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1.3.5 Karl Mager (1810–1858) (mit Carsten Müller)
ОглавлениеLange Zeit galt Diesterweg als derjenige, der den Begriff Sozialpädagogik aus der Taufe gehoben haben soll. Aber spätestens seit 1980 steht fest, dass der Rheinische Bürgerschulpädagoge Karl W. E. Mager der Vater des Begriffes ist. In einem meisterhaften philologischen und hermeneutischen Traktat hat Heinrich Kronen (1980) dies belegt. Er verweist dabei auf die Mai-Ausgabe der von Mager herausgegebenen Fachzeitschrift „Pädagogische Revue“ aus dem Jahr 1844. Hier verwendet Mager erstmals den Terminus „Social-Pädagogik“ in einer Glosse zum auf Herbart verweisenden Thema „Schule und Leben“ (vgl. MGW VIII, S. 144-184).
Magers Leistung ist im Rahmen unserer Einteilung vor allem der theoretischen Dimension zuzuordnen. Sie ist grundsätzlich ein wichtiger Beitrag für die Systematik der Pädagogik, innerhalb derer Mager der Sozialpädagogik erstmalig einen besonderen Stellenwert einräumt. Über die theoretische Dimension hinaus liefert Mager auch Grundlagen für eine sozialkritische Ausrichtung.
Zunächst geht Mager davon aus, dass es eine allgemeine und davon unterschieden eine relative Pädagogik gibt. Unter allgemeiner Pädagogik lassen sich all jene Inhalte der Pädagogik fassen, die zu allen Zeiten und an allen Orten Gültigkeit haben sollen. Hier geht es also um das Prinzipielle der Pädagogik, z. B. um den anthropologischen Tatbestand der Erziehungsbedürftigkeit und Erziehbarkeit des Menschen. Ergänzend hierzu wird in der relativen Pädagogik gefasst, wie Erziehung unter gegebenen Umständen, zu einer bestimmten Zeit und gemäß vorhandenen Orten ist und sein soll.
Gewissermaßen konkretisiert die relative Pädagogik die allgemeinen Bestände der Pädagogik. Sie orientiert sich dabei an vorhandenen Menschen, Kulturen, Gesellschaften, Staaten und Situationen. Mithin wird auch deutlich, dass aus relativer Sicht Erziehung von Zeit zu Zeit sowie von Ort zu Ort variieren kann.
Mit dieser Unterscheidung hat Mager eine Systematik bei der Hand, innerhalb derer die Sozialpädagogik ihren Ort findet: Sozialpädagogik soll Pädagogik in, für und durch das Soziale sein. Die Textstelle, an der Mager den Terminus 1844 einführte, gibt Auskunft, wie dies genauer aufzufassen ist: „Es ist gewiss, dass die neuere Pädagogik seit Locke, Rousseau, den Philanthropinisten, Pestalozzi, Herbart, Benecke u. a. den Fehler hat, nur Individualpädagogik zu sein, und darum habe ich mehrmals darauf hingewiesen, dass jetzt die Wissenschaft weiter gefasst, dass durch die Staats- oder Collektivpädagogik vervollständigt, auch der Gesichtspunkt des Platon und Aristoteles wieder genommen werden muss – freilich so, dass man sich in dieser Social-Pädagogik über die Ideen der Alten erhebt ...“ (MGW VIII, S. 171). Deutlich wird, dass im Sinne Magers sowohl die Individualpädagogik, d.h. die Erziehung des Einzelnen nach dessen Besonderheiten, als auch die Staats- bzw. Kollektivpädagogik, d. h. die Anpassung des Menschen an äußerliche normative Setzungen und Gewaltverhältnisse, je für sich allein genommen „falsche Pädagogiken“ sind (KRONEN 1980, S. 56). Individual- und Kollektivpädagogik „sind nur Thesis und Antithesis. Mager benennt sogleich die Synthesis: die >>Social-Pädagogik<<“ (ebd.). In der Sozialpädagogik sollen sich im Sinne eines auf den Philosophen Hegel zurückgehenden dialektisch-generischen Denkens Individual- und Staatspädagogik auf höherer Ebene miteinander vermitteln.
Mit dieser Systematik öffnet sich zugleich der politische Horizont der Sozialpädagogik. Mager denkt als politischer Pädagoge im Vormärz (vgl. KRONEN 1989), d. h. in der Epoche vor dem Ausbruch der bürgerlichen Freiheitsrevolution in Deutschland im März 1848, fortschrittlich. Als wahrer Liberaler will er mittels Pädagogik die Individualität des Menschen mit einem gelingenden Zusammenleben aller Menschen vermittelt wissen. Idealerweise findet dies Ausdruck in einer möglichst demokratischen Republik, in der alle Menschen als Bürgerinnen und Bürger in und aus Freiheit mitbestimmend am Zusammenleben teilhaben. Von daher ist einsichtig, warum Mager ein glühender Anhänger des Prinzips der Selbstverwaltung der Bürgerschaft ist. Wie kein zweiter Pädagoge seiner Zeit wehrt er sich folglich auch gegen eine Schule in Staatshand (vgl. KRONEN 1981). Für ihn gehört die Schule „... dem Volke!“ (ebd., S. 6). Denn: In Schule und weiteren erzieherischen Räumen kann Selbstverwaltung und bestenfalls sogar Selbstregierung eingeübt werden.
In diesem Sinne hat Mager neben seiner Systematik auch einen Grundstein für den sozialkritischen Auftrag der Sozialpädagogik gelegt, wie wir ihn in unserer Systematik mit der sozialkritischen Dimension herausheben. Dies gilt umso mehr, als die von Mager postulierten republikanischen Bedingungen der Sozialpädagogik zu seiner Zeit, besonders nach dem Scheitern der 1848-Revolution, nicht auszumachen sind. Sie sind uns deshalb bis heute aufgegeben.
Mit Mager hat Sozialpädagogik den Einseitigkeiten von Individual- und Kollektiv- bzw. Staatspädagogik entgegenzuwirken. Sie hat den Auftrag, individuelle Rechte gegenüber überzogenen Kollektivansprüchen zu stärken. Sie hat umgekehrt die Aufgabe, die Sozialität, z. B. als Solidarität, gegenüber ausuferndem Individualismus einzufordern. Mehr noch: Mit der Idee einer Vermittlung von Individualität und Sozialität durch Pädagogik hat Sozialpädagogik den Auftrag zu einer Erziehung aller Menschen – und besonders der Benachteiligten – zur mitbestimmenden Teilhabe. Auf den Punkt gebracht, lässt sich sagen: Sozialpädagogik „meint die Erziehung aller Menschen zu Bürgerinnen und Bürgern, die aus Freiheit aktiv und engagiert an ihrem dann demokratischen Gemeinwesen teilnehmen“ (MÜLLER 2005, S. 20).
Nur noch verdünnt ist dieser Anspruch heute wirksam. Zwar nehmen auch auf Mager folgende KlassikerInnen und heutige VertreterInnen das Recht der Sozialen Arbeit in Anspruch, die Gesellschaft kritisch zu beeinflussen. Dabei geht es aber fast immer ausschließlich um die soziale Besserstellung sozial Benachteiligter. Stattdessen muss sich Soziale Arbeit, orientiert am demokratischen Potenzial der frühen Sozialpädagogik (vgl. MÜLLER 2006a), als Anwalt der gesamten Gesellschaft verstehen. So kann sie einen Diskurs moderieren, bei dem es darum geht, die Gesellschaft als Ganze vom gegenwärtigen in einen besseren Zustand zu befördern, etwa unter der Fragestellung: „Wie können, sollen und wollen wir im 21. Jahrhundert demokratisch zusammenleben?“