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1. 3. 22 Hermann Nohl (1879–1960)

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Nohl ist aufgewachsen am Rande und zugleich unter den Rahmenbedingungen eines Internats. Es gehörte zu einem angesehenen Berliner Gymnasium, an dem der Vater Nohls als Lehrer tätig war. So bilden gewissermaßen sozialpädagogische Verhältnisse schon den frühen Hintergrund von Nohls Biografie.

Geprägt durch die wissenschaftliche Grundlegung bei Wilhelm Dilthey (1833– 1911), Nohls Universitätslehrer und Doktorvater, tritt Nohl im Laufe seines wissenschaftlichen Wirkens vehement für die Autonomie der Pädagogik ein. In seinen sozialpädagogischen Schriften macht er das gesellschaftsverändernde Verhältnis von (Sozial)pädagogik und Politik zu einem Zentralthema, ja zum Ausgangspunkt einer systematischen Festlegung: „Es gibt zwei Wege, ein Volk zu gestalten: Die Politik und die Pädagogik“ (NOHL 1966, S. 228). So heißt es lapidar im „Handbuch der Pädagogik“, das er in Zusammenarbeit mit Pallat ab 1928 herausgab.

Im Angesichte der sozialen Verwerfungen (Kriegs- und Nachkriegszeit des 1. Weltkrieges, Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit) und bemüht, mit pädagogischen Mitteln zu helfen, betont er die Zuständigkeit der Pädagogik. In einigen Aspekten möchte er ihre Einzigartigkeit anerkannt und speziell in sozialpädagogischer Hinsicht ihren Vorrang gesichert sehen.

1 Die Einzigartigkeit der Erziehung und ihrer Wissenschaft ist begründet im Phänomen des „pädagogischen Bezugs“. Dieser ist „das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen und zwar um seiner selbst Willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form komme“ (NOHL 1933, S. 22, zit. n. GIESECKE 1997, S. 223). „Nohl versteht neben anderen existenziellen Bedingungen wie die der Freundschaft oder die der Geschlechterbeziehung die pädagogische als spezielle anthropologische Möglichkeit der Begegnung und Entwicklung. Ihr Besonderes ist ihre gemeinsame Interessenlage von Erzieher und Zögling am personalen Wachstum des Letzteren. Ihr weiterhin Spezielles ist ihre grundsätzliche Einsicht und Absicht, dass diese Beziehung vom ersten Augenblick an auf ihre Auflösung gerichtet ist, darauf, sich überflüssig zu machen in dem Maße, wie der Zögling selbst in seiner Reife fortschreitet“ (GIESECKE 1997, S. 227).

2 Die innig identifikatorische, wenn auch stets auf Freigabe und Ablösung gerichtete Interessensgemeinschaft mit den Potenzialen des Zu-Erziehenden lässt im Sinne Nohls den Erzieher zugleich zum Advokaten, von dessen natürlichen Bedürfnissen des leiblichen und seelischen Lebens werden. Gewissermaßen nimmt Nohl hier die Erkenntnisse Maslows über die Bedürfnishierarchie bzw. die Bedürfnispyramide vorweg. Nohls Sozialpädagogik vertritt das Recht des Individuums auf sein irdisches und eigenes Glück, auf sein eigenes Wohl: „Dieser Genuss des Lebens und diese Entfaltung der Kräfte, die ein Leben lebenswert machen, ist aber ein absolut berechtigtes Moment der menschlichen Existenz. Solche Befriedigung des Subjekts gehört allerdings in den Sinn des Lebens, und keine Ethik oder Religion kann auf sie verzichten ... Die neue Einstellung der Wohlfahrtspflege ist die Anerkennung dieses Lebensrechtes jedes Individuums, zu seinem Wohlsein zu kommen. Sie tritt nicht bloß mit der Frage irgendwelcher objektiven Werte fordernd an das Individuum heran, sondern sieht sich zunächst dem armen hilflosen Ich gegenüber, das nach seinem Glück strebt, und bejaht die Berechtigung seiner Triebe, zu wohnen und zu essen, zu arbeiten und seine Muße zu haben wie ein Mensch, sein Liebesverlangen wie sein Elternrecht, vor allem auch sein Recht, erzogen zu werden um seiner selbst willen zur Entfaltung seiner Tüchtigkeit“ (NOHL 1926, S. 17f.). In diesen Äußerungen wird das alte Thema der Polarität von Individual- und Sozialerziehung neu angesprochen. Aus den Überlegungen Diesterwegs, Natorps, Willmanns und Fischers ist es uns bekannt. Neu ist hier der engagierte Eintritt für das Recht des Individuums aus sozialpädagogischer Sicht. Hoben die anderen Klassiker der Sozialpädagogik mehr den Wert, ja bei Natorp ausdrücklich den Primat des Sozialen im Erziehungsgefüge hervor, so war diese Argumentation eine Entgegensetzung zur Individualitätsgläubigkeit und Persönlichkeitsidee des Neuhumanismus gewesen. – Für Nohl wird diese zuvor notwendige bildungsphilosophische Auseinandersetzung zweitrangig angesichts der gesellschaftlichen Krise und der bei ihren politischen Lösungsversuchen im Massenexperiment vergessenen Individuen. Sein Eintreten für das Individuum ist nicht in erster Linie an dessen humanistischer Selbstwerdung orientiert, sondern an seiner realen Wohlfahrts- und Glückssehnsucht. Wir können demnach festhalten, dass Nohl das Recht des Individuums auf sein eigenes Wohl als vorrangiges Ziel, als genuine Aufgabe der Sozialpädagogik behauptet. Darin liegt ihre Autonomie gegenüber jeder anderen gesellschaftlichen Macht begründet.

3 Das andere, autonom pädagogische Prinzip, das Nohl mit der Lösung der sozialen Frage verknüpfen will, ist die Wendung „von der Heilung und Rettung irgendwie verwahrloster und kranker Jugend auf die Vorbeugung, von der Therapie auf die Prophylaxe“ (NOHL/ PALLAT 1929, S. 46). Im Grunde ist dieser Gedanke gleichsinnig mit der von Fischer (1. 3. 23) gesehenen Notwendigkeit, die Quellen der sozialpädagogisch interessierenden Notlagen zu verstopfen und somit die „sukzessive Selbstabschaffung der Fürsorge als System“ (FISCHER 1925, S. 333) zu betreiben. Deutlich wird auch die Übereinstimmung zwischen Willmann und Nohl, wenn wir uns Willmanns Anstöße zur Erneuerung der sozialen Einheiten Familie, Gemein- und Volksleben, Kirche und Staat als Rettung aus – und präventiv vor – gesellschaftlicher Erosionen in Erinnerung rufen.

Trotzdem erscheint der Gesichtspunkt der Prophylaxe, wie Nohl ihn artikuliert, in einer Hinsicht pädagogisch profilierter zu sein: Sozialpädagogische Aktivität soll nicht mehr allein reaktive Intervention auf die Notstände einzelner Menschen und Gruppen sein. Stattdessen steht sie unter dem Auftrag, eine „Erziehung zur Kraft und zum Mut der Selbsthilfe in der Gemeinschaft“ zu betreiben. Damit erhält Sozialpädagogik für viele ihrer Initiativen einen subsidiären Primat vor dem staatlichen Auftrag, indem sie deutlich die Kräfte der Selbsthilfe stützt. Ja, in mancher Hinsicht wird sie der Inspirator und Auftraggeber für staatliche Maßnahmen, die sie vor dem Hintergrund einer sozialpädagogischen, auf Menschlichkeit und Einzelwohl bezogenen Ethik zu fordern hat.

Halten wir fest: Nohl postuliert mit Nachdruck die Autonomie der (Sozial-) Pädagogik. Er begründet sie in dem einzigartigen Verhältnis zwischen den Erziehenden und ihren Zu-Erziehenden im pädagogischen Bezug. Er macht sie manifest an dem gegenüber Staat und Gesellschaft behaupteten anwaltlichen Anspruch, das Wohl des einzelnen zu vertreten. Er artikuliert den Vorrang pädagogischer Prophylaxe vor dem Eingriff in solche Notstände, die bei rechtzeitiger Vorbeugung vermieden werden können.

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