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1. 3. 14 Jane Addams (1860–1935) (Carsten Müller)

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Die amerikanische Friedensnobelpreisträgerin Jane Addams engagierte sich in vielfältigen Bereichen: Sie war Frauenrechtlerin, Humanistin, Bürgeraktivistin, Pazifistin, Reform- und Sozialpolitikerin und anderes mehr (vgl. EBERHART 1995; JENTZSCH 1995).

Im Kontext Sozialer Arbeit interessiert besonders: Ab 1889 lässt sich Addams zusammen mit weiteren Frauen, die zumeist aus bürgerlichem Milieu stammen, inmitten von Immigranten-Gettos im Herzen des verruchten „boomtowns“ Chicago, dem damals zweitgrößten Handels- und Verkehrsknotenpunkt der USA, nieder. Zuvor lernte sie auf einer Europareise „Toynbee Hall“ (1.3.9) in London kennen. Ähnliches will sie in Amerika umsetzen: Daraus entsteht das Nachbarschaftshaus und Kommunikationszentrum „Hull House“. Dies ist die Geburtsstunde der amerikanischen Settlement-Bewegung, welche bis heute als eine zentrale Wurzel der Gemeinwesenarbeit angesehen wird (vgl.MÜLLER 1982, S. 60f.; WENDT 1995, S. 150f.; KUNSTREICH 1997, S. 82f.).

Unter Settlements versteht man „Ansiedlung von gebildeten, sozial interessierten und zu sozialer Arbeit bereiten Männern (und Frauen; d. Verf.) in den ärmsten Distrikten einer Stadt, von der aus eine planmäßige soziale Wirksamkeit ausgehen sollte“ (ERDBERG 1926, S. 450). Mit diesem Schritt, welcher die durch Segregation sozialräumlich manifestierten Klassengrenzen überschreitet, ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel in der Sozialen Arbeit verbunden: „Was tut man eigentlich in einem Settlement? Ist es eine Volkshochschule, eine Unterhaltungsanstalt, ein Klub, ein Erziehungsinstitut?“, fragt Adele Schreiber 1904 in einer deutschen Flugschrift und gibt im selben Atemzug die Antwort: „Alles zugleich und noch viel, viel mehr. Seine Tätigkeit kennt keine Grenzen, sein Programm kann je nach den Bedürfnissen, den vorhandenen Mitteln und Arbeitskräften erweitert werden. Nichts, was Nutzen bringt und bloßem Almosengeben ferne steht, ist ausgeschlossen“ (SCHREIBER 1904, S. 4). Das Besondere ist also, was bereits „Toynbee Hall“ beabsichtigte „mit den Armen zu leben, um sie zu lehren und um von ihnen zu lernen“ (MÜLLER 1982, S. 23). Nicht Mildtätigkeit gepaart mit Sozialdisziplinierung, wie zuvor oft in der Armenfürsorge, sollen methodisch werden, sondern vielmehr: aktive Armenhilfe durch „wechselseitige Durchdringung“ (ebd., S. 39). Darin eingeschlossen ist, dass auch die besser gestellten BürgerInnen lernen, ihren sozialen Pflichten nachzukommen, etwa sich an kommunalpolitischen Angelegenheiten, an Versammlungen, Vereinen und Bürgerinitiativen zu beteiligen. Als Gegenstück zur Einzelfallarbeit ist die Settlementarbeit also eher soziokulturelle Arbeit (vgl. WENDT 1995, S. 150f.). Es geht um Einmischung, Kooperation, Beteiligung und politisches Handeln. Dabei nehmen die Settlements eine öffentliche und zivilgesellschaftliche Mittlerstellung zwischen benachteiligter Nachbarschaft und offiziellen Institutionen, z. B. der Stadtverwaltung, ein. In diesem Sinn handelt es sich um ein „pro-aktives Modell“ Sozialer Arbeit (vgl. KUNSTREICH 1997, S. 103f.). Die Vorsilbe pro betont das „Kooperative, das Miteinander, die gemeinsame Tätigkeit“ (ebd., S. 103). Nicht für die Benachteiligten, sondern mit ihnen soll mittels der „kooperativen Strategien Aktivierung, Solidarisierung und Selbstregulierung“ (ebd.) gehandelt werden. Mary Ann Johnson drückt diese professionelle Haltung so aus: „Ich glaube nicht, dass sie (Addams; d. Verf.) ein Vorbild oder einen Mentor hatte. Jane Addams schuf ihr eigenes Modell. Ihr Konzept hieß: Durch Erfahrung lernen. Dieses Lernen beruhte auf Gegenseitigkeit. Das heißt, es stammt aus den Erfahrungen mit den Nöten der Nachbarschaft. Sie hat sich nie als Wohltätigkeitsfrau oder Lehrerin oder ähnliches verstanden. Sie hat sich als Nachbarin definiert. Sie sei im Hull House eingezogen, hat Jane Addams einmal gesagt, weil sie den Leuten dort eine Nachbarin sein und bei der Entdeckung und Lösung ihrer Probleme mit ihnen zusammenarbeiten wollte“ (JOHNSON in JENTZSCH 1995, S. 5).

Auch wenn Addams hiernach keinen Berater gehabt haben soll, so ist doch festzustellen, dass die Settlements demokratischen Ideen verpflichtet sind. Addams gibt als philosophische Grundlage von „Hull House“ neben zivilisatorischen und christlich-humanitären Motiven an, „Demokratie im sozialen Sinne zu interpretieren“ (nach EBERHART 1995, S. 85). In der autobiografischen Darstellung „Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago“ schreibt sie: „Das „Allerbeste unserer ganzen Zivilisation“, das, was zur freieren und klareren Erkenntnis des Lebens führt, muss in das tägliche Leben der Allgemeinheit übergehen; frei müssen alle Schichten der Gesellschaft darüber verfügen, soll unsere amerikanische Demokratie Bestand haben. Die Erziehungsarbeit eines Settlements, seine Tätigkeit im Dienst der Nächstenliebe, seine Beteiligung an der Hebung der sozialen Lage und der Verbesserung der städtischen Verhältnisse sind nur verschiedene Äußerungen des Streben, diese Demokratie mit sozialer Gesinnung zu durchdringen“ (ADDAMS 1913, S. 297).

Hier zeigen sich Übereinstimungen mit den demokratischen Erziehungsideen Deweys (1. 3. 13). Dewey wie auch Georg Herbert Mead, der Begründer des symbolischen Interaktionismus, engagierten sich für die Settlementbewegung und wirkten an ihr mit (vgl. EBERHART 1995, S. 107f.; JOAS 1989, S. 28).

Auch in Deutschland entstanden „Settlements“, Volksheime und Nachbarschaftshäuser. Hervorzuheben ist etwa die „Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (SAG)“, welche 1911 im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain von dem Theologen, Sozialethiker sowie Friedensaktivisten Friedrich Siegmund-Schultze gegründet wird (vgl. LINDNER 1997). Zwar versteht sich die SAG anders als ihre angloamerikanischen Vorbilder, aber es bestehen auch Übereinstimmungen, wie sie aus dem Zitat eines Beteiligten zu entnehmen sind: „Was die >>Settlements<< anbelangt, so ist allerdings die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost in Deutschland die erste Unternehmung, die auf den historischen Namen eines >>Settlement<< berechtigten Anspruch machen kann, insofern hier Gebildete, und zwar in erster Linie Studenten, sich zusammengefunden haben, um in einem Arbeiter- bzw. Armenviertel die Verhältnisse aus eigener Anschauung kennen zu lernen, selbst nach Kräften zu helfen und die Wege und Möglichkeiten sozialer Reformen ins Auge zu fassen. Auch in der Art, wie wir die Arbeit anfassen, besteht eine enge Verwandtschaft. Trotzdem scheint es nicht richtig zu sein, den Typus der englischen >>Settlements<< nach Deutschland einfach zu übertragen. Unsere Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost – so heißt sie, nicht Settlement – ist aus deutschen Nöten heraus entstanden und ist durchaus eine deutsche Antwort darauf“ (SIEGMUND-SCHULTZE 1914, S. 4). Erstaunlich ist dabei, dass die deutsche Spielart der Settlementbewegung besonders mit ihren Gemeinschaftsideen an die Sozialpädagogik Natorps (1. 3. 11) anknüpft (vgl. JEGELKA 1992, S. 193f.). So gesehen lässt sich bei allen Unterschieden mittels Settlementbewegung als historischer Wurzel der Gemeinwesenarbeit eine Brücke zwischen sozialpädagogischen und demokratischen Gedanken schlagen; eine Brücke, die auch zur heutigen Diskussion um das Verhältnis von Bürger- bzw. Zivilgesellschaft und Sozialer Arbeit führen kann. Interessant wäre gewiss auch ein Abgleich der Konzeptionen der heutigen Sozialen Arbeit im Themenbereich der Sozialraumorientierung mit dem Ansatz der Settlementbewegung.

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