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1. 3. 17 Christian Jasper Klumker (1868–1942)

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Klumkers Lebenswerk ist so umfangreich und differenziert, dass in nahezu allen Feldern unserer Dimensionen Beiträge zu verzeichnen sind.

Persönlich zeichnet ihn eine herzhafte Menschenfreundlichkeit aus, mit der er sich für verschiedene Gruppen Benachteiligter einsetzte. Benachteiligungen aufzuheben, sah er als vordringliches Ziel der Sozialpolitik an. Das Energiezentrum seines Wirkens lässt sich nach unserem Schema im Bereich der anthropologischen, ethischen und sozialkritischen Dimension bestimmen.

Sein Menschenbild orientiert sich am Phänomen der Hilfsbedürftigkeit. Schon als 32-Jähriger weist er 1901 auf der Jahreshauptversammlung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge in Lübeck das bis dahin geltende Prinzip von Verschuldung und Unverschuldetheit notvoller Lebenslagen zurück:

„Ich kann in der Unterscheidung zwischen verschuldeter und unverschuldeter Armut in keiner Weise eine soziale Ausgestaltung der Armenpflege erblicken. Auf den Gebieten, die am meisten des Fortschritts bedürfen, ist man zu wirklichen Fortschritten hauptsächlich dadurch gekommen, dass man diesen Unterschied hat zurücktreten lassen; ich erinnere an die Kinderpflege, an die Krankenpflege, auf welchen beiden Gebieten die Frage nach der Würdigkeit und nach dem Verschulden fast verschwunden ist; ich erinnere an die Irrenpflege und an das Thema der Trunksucht und der Trunksüchtigen – nichts hat auf diesem Gebiet eine wirksame Betätigung mehr gehindert als die ewige Beurteilung von moralischen Gesichtspunkten aus; ein Fortschritt hat sich erst angebahnt, als man diesen Gesichtspunkt zurückgedrängt und andere Gesichtspunkte in den Vordergrund gestellt hat. ... Viel wichtiger scheint mir die Frage der Heilbarkeit und Unheilbarkeit eines Falles. Darum handelt es sich zunächst bei jedem sozialpolitischen Fortschritt auf unserem Gebiete, dass in allen den Fällen, wo wirklich dauernde Hilfe geschaffen werden kann, das Eintreten der öffentlichen Fürsorge wie der privaten (sie sei organisiert oder nicht) nach diesem Gesichtspunkt eingerichtet werde. Nicht ob der einzelne Arme sein Elend selbst verschuldet hat oder nicht, sondern die Frage: Kann ich diesem Manne wirklich helfen? ist das Wichtigste. Ich halte es auch geradezu für ein Unrecht, wenn ich einem Armen, der vollständig sein Elend verschuldet hat, dem ich diese Verschuldung in jedem Stücke nachweisen kann, dem ich aber – selbst mit Aufwendung bedeutender Mittel – wirklich wieder zu einer neuen Existenz verhelfen kann, diese Beihilfe abschlage, weil er sein Elend verschuldet hat. In all diesen Fällen sollte man nur nach dem Gesichtspunkt der Heilbarkeit gehen. ... Ich habe ein klein wenig das Gefühl, dass man bei der grundsätzlichen Hervorhebung der Unschuld (die sehr selten wirklich nachzuweisen ist) die Mängel der Weltordnung mit ein bisschen mehr Wurst zum trockenen Brot nachträglich ausbessern und der Gerechtigkeit Gottes etwas nachhelfen möchte. Sozialpolitisch ist dieser Gesichtspunkt durchaus unfruchtbar“ (zit. n. NEISES 1968, S. 1f.).

Wie aus diesem Zitat ersichtlich, folgert Klumker aus seinem Menschenbild von prinzipieller Hilfsbedürftigkeit und unverweigerbarem Hilfsanspruch sozialkritische, damit sozialpolitische Forderungen. Erfolgreich bekämpft er die Benachteiligung unehelicher Kinder, ihrer Mütter, Väter und Stiefväter. Hartnäckig betreibt er als Promotor der Amtsvormundschaft und durch persönliche Übernahme dieses Amtes für zahlreiche Mündel ihre notwendige Unterstützung und Erziehung. Zuvor waren diese Kinder großenteils der Vernachlässigung durch ihre Zwangs-Vormünder ausgesetzt. Darüber hinaus verweigerten viele Gemeinden, sie ins Personenregister aufzunehmen, um die gesetzliche Leistungspflicht zu vermeiden. Durch die Einrichtung der Amtsvormundschaft und die persönliche Obhut Klumkers erhalten sie und ihre Mütter einen einflussreichen Schutz vor der Benachteiligung. Ein durchschlagender politischer Erfolg gelingt Klumker 1914 durch Aufhebung des Reichsgesetzes von 1888, wonach uneheliche Kinder von den Unterhaltsleistungen bei Einberufung ihrer Stiefväter ausgeschlossen wurden.

Nicht nur als Promotor sozialer Gesetzgebung, sondern auch als Begründer sozialer Institutionen macht sich Klumker verdient:

Arbeitsbereiche, in denen sich bis heute wirksame Einflüsse Klumkers auffinden, sind Heimerziehung, sozialdiagnostische Zentren zur Erfassung individueller Erziehungsbedürfnisse, Berufseingliederungshilfe, Nicht-Sesshaftenfürsorge, Gerichtshilfe und Systematisierung des Almosenwesens. Neben seiner einflussreichen Mitwirkung vor Ort betreibt er mit größtem Einsatz Öffentlichkeitsarbeit: zum einen, um die Politik in die Richtung der Solidarisierung mit den Benachteiligten zu bewegen; zum andern, um die selbstgerechten Vorurteile der Bevölkerung gegenüber den Randständigen zu erweichen.

Neben den Adressaten, die sich aus Klumkers Gesetzesinitiativen und praktisch institutionellen Ansätzen ergeben, wird in seinem Sozialjournalismus die Öffentlichkeit selbst zum Adressaten seiner sozialpädagogischen Einflussnahme. Sehen wir seine Öffentlichkeitsarbeit als außerordentlich modernes Verfahren heutiger Non-Profit-Arbeit, so erinnern auf der anderen Seite die von Klumker geforderten Herangehensweisen von Einfühlung und Verständnis an die heutigen Methoden von partner- und lebensweltorientiertem sozialpädagogischem Coaching (4.4.1).

Auch hinter den Fällen der „Unheilbarkeit“ haben Menschen für ihn Anspruch auf Respekt und Würdigung ihres eigenen Lebensstils. Bereits 1901 fordert er in dem bereits erwähnten Zusammenhang in diesem Sinne für die Verarmten: „Über diese Fälle hinaus, wo Heilbarkeit möglich ist, kann eine soziale Ausgestaltung auch bei den Fällen in Frage kommen, wo es sich um eine dauernde Unterstützung, um Versorgung des betreffenden handelt. Da scheint mir neben anderen doch ein sehr wichtiger Gesichtspunkt die Rücksichtnahme bei der Versorgung der Armen auf ihre sozialen Gewohnheiten, ihre gesellschaftlichen Anschauungen, ihre Sitten und Gebräuche“ (zit. n. NEISES 1968, S. 2). Wie sehr hier ein lebensweltlicher Ansatz zu erkennen ist, spricht für sich selbst.

Um einfühlende, akzeptierende und personenzentrierte Anamnese und Diagnostik geht es Klumker in seiner „Beobachtungsanstalt“, die er 1908 in Steinmühle bei Frankfurt errichtete. Aufgabe der Anstalt ist eine ganzheitliche Beobachtung, Wahrnehmung und Diagnose von Fürsorgezöglingen und die berufliche Eingliederung entlassener Hilfsschüler: „Erst die Beobachtungsanstalt macht wieder aus diesem Papier (der Akten) Menschen, Kinder mit Fleisch und Blut, mit besonderen Anlagen, Vorzügen und Fehlern, die eine sorgsame Beobachtung gerade bei der ersten Unterbringung erheischen, damit das Kind so bald wie möglich ein neues Heim finde“ (ebd., S. 15).

Expressis verbis verlangt Klumker, dass Empathie nicht nur eine private Eigenschaft einzelner Sozialpädagogen und Fürsorger bleibe, sondern ein berufliches, wir würden heute sagen professionelles, Qualifikationsmerkmal und eine methodische Kompetenz als notwendige Ausstattungen für die „Beamten der Wohlfahrtspflege“ werde (vgl. ebd., S. 22).

Es verwundert, dass Klumker, ein Mensch mit solchem Einfluss auf Sozialpolitik, Fürsorge und praktische Sozialpädagogik, auch innerhalb von Forschung und Theorie hervortritt. So vor allem ist die Behandlung seines Wirkens an dieser Stelle der theoretischen Entwürfe durchaus wichtig.

Zunächst möchten wir seinen historischen Beitrag beleuchten; Klumker war es bewusst, wie sehr auch ins Vergessen geratene Anteile historischer Kräfte und Ideen auf eine Gegenwart einwirken können:

Er belegt, dass den Vorurteilen historisch verwurzelte Zerrbilder vorausgehen. Aus diesem Grunde erforscht er den verhängnisvollen Einfluss der Malthusschen „Verhungerungstheorie“. Malthus (1766–1834) hatte die Auffassung vertreten, dass das Bevölkerungswachstum in eine Verhungerungskatastrophe weiter Bevölkerungskreise einmünden werde. Als „Alltagstheorie“ lieferte diese Anschauung – so der Nachweis Klumkers – das Legitimationsmaterial für die systematische Vernachlässigung der unehelichen Kinder als der unwillkommensten Mitesser.

Klumker erkennt, dass prosoziale Erneuerungen oft nur durch ein historisches Zusammenwirken über Generationen hin wirksam werden können. Aus diesem Grunde arbeitet er über Pestalozzi als Wegweiser der Armenpflege und Fürsorge.

Er insistiert, dass zur Vermeidung von Fehlerwiederholungen eine Chronik der Entwicklung bestimmter Regelungen notwendig ist. Aus diesem Grunde legt er 1907 in Heft 81 der Schriften des Deutschen Vereins einen Bericht vor über „Die Entstehung der Berufsvormundschaft und ihr heutiger Rechtsstand“; dieser wird ergänzt durch ein zweites Heft (Nr. 82 der Schriften) mit „Materialien“, die neben den Ergebnissen einer umfangreichen Enquete eine reiche Auswahl von Gesetzen, Verordnungen, Motiven und Verhandlungen enthält – angefangen mit der französischen Revolutionsgesetzgebung (vgl. NEISES 1968, S. 11).

Auch für den zeitgleichen Vergleich der historischen und vergleichenden Dimension lassen sich moderne Beiträge Klumkers ausmachen. So zieht er z. B. für die Verstärkung des Erziehungsgedankens im Jugendgerichtswesen einen kritischen Vergleich zu den „Ländern englischen Rechts“ und zu Belgien (ebd., S. 48).

Für die Konstituierung seiner bereits erwähnten „Beobachtungsanstalt“ orientiert er sich an dänischen Vorbildern, deren Publikationen er sorgfältig auswertet, um sie bei einer Forschungsreise (berichtet im Jahrbuch der Fürsorge 4/1919, S. 41-55) selbst in Augenschein zu nehmen.

Gemäß unserem Dimensionenschema gilt noch zu klären, ob auch das Feld der theoretischen Dimension von der Wirksamkeit Klumkers profitiert.

In zwei Bereichen verdanken wir Klumker Anstöße: Speziell im definitorischen Bereich besticht er mit einer Reihe von Stichwortbearbeitungen in der 4. Auflage des „Handwörterbuchs der Staatswissenschaften“. Wissenschaftsmethodisch reicht das breite Spektrum seiner Verfahren von der Hermeneutik des Einzelfallverstehens bis zur zeitkritischen Auslegung der latenten Malthusschen Folgen, über Feldforschung bis zu empirisch statistischen Expertisen.

Eindeutig werden Geist und Handschrift Klumkers bei Formulierungen über Feldforschungen seines Freundes und Forschungspartners Spann spürbar. Letztlich stehen auch die für Klumkers Zeit so fortschrittliche empirische Wissenschaftsmethode und die Auslegung ihrer Ergebnisse unter dem Primat eines Menschenbildes, das anwaltliche und helfende Akzeptanz für Menschen in schwierigen Lebenslagen verlangt.

Selbst zur Metatheorie unserer Wissenschaft gibt es eine beherzigenswerte Position Klumkers: Da es gilt, die Werte und Methoden in das Alltagsgeschehen der Gesellschaft zu übersetzen, muss die Sozialpädagogik als Wissenschaft für die Frau und den Mann auf der Straße und ebenso für die politisch Verantwortlichen verstehbar und kommunizierbar sein. Somit ist Sozialpädagogik als Wissenschaft dazu da, Verhältnisse in einem sozialkritischen und ethischen Sinne verbessern zu helfen, und nicht allein dazu, sie – in ihren meist unvollkommenen und ungerechten Zuständen – zu beschreiben und zu analysieren.

Handbuch Sozialpädagogik

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