Читать книгу Handbuch Sozialpädagogik - Christian Wilhelm Huber - Страница 43
1. 3. 21 Janusz Korczak (1878–1942) (Stefanie Debiel)
ОглавлениеAuf der Grundlage der jüngsten umfassenden Korczak-Forschung von Silvia UN-GERMANN (2006), auf die im folgenden überwiegend Bezug genommen wird, zählt Korczak nach unserer Systematik mit Sicherheit zum Kreis der frühen Sozialpädagogen. Nach umfassender Rekonstruktion des Korczakschen Gesamtwerkes kommt UNGERMANN (ebd., S. 20) zu der Schlussfolgerung: „Die Untersuchung der werkimmanenten Zusammenhänge zeigte eine Abhängigkeit seines pädagogischen Werkschaffens von seiner vor allem in den Jahren 1896 bis 1912 publizierten grundsätzlichen Kritik an dem von sozialen Ungerechtigkeiten geprägten Leben im Königreich Polen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es wurde deutlich, dass Korczak mit seinem (erziehungs-)praktischen und literarischen Werk auf konkrete historische Gegebenheiten reagiert und diese durch Erziehung zu verändern sucht.“
Um Janusz Korzcak angemessen zu würdigen, bedarf es eines kurzen Exkurses in seine Biografie. 1878 wird er als Sohn einer zunächst wohlhabenden jüdischen Familie unter dem bürgerlichem Namen Henryk Goldszmit geboren. Aufgrund Erkrankung und frühen Todes des Vaters verarmt die Familie. Korzcaks Leben ist geprägt durch seinen unermüdlichen und solidarischen Einsatz als Arzt und Pädagoge für Kinder, „(…) die zudem noch arm, jüdisch und … teilweise Waisen waren (…)“ (GIESECKE 1997, S. 146). Er war Mitglied vielfältiger sozialer Organisationen und nahm durch sein Engagement Einfluss auf die gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit. Sein selbstloser Einsatz für benachteiligte Menschen endet mit seiner Ermordung im Vernichtungslager Treblinka im Jahr 1942. Janusz Korzcak begleitete ca. 200 Waisenkinder, für die er im Warschauer Getto sorgte, in den Tod, trotz der ihm angebotenen Möglichkeit, dem Getto zu entkommen.
Was kennzeichnet das sozialpädagogische Wirken dieses beeindruckenden Menschen? Janusz Korczak befasst sich mit gesellschaftlichen Problemlagen seiner Zeit. Seine ab 1896 in der satirisch-humoristischen Wochenschrift „Kolce“ publizierte Sozialkritik richtet sich insbesondere gegen die bürgerliche polnische Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Korzcak kritisiert, dass das Bürgertum aufgrund mangelnder Erziehung keine Anteilnahme an der Not der armen Bevölkerungsgruppen nimmt. Er belässt es nicht bei seiner satirischen Kritik, sondern sucht in weiteren Veröffentlichungen nach Wegen, die Verhältnisse zu verbessern. UNGERMANN (2006, S. 35) fasst diese wie folgt zusammen: „Durch die Vermittlung von Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge („Bildung für alle“), die Aufdeckung sozialer Missstände und die Beschreibung vorbildlichen sozialen Verhaltens möchte er einen Beitrag leisten zur Milderung des Proletariats.“ Hervorzuheben ist, dass die Zielgruppe (sozial-)erziehlicher Einflussnahme nicht allein diejenigen sind, die am Rande der Gesellschaft stehen, sondern insbesondere auch diejenigen, die zur privilegierten Gesellschaftsschicht gehören. Insofern kommt hier in höchstem Maße der Gedanke einer „prosozialen Erziehung“ zum Tragen. Verbesserungen sieht er als wechselseitigen Prozess: Durch Arbeit, Sparsamkeit und Bildung für die Kinder sollen arme Familien die eigenen Lebensbedingungen verbessern. Ebenfalls notwendig ist jedoch die Unterstützung durch die Gesellschaft, die u. a. Familien dahingehend unterstützen muss, für sich selbst sorgen zu können (vgl. ebd., S. 43-51). Dies kann im heutigen Sinne als durchaus präventiv und subsidiär (1.2.5) bezeichnet werden. Ethisch vertritt Korczak die christliche Idee der Nächstenliebe. Auch hier misst er der sozialen Erziehung große Bedeutung zu. Insbesondere Kinder aus reichen Verhältnissen sollen mit der Not anderer Menschen in Berührung kommen, um sie zu lindern. „Oft sind die Mittel da, der gute Wille ist da, aber es fehlt an Menschen. Doch aus Kindern, die unmittelbar mit der Not bekannt gemacht worden sind, werden Menschen….“ (KORCZAK SW, Bd. 9, S. 127, zit. nach UNGERMANN 2006, S. 47). Gleichermaßen appelliert er an die Idee der sozialen Gerechtigkeit, indem er auf soziale Ungleichheiten zwischen Bürgertum und Proletariat aufmerksam macht. Er fordert sozialpolitische Lösungen und gezielte Hilfemaßnahmen und nimmt damit die Gesellschaft in die Verantwortung. Einen weiteren und letztlich entscheidenden Ansatzpunkt, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, misst Korzcak zunächst der schulischen Erziehung zu. In Erzählform entwickelt er das pädagogische Ideal einer „Schule des Lebens“, in der durch Ausbildung individueller und sozialer Kräfte der Grundstein für eine gerechte Gesellschaft gelegt werden soll (vgl. ebd., S. 62ff.). Damit steht er in der Tradition vieler Reformpädagogen seiner Zeit, u. a. John Deweys (1. 3. 13). Mit Gründung der Waisenhäuser Dom Sierot und Nasz Dom verwirklicht Korzcak auf der praktischen Ebene dieses Ideal einer demokratischen Erziehung. Damit verbunden ist die anthropologische Grundannahme, „Kinder werden nicht erst zu Menschen – sie sind bereits welche“ (KORCZAK SW, Bd. 5, S. 25, zit. n. UNGERMANN 2006, S. 368). Wichtig ist ihm zu betonen, dass Kinder dennoch keine kleinen Erwachsenen sind. Mit seiner im Jahr 1919 proklamierten „Magna Charta Libertatis“ fordert er ein, Kindern eigene Rechte zuzugestehen (vgl. ebd., S. 370ff.). Seine partizipativen Konzepte der Kinderselbstverwaltung in Form von Kinderversammlungen und Kinderparlamenten weisen ihn als sozialpädagogischen Praktiker aus. Er verfolgt das Ziel, Kinder frühzeitig individuell und gesellschaftlich zu beteiligen. Seine pädagogische Grundhaltung, das Kind konsequent in seiner Gleichheit als Menschen und gleichzeitig in seiner Besonderheit als Kind zu sehen, ist heute weder selbstverständlich, noch überholt. Partizipation ist weiterhin Maßstab jeglicher pädagogischer Interaktion und wird als Handlungskonzept in Kap. 4.3.2 wieder aufgegriffen (vgl. DEBIEL 2002). Umfassende Kinderrechte, wie sie heute weltweit in der UN-Kinderrechtskonvention verankert sind, haben in Janusz Korzcak ihren anwaltlichen Wegbereiter und fordern auf, Kinder und Jugendliche auch sozialpolitisch zu beteiligen.