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1. 3. 19 Alice Salomon (1872–1948)

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Heute dürfen wir Alice Salomon, die Begründerin der professionellen Sozialarbeit Deutschlands zugleich als Mitbegründerin heutiger Theorie und Praxis der Sozialpädagogik in der Sozialen Arbeit „vereinnahmen“. Dies fällt umso leichter, als Alice Salomon Sozialarbeit eindeutig als erziehliche Aufgabe der Menschen- und Gesellschaftsveränderung begreift.

Folgen wir dem Dimensionenschema, so lassen sich für den Bereich der praktischen Dimension zunächst die Adressaten ausmachen, für die Alice Salomon ihre soziale Arbeit entwickelt. Es handelt sich um zwei verschiedene Gruppen aus zwei weit entfernten Lebenslagen: die Frauen der begüterten Oberschicht, aus der sie selbst stammt, und die in materielle und soziale Not geratenen Familien, in der Regel Angehörige des Proletariats. Auch hier setzt sie in erster Linie auf die Frauen und Mütter als Hoffnungsträgerinnen einer erziehlichen und bildungsmäßigen Anstrengung der Selbsthilfe. Während die bürgerlichen Frauen sich aus dem Parasitismus der „Nichts als Dame“ lösen (SALOMON 1910, S. 653) und aus sozialer Verpflichtung sich der Verbesserung der sozialen Verhältnisse des Proletariats annehmen sollen, soll speziell den Müttern der benachteiligten Familien Unterstützung, Entlastung, Bildung angeboten werden, um aus der Misere des Alltags mit neuen eigenen Kräften herauszukommen. In ihrem Bericht „Zum sozialen Frieden – Über die Arbeit des Hamburger Volksbildungsheimes“ (1905) hält Alice SALOMON fest, dass vor allem Arbeiterinnen das Angebot des Hauses wahrnahmen. „Damit sieht sie die Hoffnung bestärkt, dass die Frauen am besten geeignet sind, ein Bindeglied zwischen den Klassen zu sein. Trotz immer größer werdender Belastung durch Haus- und Erwerbsarbeit fühlten sich die Arbeiterfrauen für ihre Familien verantwortlich, ja, sie kamen sogar zu Beratungsstunden, die eigentlich für die Angelegenheiten der Männer eingerichtet waren. Alice Salomon hatte die Vision, dass sich die Frauen beider Klassen versöhnlich die Hände reichen, während sich die Männer in fruchtlosen und gewaltsamen Auseinandersetzungen bekämpfen“ (SIMMEL 1981).

Man könnte einem Irrtum unterliegen, wenn man nur die in Notlagen befindlichen Familien als eigentliche „Empfängerinnen“ der Sozialarbeit, die helfenden Sozialarbeiterinnen dagegen allein als berufliche „Senderinnen“ betrachten würde. Der von Alice Salomon angeprangerte Parasitismus der bürgerlichen „Nichts-als-Dame“ macht diese selbst zum Adressaten sozialer Arbeit. Gewissermaßen soll das prosoziale Engagement dieser Frauen ein Akt der Selbstbefreiung und Emanzipation sein, eine frühe Selbsthilfegruppe im modernen Sinne.

Mit Blick auf die Adressatenkreise entwirft und entwickelt Alice Salomon Verfahren für die Praxis:

Als obersten Grundsatz verficht sie die Anerkennung der Einzigartigkeit jeder sozialarbeiterischen Problemstellung, jeder einzelnen menschlichen Person. In ihren beiden Büchern „Soziale Diagnose“ und „Soziale Therapie“ (beide 1926) schlägt sie im Prinzip bereits Verfahren vor, wie sie MOLLENHAUER/ UHLENDORFF (1992) in ihren „Sozialpädagogische Diagnosen“ anwenden. Aus dem Charakter- und Kompetenzprofil lassen sich folgende Forderungen an den Idealtypus der Sozialarbeiterin ableiten:

 Respekt vor der Würde des Hilfeempfängers hat diesen stets vor jeglicher Demütigung durch die professionelle Sozialarbeit zu bewahren.

 Eine umfassende Allgemeinbildung hat den Hintergrund für ein solides, am amerikanischen „social work“ orientiertes Fachwissen abzugeben.

 Ein hohes Maß an Initiativen und die Fähigkeit der reflektierenden Auswertung persönlicher Erfahrung sollen den Wissensbestand beständig ergänzen.

 In einem sittlichen Gesamtentwurf soll der Beruf verstanden werden als eine „Tätigkeit, die auf das Ganze des Menschen zurückgreift“ (SIMMEL 1981, S. 378). Nur von hier aus werden die SozialarbeiterInnen „die Übernahme der Verantwortung für immer weitere Gebiete des Einzellebens durch die Gesamtheit und den Eingriff des Staates in das Privatleben innerlich begründen können. Sie brauchen eine allgemeine geistige Grundlage für ihren Beruf, eine Auffassung der gesellschaftlichen Zustände, aus der ihre Haltung zur sozialen Arbeit sich bestimmt“ (SALOMON zit. n. NEUFFER 1990, S. 34f.). Das Grundmotiv des beruflichen Handelns muss ein sittliches sein. Gelderwerb – wenn überhaupt – wird nur als sekundäre Nebenerscheinung von Bedeutung sein.

 Schließlich, was Alice Salomons Bild von der Klientel der Sozialarbeit betrifft, so mutet auch dieses in seiner Wertschätzung und einem Glauben an die Selbsthilfekräfte außerordentlich modern an: „Wenn man sieht, welche Anstrengungen sie machen, um ihre Schwierigkeiten zu überwinden, so vertieft sich der Glaube an ihre Fähigkeit, sich selbst zu helfen“ (ebd., S. 58).

Betrachten wir Alice Salomons Beitrag im Bereich der anthropologischen und sozialkritischen Dimension, so lässt sich ihre Wirksamkeit in direktem Zusammenhang mit ihrem Menschenbild sehen:

Weltanschaulich lässt sie sich als sozialdemokratisch reformistisch verstehen. Sie möchte den Klassengegensatz auf der Grundlage moralischer Prinzipien aufheben, ohne dass sie dabei die Klassengesellschaft selbst in Frage stellt. Eine große Energiereserve für dieses Ziel unterstellt sie den aus ihrer Sicht geschlechtsspezifischen Fähigkeiten der Frau. Einem rational analytischen Zergliederungspotential des Mannes stellt sie geschlechtspolar eine synthetische Kraft der Frau gegenüber. Mit ihr – gebündelt in der Sozialen Arbeit – hofft sie, die ungerechte Benachteiligung des Proletariats und damit die Kluft zwischen den Klassen zu überbrücken. Dabei ist Bildung und Ausbildung aller, speziell der mitwirkenden Frauen auf beiden Seiten, das entscheidende Mittel. Wieweit Kultur und Bildung jeweils eine Funktion der herrschenden Klasse ist und auch im Bildungsprozess Verhältnisse von Dominanz und Abhängigkeit reproduziert werden können, reflektiert Salomon nicht.

Trotzdem, sie fordert das Ende der Ausbeutung, die gegenseitige Verpflichtung aller Glieder des „Volkskörpers“, die soziale Reform unter Vermeidung revolutionärer Umstürze und weiterer Elendsvermehrung. Der Sozialarbeit spricht sie dabei eine hohe Mitverantwortung zu: „Für sie stand fest, dass menschliche Not nicht allein in den äußeren Lebensumständen, sondern ebenso in der menschlichen Natur begründet sei. Soziale Arbeit sollte auf die Natur des Menschen kulturell einwirken, wozu es der erzieherischen Kräfte des ganzen Volkes bedürfe. Damit legt sich das Schwergewicht der sozialen Arbeit auch für die Zeit nach einer möglichen sozialistischen Revolution eindeutig auf die sozialpädagogischen Aspekte der Fürsorge und nicht so sehr auf die wirtschaftlichen“ (SIMMEL 1981, S. 380). Soviel zu Alice Salomons Verständnis der Sozialen Arbeit als erziehliche Aufgabe gegenüber Individuen und Gesellschaft.

Auch für die theoretische Dimension hat Alice Salomon wertvolle Beiträge geleistet; wissenschaftstheoretisch ist sie an der Bildung der eigenen Wissenschaft der Sozialen Arbeit erfolgreich beteiligt gewesen. Sie selbst war in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn persönlich bestens unterstützt worden: Auf Anregung des bekannten Staatswissenschaftlers Alfred Weber wurde ihr die Möglichkeit geboten, ohne Abitur zu promovieren. Trotzdem traute sie der deutschen Universität die Entwicklung einer Sozialarbeitswissenschaft nicht zu. Konstatierend bemerkt sie: „Der Amerikaner glaubt mehr als der Europäer, dass jede Arbeit eine erlernbare Technik hat, dass die Praxis durch die Wissenschaft befruchtet wird und dass man für jedes Gebiet des Handelns eine Wissenschaft entwickeln soll“ (SALOMON zit. n. NEUFFER 1990, S. 35). Sie bewundert diesen amerikanischen Wissenschaftspragmatismus und möchte ihn für die neue deutsche Sozialarbeitswissenschaft verbindlich machen: Eine metatheoretische Setzung von entscheidender Bedeutung.

Maßgeblich beteiligte sie sich an der Gründung der „Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“. Hier werden kräftige Impulse einer sozialarbeiterisch sozialpädagogischen Forschung gesetzt. Dabei steht die Familie mit ihren Risiken und Brüchigkeiten, aber auch mit ihrer Menschen und Gesellschaft aushaltenden Solidarität im Mittelpunkt der Fragestellungen. Als Hilfswissenschaften der neuen Disziplin Soziale Arbeit nimmt Salomon das Ensemble der anderen Human- bzw. Sozialwissenschaften in Anspruch: „Der soziale Arbeiter muss deshalb seine eigenen Methoden erarbeiten. Er kann sie nicht von anderen Wissenschaften übernehmen. Aber er kann doch von der Methodik der anderen lernen. Er kann von den Juristen lernen, verschiedene Arten von Beweismaterial zu unterscheiden (unmittelbar feststellbare Tatsachen, Aussagen und Indizienbeweise). Von den Historikern kann er die Wichtigkeit der strengen Prüfung der Quellen und ihrer Vertrauenswürdigkeit übernehmen. Von Medizinern und Psychologen hat er am meisten zu lernen, da er in vielen Fällen die Mitwirkung des Arztes braucht und in anderen die Untersuchungsmethoden des Psychologen anwenden muss“ (SALOMON zit. n. NEUFFER 1990, S. 30f.).

Wenn diese methodische Inanspruchnahme auch mehr für die Praxis formuliert ist, so lässt sie sich doch auf das Wissenschaftsmethodische übertragen. Insgesamt gab Alice Salomon den hermeneutischen Methoden in Forschungsdesigns, die heute an Handlungsforschung erinnern, den Vorrang. Forschungsmethoden nach naturwissenschaftlichem Modell lehnte sie in den Humanwissenschaften ab. Sie war davon überzeugt, dass sich Kulturerscheinungen nicht mit denselben Methoden erfassen lassen wie Naturerscheinungen, denn im Bereich des Psychischen bleibe jede Theorie zuletzt Deutung, die nur für eine bestimmte Bewusstseinslage gültig sein könne.

Praktikerinnen, die zur Weiterbildung kamen, und Forscherinnen, die eng mit der Praxis verbunden waren, beteiligten sich in der „Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“ an dem Prozess der Entwicklung von Fragestellungen für die Forschung. Bevölkerungs- und Einkommensstatistiken bilden die quantitative Basis. Um eine der Problemstellung angemessenere Methode zu haben, wurde die Monographie entwickelt, die eben jenen von Alice Salomon befürworteten Deutungsprozess ermöglicht. Bis 1933 sind 13 Forschungsberichte veröffentlicht worden, die sich mit dem Bestand und den Erschütterungen des „Familienlebens in der Gegenwart“ beschäftigen. „Die erste Veröffentlichung enthielt 183 Familienmonographien, in weiteren Arbeiten wurde auf besondere Problemgruppen eingegangen, wie Kinder, Jugendliche, alleinerziehende oder erwerbstätige Mütter“ (SIMMEL 1981, S. 390). In enger Verwandtschaft mit den Wissenschaftsmethoden stehen die von Alice Salomon vorgesehenen und teilweise entwickelten Praxismethoden, auf die wir bereits hingewiesen haben.

Das ganze sozialarbeiterische und sozialarbeitswissenschaftliche Leben Alice Salomons ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Interkulturalität; damit bringt sie Erhebliches ein im Sinne der vergleichenden Dimension:

 Über die Frauen wollte sie die Kultur unterschiedlicher Klassen verbinden.

 Aus profunder Kenntnis US-amerikanischer Sozialarbeit suchte sie, das für gut Befundene in die deutsche Sozialpolitik und -arbeit zu implementieren.

Alice Salomon war Deutsche. Sie war zugleich Jüdin. 1933 wurde ihr durch die nationalsozialistische Gesetzgebung die deutsche Nationalität aberkannt. 1937 musste sie Deutschland verlassen. Sie fand Asyl in den USA. Heute trägt die Alice Salomon Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin ihren Namen.

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