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1. 3. 18 Anton Heinen (1869–1934)
ОглавлениеAnton Heinen: katholischer Priester, Großstadtkaplan im Ruhrgebiet (in Mühlheim-Ruhr), Religionslehrer (in Eupen), Jugend-, vor allem Mädchenseelsorger (in Mönchengladbach), Publizist (des katholischen „Volksvereins“ – ebenfalls in Mönchengladbach), schließlich Dorfpfarrer der kleinen Gemeinde Rickelrath im heutigen Wegberg.
Was hat dieser Mann mit Sozialpädagogik zu tun? In der Liste der zuvor beschriebenen Sozialpädagogen passt er in je besonderer Weise zu Mager, Diesterweg und Kolping: In Magers Linie steht er mit seinem theoretischen und praktischen Wirken der Volkserziehung. Ihm geht es darum, das ganze Volk mit den Mitteln der Erziehung und Bildung für eine gemüthafte und selbstbewusste soziale Verantwortungsübernahme zu gewinnen.
In Diesterwegs Fußstapfen geht er vielleicht indirekt über die Fußspur seines Vaters, der 40 Jahre lang Dorfschullehrer war in einer einklassigen, d. h. acht Schuljahre umfassenden Schule. Immer wieder geht es ihm in seiner praktischen Lehrerbildung und Publizistik um Lehrer, die nicht Vertreter für Buch- und Fachwissen sind. Stattdessen sollen sie mit mütterlicher und väterlicher Sympathie gemeinsam mit den Eltern ihrer Schüler für diese eine Lebenswelt des sozialen Miteinanders der Arbeit und des Feierns gestalten, aus der Menschen mit individueller Bildung und solidarischer Verantwortlichkeit hervorgehen.
Mit Kolping schließlich verbindet ihn, dass er einerseits in direkter Gefolgschaft während der Mühlheimer Zeit Bildungsarbeit im Gesellenverein leistet, darüber hinaus aber, dass er lebenslang um die emanzipatorische Bildung des benachteiligten Arbeiterstandes – und zwar speziell um Fabrikarbeiterinnen – bemüht blieb.
Heinen selbst hat sich nicht als Sozialpädagoge bezeichnet, wohl jedoch als Volkserzieher und „Bildner“: „Kommt man als Bildner, so ist die Frage: vor welchen Lebensaufgaben und Schwierigkeiten stehen sie? Wie kannst du ihnen helfen, dass sie sich auf ihre Aufgaben besinnen; dass sie mit ihnen zurechtkommen? Der Wissenschaftler kommt als Fremder und bleibt fremd; der Demagoge kommt, um die Masse für sich zu gewinnen; der Pädagoge kommt, um Menschen für ihre Lebensaufgaben innerhalb des Ganzen zu gewinnen, in dem sie gliedhaft stehen“ (HEINEN o. J., S. 28f.). Immer wieder hat Heinen Aufgabe und Funktion des Volkserziehers und Bildners beschrieben und expliziert. Damit hat er eine Fundgrube wertvoller definitorischer Ansätze angelegt, die noch eingehender Erforschung und Diskussion bedürfen.
Im engeren Sinne theoretischer Ansätze verdanken wir Heinen zwei Beitragsrichtungen sozialpädagogischer Relevanz:
1 In einer Reihe von Aufsätzen und Vorträgen befasst er sich mit der Grundlegung der Jugendpflege. Den Schwerpunkt der Jugendpflege sieht er darin, bei den Jugendlichen „rechte Berufsfreude“ zu wecken. „Der Weg zum Staatsbürger führt über den Beruf. Ein Volk, das sich aus berufstüchtigen und berufsfreudigen Menschen zusammensetzt, aus Menschen, die in ihrem Beruf die Basis erkennen, von der aus sie ihre Aufgaben und Pflichten gegen andere Berufsstände, gegen Gemeinwesen und Vaterland zu erfüllen haben, ist ein innerlich gesundes Volk. Deshalb wird auch die Jugendpflege es als ihre Zentralaufgabe anzusehen haben, den jungen Menschen behilflich zu sein, dass Berufstüchtigkeit und Berufsfreude in ihnen wächst und reift, dass sie von ihrem Berufe aus ihre gegenwärtigen und zukünftigen Lebensaufgaben anzuschauen und zu lösen lernen und so durch ihren Beruf als mitschaffende, mitgestaltende Glieder mit dem Ganzen verwachsen. Vor allen Dingen dürfte es nun darauf ankommen, dass die Jugend das richtige innere, seelische Verhältnis zu ihrem Lebensberuf findet. Daran fehlt es heute in erschreckender Weise. Viele Jugendliche sehen nicht mehr den Beruf selbst, sondern bloß jene Äußerlichkeiten, die mit dem Beruf verknüpft sind: das Geld, das sie verdienen, die Genüsse, zu denen die Berufsarbeit, eine ‚verwünschte Notwendigkeit’ an und für sich, ihnen die Tür öffnen soll. Damit tritt der Beruf in ihrer Vorstellung, in ihrem seelischen Empfinden als etwas Dunkles, Freudloses in den Hintergrund, dem jungen Menschen schwebt gefühlsmäßig die Idee vor, er sei auf Erden, nicht, um seine Pflicht zu erfüllen, sondern um Geld zu verdienen und ‚etwas vom Leben zu haben’“ (HEINEN 1917, S. 12f.). Offensichtlich ist er hier besonders von dem großen Schulpädagogen Kerschensteiner (1854–1932) beeinflusst. Es gibt jedoch im Vergleich zu Kerschensteiner einen unterschiedlichen bzw. besser: komplementären Akzent; Heinen will die Berufswerdung und Berufsidentität nicht innerhalb der Schule oder am Arbeitsplatz selbst, sondern im freien Bereich der Jugendpflege – im heutigen Sinne: der Sozialpädagogik – subsidiär unterstützen.
2 Eine andere Grundlinie sozialpädagogisch relevanter Theorie zeichnet Heinen durch sein Verständnis der Sprache. Er sieht eine kardinale Kluft zwischen Wissenschafts- und Volkssprache. Für die Arbeit der Volkserziehung und -bildung und logischerweise für den Bereich der Jugendpflege fordert er die Volkssprache als das genuine Umgangsmedium. In seinen Lebenserinnerungen bringt er diese Gegensätzlichkeit der Sprachen einmal mehr auf den Punkt: „... wie unterscheidet sich die Volkssprache von der Gelehrtensprache? Die Volkssprache kennt vor allem nicht die begriffliche Abstraktion. Sie ist wirklichkeitsnahe; nicht wissenschaftlich, sondern – ich möchte sagen – gläubig. Darum ist sie lebendig. Sie spricht in Bildern und Gleichnissen. Es ist die Sprache des Jubels, der Verwunderung, des Zornes, der Entrüstung. Sie ist mit den irrationalen Kräften des Gemüts geladen. ... Es handelt sich also bei der Volkssprache nicht etwa um „Popularisierung“ der wissenschaftlichen Sprache. Diese Popularsierung führt zu dem verwaschenen Zeitungsdeutsch, an dem die Sprache heute krankt. Volkstum und seine Sprache ist ursprünglich, darum urwüchsig, derb ...“ (HEINEN o. J., S. 27f.).
Diesen theoretischen Gegensatz der Sprachen begründet Heinen in einer metatheoretischen Antinomie, die er für Wissenschaft auf der einen, Bildung auf der anderen, – Zweck auf jener, Sinn auf dieser Seite des Lebens setzt.
Nach seiner Erkenntnis dient Wissenschaft der fachlichen Verzweckung, Bildung aber der je und je wachsenden, staunenden gemüt- und sinnhaften Teilhabe am lebendigen Ganzen. Gewissermaßen nimmt er mit dieser Polarisierung Erich Fromms (1976) Gegensatz zweier kultureller Lebensstile vorweg, von dem der eine auf (verzwecktem) Haben und der andere auf (sinnhaftem) Sein beruht.
Mit Bildung will Heinen den benachteiligten Volksgruppen der ländlichen Region und der Arbeiterschaft den Sinn ihres Lebens und ihrer Berufe, die er achtet wie die der Ärzte und Priester, wertbewusst machen. Wie schon gesagt, dient Heinen in diesem Kontext besonders den jungen Fabrikarbeiterinnen bei Selbstfindung und Würde.
Der leitende Gesichtspunkt, Anton Heinen hier aufzuführen, ist wie bei allen anderen hier genannten sein theoretischer Beitrag zur Sozialpädagogik. Darüber hinaus sollen, ebenfalls wie bei den meisten anderen, einige Aspekte seines anthropologisch-ethischen Denkens sowie seines praktischen Wirkens berücksichtigt werden. Anthropologisch geht sein Ansatz unter besonderer Berufung auf Pestalozzi von den Grundkräften der Familie, speziell der Mutterkraft, aus. Ähnlich wie Pestalozzi, Fröbel und später Gmeiner ist auch Heinen ein mütterlicher Mensch. „Der Bildner leidet, einer echten Mutter vergleichbar, an aller Hilflosigkeit, Not und Ungeformtheit der Menschen seiner Umgebung. Sein Wesen ist verstehende Güte ... Das Herz des echten Bildners gehört vor allem der Jugend. In ihr ist ja noch die plastische Kraft, aus der lebendige Zukunft sich formen will und die auf den Anruf des Bildners wartet, dass in ihr der Wille zur Erneuerung aus dem lebendigen Geist erwache“ (Rheinische Lehrerzeitung 1933, S. 665, zit. n. HEINEN o. J., S. 52).
Immer wieder plädiert Heinen für das Einbeziehen der Familie – auch der an Krippe, Kindergarten, Heime, Hort, Lehensfamilie und Kosthaus abgebenden Familie – in das bildnerische (sozialpädagogische) Bemühen.
Moderne Anthropologie muss ihm, insbesondere hinsichtlich der Mutterthematik, Recht geben. Ja, es ließe sich zu den Annahmen Heinens als Hypothese eine Verifikation zusammenstellen von PORTMANN (1951) über SPITZ (1973) zu RENG-GLI (1974), DRÖSCHER (1991), aber auch HOFSTÄTTER (1973) und FROMM (1976): Ethologische und humanethologische Befunde stützen die Annahmen der Bedeutsamkeit der Mutter – und zusätzlich Väter –/ Familienbeziehung für gelingende Individualbiografien und ganze Gesellschaften.
Ein Letztes sei noch zur Praxis Heinens gesagt: Heinen ist kein „Schreibtischtäter“. Seine Theorie ist praktisch. Von Kindheit an durfte er kleine Lerngruppen in der einklassigen Dorfschule seines Vaters unterstützen und unterrichten. Im Gesellenverein versuchte er, Handwerker und Arbeiter mit Erkenntnissen der Wissenschaft vertraut zu machen. Im Windberger Kreis (Mönchengladbach) sammelte er – fast berufslebenslang – vor allem Fabrikarbeiterinnen, aber auch andere Menschen aller Generationen um sich zu einer partnerschaftlichen Kommunikation über das sinnhafte Leben. In der Publizistik – heute würden wir sagen: Öffentlichkeitsarbeit – der (katholischen) Volksbildung ist er einer der ganz großen des ebenfalls ganz großen „Volksvereins“. Beim Versuch eines Wiederaufbaus Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg spielt er 1920 bei der Reichsschulkonferenz und bis zum Dritten Reich eine inspirierende Rolle für die Idee der Volksschule. Nachdem seine Volksbildungsarbeit „unter den schweren Nöten der Nachkriegszeit mit Währungszerfall und Wirtschaftskrise empfindlich gestört und gelähmt wurde“ (HEINEN o. J., S. 36), ja Heinen selbst 1932/ 33 sein damaliges Domizil in Paderborn verlassen musste, wurde er Dorfpfarrer in Rickelrath/ Wegberg (nahe Mönchengladbach). Die Landleute verstanden ihn in der gemeinsamen Volkssprache wie die Fabrikarbeiterinnen vordem. Ich denke, Anton Heinen ist eine vornehme sozialpädagogische Gestalt.