sich zu­traut.

Ich ha­be mir sehr viel zu­ge­traut und da­durch viel er­lebt.

Ich ha­be mir zu­viel zu­ge­traut und bin dar­an ge­schei­tert.

Ma­te­riell wie psy­chisch. Denn ich habe alles verloren.

Aber ich ha­be ei­nes nicht ver­lo­ren.

Mein Ge­dächt­nis und al­le Er­in­ne­rungen.

Aber manch­mal ha­be ich Angst, mein Ge­dächt­nis zu ver­lie­ren. Ir­gend­wann muss die Spei­cher­plat­te doch mal voll sein, die äl­te­ste Spei­che­rung wird ge­löscht.

Tilt.

De­tails wer­den ver­ges­sen oder falsch wie­der­ge­ge­ben.

Da­vor ha­be ich Angst. Des­halb schrei­be ich al­les auf.

Und weil es mich ent­la­stet.

Je­den Tag, an dem ich schrei­be, füh­le ich mich da­nach er­leich­tert. Je­den Tag ein Stück Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, Ver­ar­bei­tung von al­lem, was ich in fast sechs Jah­ren in­ Ham­burg, der - von vie­len so­ be­zeich­net - schön­sten Stadt Deutsch­lands, und in­ zwei Jah­ren des stän­di­gen, täglichen Dro­gen­kon­sums und des rei­chen Geld­se­gens ver­drängt ha­be.

Ich glau­be an das Schick­sal, den vor­be­stimm­ten Weg.

Da­von las­se ich mich auch heu­te noch len­ken. Ich bin nicht religiös und glaube nicht an Gott oder eine ähnliche, übergeordnete Macht.

Das Schick­sal hat ge­wollt, das ich noch lebe.

Da­mit so etwas nicht wie­der ge­schieht, muss ich das Erlebte erst ein­mal be­wäl­ti­gen, ehe ich mir ei­ne neue Zu­kunft auf­bau­en kann.

Ei­ne Zu­kunft aus dem Nichts, aus ein paar Hab­se­lig­kei­ten, die ei­nem einst rei­chen Mann, der so gern ein Großer sein woll­te auf dem Ham­bur­ger Kiez - dem schön­sten Fleck­chen Er­de, das ich bis­her ken­nen­ge­lernt ha­be -, ge­blie­ben sind.

Kiez, Koks & Kaiserschnitt

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