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1.3.4 Johann Hinrich Wichern (1808–1881)
ОглавлениеAls „Genie der Barmherzigkeit“ wird J.H. Wichern bezeichnet (BEYREUTHER nach HEGEL 1968, S. 43). Er leistete Beiträge zur theologischen Fortentwicklung des Pietismus, zur sozialpädagogischen Rettung verwahrloster Kinder und Jugendlicher, zu einer sozialpädagogisch innervierten Gefängnisreform, zur Staatskritik des Zeitalters der Säkularisation, zur Begründung und Organisation der „Inneren Mission“, die im Wohlfahrtsverband des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche Deutschlands bis heute fortbesteht. Wicherns Beiträge sind sowohl theoretischer Art im Sinne ganzheitlicher Entwürfe und Zusammenhänge, als auch gesellschaftspraktischer Art durch die Initiierung von Wohlfahrts- und Erziehungseinrichtungen mit sozialpädagogischer Ausrichtung. Wir wollen nachfolgend die Skizze seines theoretischen Beitrags zur Sozialpädagogik an der Gründung und Begründung des „Rauhen Hauses“ und der nach seinem Modell errichteten Rettungshäuser orientieren.
Wir reklamieren erhebliche Anteile von Wicherns Lebenswerk als sozialpädagogisch, obwohl er selbst „Sozialpädagogik“ als Begriff nicht verwendet,– der Begriff ja auch, wie wir sehen, erst zeitgleich mit Wicherns Lebenswerk von Mager und Diesterweg gesetzt und expliziert wird. Zu unserer „Vereinnahmung“ Wicherns als Sozialpädagogen sehen wir uns trotzdem berechtigt, eben weil Wicherns umfangreiches Schrifttum Grundzüge der von Mager systematisierten Sozialpädagogik aufweist:
Wichern kümmert sich theoretisch wie praktisch um eine „wirkliche“ Erziehung, in der die Ansprüche des Individuums und der Gemeinschaft wohlabgewogen zu ihrem Recht kommen.
Wicherns Staats- und Gesellschaftskritik prangert an, dass menschennotwendige Bedingungen für Aufwachsen und Erziehen von Kindern vorenthalten werden. Diese Umstände gehen einher mit der Zerrüttung von Familien und Einzelnen und verursachen schließlich – so Wichern – insgesamt die Zerrüttung des gesellschaftlichen Ganzen.
Folgen wir in einigen Kernbereichen Wicherns theoretischen Grundlinien.
Sein Gedankengebäude ist theologisch und insofern aus der Sicht der Sozialpädagogik metatheoretisch fundiert: Wichern geht davon aus, dass in der Geschichte der „Menschengemeinschaft“ die Sünde als überindividuelles Prinzip, als „Urmacht“, wirksam ist. „Die Urmacht der Sünde wird konkret nicht nur im Zerfall der individuellen Sittlichkeit, sondern auch in den antisozialen Tendenzen des verwahrlosten Kindes wirksam. Den Mangel an Bewahrung, den Entzug der elterlichen Liebe, die zu einer Verwahrlosung des Kindes führen, deutet Wichern als Wirkung der Macht der Sünde. Nicht die Kinder können verantwortlich gemacht werden für die „Einzelsünden“, sondern ihre Erzieher. Sie sind der Macht der Sünde unterworfen.
In der Christusoffenbarung hat Gott zum Gegenschlag gegen diese Macht ausgeholt. Seitdem stehen sich Reich Gottes und Reich der Sünde in dramatischer Auseinandersetzung gegenüber. In dieses Geschichtsdrama zwischen Glauben und Unglauben (...) ist der Mensch hineingenommen; seine Rettung ist möglich. Durch die vorbehaltlose Vergebung Gottes kann der Mensch den Anfang einer Geschichte mit Gott beginnen“ (HEGEL 1968, S. 44). Wir werden sehen, wie diese theologische Vorannahme in Theorie und Praxis Wicherns hineinwirkt.
Vorweg aber noch eine andere axiomatische Grundanschauung Wicherns,– diesmal anthropologischer Art, obwohl wiederum theologisch unterlegt: Wichern geht davon aus, dass die Familie der natürliche Ort der Menschenwerdung ist, auch und vor allem im sittlichen Sinne, „dass das Eigentümliche der Familie, soweit dieselbe überhaupt nachgebildet werden kann, gerade darin besteht, dass in ihr, als der von Gott geordneten, ursprünglichen Menschengemeinschaft, zugleich das individuelle und individuellste Leben zu seinem vollen Rechte und jedes einzelne Glied der Familie, wenn die Familie ist, was sie nach Gottes Willen sein soll, zu dem Genuss einer persönlichsten, liebenden, fürsorgenden Pflege des inneren und äußeren Lebens gelangen kann und gelangen muss“ (ebd., S. 45f.).
Die beiden Grundannahmen führen zu tief greifenden Konsequenzen in Wicherns sozialpädagogischem Konzept: Das pädagogische Verhältnis zum in Obhut genommenen Kinde wird im Erstbezug begründet in einem Akt der Vergebung; mit ihr soll eine neue Identität ermöglicht werden, manchmal sogar dadurch symbolisiert, dass Wichern den Kindern neue Vornamen gab als Zeichen für den Neuanfang. Da aber die Sünde nur zum Teil als individuelle Schuld angesehen und vergeben werden kann, gehört zu ihrem Nachlass unmittelbar hinzu, dem Kind und Jugendlichen die familialen Bedingungen der Sittlichkeit und des Genusses einer persönlichen, liebenden, fürsorgenden Pflege des inneren und äußeren Lebens zu verschaffen. Das Konzept des Rettungshauses ist das Familienprinzip:
Wichern richtet für damalige Verhältnisse ungewöhnlich kleine Gruppen von 12-14 Kindern verschiedener Altersstufen ein, die Wohn-, Tisch- und Spielgemeinschaften sein sollen.
Mauern, Zäune, Schlösser, Riegel, Spionage sind verboten. Haus und Umfeld der Kinder müssen bereits äußerlich Zeugnis geben von dem allseitigen familiären Vertrauen.
An die Stelle von Zucht und Strafe setzt Wichern Liebe und Geduld.
In der innerfamiliären Atmosphäre ist die gemeinsame gegenseitige, füreinander bestimmte Arbeit ein wichtiges Ordnungsprinzip.
„Die Leitung der Gruppe war in die Hand eines ‚Bruders’ gelegt, der nicht Vorgesetzter, sondern Glied, ältestes Glied unter jüngeren sein sollte (...). Der Gedanke der Partnerschaft innerhalb der Erziehungsgemeinde wird erkannt und realisiert: An die Stelle der formalen Autorität des Erziehers als Vorgesetzter über den ‚Zögling’, soll die innere Autorität des Erziehers als Bezugsperson treten“ (ebd., S. 47).
Natürliche Familien haben ein Repertoire quasi natürlicher Umgangsformen von Mütterlichkeit, Väterlichkeit, Kindlichkeit und Geschwisterlichkeit. Wichern sah, dass die künstliche Familie nicht naturhaft auf die anthropologischen, gewissermaßen mit dem Menschsein gegebenen Anlagen und Modelle des Umgangs der natürlichen Familie zurückgreifen kann. Aus diesem Grunde schuf er 1839 ein Ausbildungshaus für seine „Familienbrüder“, in denen sie sich das notwendige berufliche Können systematisch, abgestützt durch die christliche Gesinnungsgemeinschaft der Mitbrüder, aneignen sollten. Wichern legt hier einen Grundstein für die Professionalisierung der Sozialpädagogik. Im Gegensatz zu Fröbel (1.3.2) und später zu Gmeiner (1. 3. 30) überlässt er allerdings die Erziehungsaufgabe in erster Linie den Brüdern, d. h. Männern und nicht Frauen und Müttern.
Wir sehen, wie Wichern im Prinzip familialer Erziehung die Rechte des Individuums auf „den Genuss einer persönlichen, liebenden, fürsorgenden Pflege“ und seinen Einbezug in die Sittlichkeit der Gemeinschaft als ein und dieselbe Notwendigkeit betrachtet und damit – im Sinne Magers – wirkliche Sozialpädagogik realisiert. Dieser Blick auf die elementaren menschlichen Gemeinschaften macht Wichern zugleich zu ihrem Anwalt gegenüber Staat, Kirche und Gesellschaft.
Die massierte Zuwanderung in den Städten als Industriezentren, die Wohnungsnot, die Entfremdung von der mechanisierten Arbeit und ihren Produkten, die Karl Marx als Zeitgenosse Wicherns brillant analysiert,– die räumliche, familiäre und weltanschauliche Heimatlosigkeit, die Verarmung des Proletariats, all diese gesellschaftlichen Verwerfungen führen zu Bedingungen von massiertem Jugendelend und Verwahrlosung. Der Zusammenhang von Verelendung und sittlichem Verfall macht im Sinne Wicherns die Mitverantwortung der Gesellschaft deutlich. Rettung für Gott ist nur möglich, wenn die gefährdeten Individuen in eine sittliche Sozialität sichernd aufgenommen werden, wenn sie „resozialisiert“ werden, „während das Sturmjahr 1848 von allzu vielen Kirchenmännern mit verständnisloser Empörung bekrittelt wurde, indessen nur einige wenige ahnen mochten, es müsse ‚etwas geschehen’, um die offenbar gewordenen Nöte zu heilen, die aufgebrochenen Gegensätze zwischen den Schichten unseres Volkes zu überbrücken, und die Kirche könnte möglicherweise dabei eine ganz besondere Aufgabe haben – erkannte Wichern klar das Gebot der Stunde. Seine ‚Fliegenden Blätter’ enthalten Rufe an das soziale Gewissen der Zeit, Rufe zu einem christlichen Sozialismus, Rufe zugleich zur Einigung des gesamten deutschen Protestantismus in der Tat der Liebe“ (BARTSCH 1984, S. 171).
Wichern war wohl kurz davor, eine prosoziale Gesellschaftsidee so einheitlich durchschlagend zu formulieren und durchzusetzen, wie es für das 19. Jahrhundert und bis heute nötig war und ist. Leider jedoch blieb der Begriff des „christlichen Sozialismus“, wie Theodor HEUSS konstatiert (nach HEGEL 1968, S. 50), etwas Gestaltloses. Eine letztendliche Beziehung des sozialpädagogischen Konzeptes auf die Makroebene des Staates, der Wirtschaft, der Kirchen blieb aus.
Hier teilt der Erwecker Wichern die Tragik mit dem Wissenschaftssystematiker Karl Mager, dessen Systematik von Pädagogik – und innerhalb ihres Rahmens von Sozialpädagogik – bis heute unverändert richtig und dennoch nicht voll zum Zuge gekommen ist. Auf die Ursachen der Latenz des Magerschen Konzeptes werden wir gleich eingehen. Für Wicherns Ansatz lassen sich folgende Schwachpunkte ausmachen:
Der für Wicherns Soziale Arbeit meta-theoretische, sprich theologisch-konfessionelle Hintergrund weckt zwar als innere Mission die Gewissen zahlreicher Christen, speziell Protestanten auf. Er weitet sich jedoch nicht zu einer allgemeinen Staats- und Gesellschaftskritik aus. Die Strukturen der monarchistischen Aristokratie und ihre martialischen Auswüchse werden nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Selbst die absurden Kriege in der Lebenszeit Wicherns,– 1864 der deutsch-dänische und 1870 der französisch-deutsche werden affirmativ in ein christlich-monarchistisch-nationales Weltbild eingepasst. Und obwohl Wichern die Felddiakonie nahezu zeitgleich wie Henry Dunont das Rote Kreuz begründet, sieht er Gott „durch den kriegerischen Weg der Volksgeschichte die Fußstapfen des Lebensfürsten offenbaren, der die Macht und die Herrlichkeit hat, am letzten Ende alles Recht und alle Gerechtigkeit ans Licht zu bringen“ (WICHERN nach BIRNSTEIN 2007, S. 108). Auch ist für ihn der Krieg nicht eine „Mordanstalt, wofür ihn manche in falscher Sentimentalität oder in mangelhafter Erkenntnis über Recht und Bedeutung der Obrigkeit im Leben des Volkes halten. Der Krieg verwandelt sich dann vielmehr in eine große, öffentliche Gerichtsstätte, wo in der Schlacht oder in einer Kette von Schlachten das Leben zweier oder mehrerer Völker miteinander ringt, und zwar zur Verteidigung, Gewinnung oder Bewahrung jener idealsten Lebensgüter“ (ebd.).
Ebenso nachteilig wie die christlich-nationale Vermengung des Weltbildes Wicherns macht sich für seine Wirksamkeit bemerkbar, dass er den expandierenden industriellen Kapitalismus seiner Zeit nicht in seinen Grundfesten attackiert, sondern nur in seinen Auswüchsen bekämpft. Stattdessen setzt er sich vehement gegen den aufstrebenden Kommunismus ein, obwohl dieser seine Entstehung denselben gesellschaftlichen Übeln von Arbeitslosigkeit, Armut und Verwahrlosung verdankt, gegen die sich auch Wicherns innere Mission richtet.
Ein weiteres Minus des Wichernschen Weltbildes ist seine feindselige Absetzung gegen das Judentum.
So gelang also Wicherns innerer Mission der große Brückenschlag in eine säkulare Bürgerschaftsbewegung, wie wir Heutigen sie uns wünschen, nicht. Dafür erreichte jedoch die praktische Dimension seines Werkes die Makroebene der Gesellschaft mit unwahrscheinlichen Erfolgen:
die Rettungshäuser seines Modells weiteten sich europaweit, selbst in katholischen Ländern aus,
seine Berufsausbildung für Familienbrüder wurde zur Vorlage von sozialpädagogischen Ausbildungs- und Qualifizierungsmodellen, wenn auch teilweise unter anderen Bezeichnungen,
die „Innere Mission“ wurde zum Spitzenverband evangelischer Wohlfahrtspflege und zum Modell der weiteren konfessionell und weltanschaulich orientierten Wohlfahrtsverbände,
in der preußischen, später auch reichs- und bundesdeutschen Gesetzgebung zum Jugendstraf- und Fürsorgerecht wirken sich bis heute die Vorstellungen und Ziele Wicherns, wenn auch immer noch nicht zufriedenstellend, aus: „In dem preußischen „Gesetz betreffend der Unterbringung verwahrloster Kinder“ vom 15. 3. 1878 (bekannt unter dem Namen „Zwangserziehungsgesetz“) steht an Stelle des Bestrafungsprinzipes das Erziehungsprinzip. Dieser erste Schritt wurde im Fürsorgegesetz vom Jahre 1901 im Geiste Wicherns weitergeführt. Erst jetzt löste sich der Begriff Fürsorge von dem der Strafe und des Zwanges ab. Der Gedanke der vorbeugenden Hilfe kommt dann 1922 im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz zum Ausdruck“ (HEGEL 1968, S. 50).