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1. 3. 16 Mary Richmond (1861–1928)

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Biografisches

Es ist für die damalige Zeit bemerkenswert, dass und wie die US-amerikanische Sozialarbeit und in ihrem Gefolge auch die europäische als professionelle, d. h. wissenschaftliche und systematische Disziplin von einer Frau auf die Beine gestellt wurde. Diese Frau ist Mary Richmond.

Geboren in Illinois, aufgewachsen in Baltimore, früh verwaist, von Großmutter und Tante aufgezogen, für deren letztere lange Krankheit und Siechtum sie die Pflege übernimmt, beruflich ohne spezielle Ausbildung als Büroangestellte in einem Verlagshaus tätig,– wird Mary Richmond noch in jungen Jahren von der Charity Organization Society (COS) für administrative und inhaltliche Aufgaben der Wohltätigkeit eingesetzt. Es geht vor allem darum, Frauen auf ehrenamtliche Hausbesuche (friendly visiting) vorzubereiten und einzuteilen. Die Hausbesucherinnen hatten dabei zunächst vornehmlich den Auftrag, die Bedürftigkeit armer Familien festzustellen und ihre Würdigkeit für den Almosenempfang zu bescheinigen. (Das System erinnert an die heutige deutsche Hauskontrollpraxis im Rahmen der Hartz IV Gesetzgebung.)

Methodologisches und Praxismethoden

Mary Richmond erkennt bald die Unzulänglichkeit des Verfahrens. Zu sehr sind die Hausbesucherinnen auf ihre subjektive Intuition und ihre individuellen, zum Teil nicht reflektierten Wertmaßstäbe und Vorurteile verwiesen. Außerdem ist der Zugang zu Spenden und öffentlichen Mitteln willkürlich und dem Zufall überlassen.

Orientiert an der Ausbildungspraxis am Einzelfall, wie sie für Mediziner üblich war, erstellt Mary Richmond ein Curriculum der Sozialarbeit, bei dem es zunächst um die diagnostische Wahrnehmung sozialer Problemlagen geht. Hierzu konstruiert sie aus Hunderten erhobener Vorschläge von Praktikern und Institutionen ein methodisches Instrument zur Erfassung individueller Notlagen und Bedürfnisse.

Ihr zweites Augenmerk richtet sich auf die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten der „visitors“, um eine vertrauensvolle Atmosphäre zwischen den Gesprächspartnern herzustellen. Auf diese Weise können die Diagnosen mit dem Selbstbild der Befragten in Abstimmung gebracht werden.

Schließlich geht es Mary Richmond um eine professionelle Beratungskompetenz der SozialarbeiterInnen. Dabei steht stets der Einzelfall des zu Beratenden bzw. der zu beratenden Familie im Mittelpunkt des Interesses. Ihr Ziel ist es, „die Persönlichkeit durch bewusst bewirkte, einzelfall-spezifische Anpassungsleistungen zwischen Menschen und sozialer Umwelt zu entwickeln“ (RICHMOND 1922, S. 98f., zit. n. C. W. MÜLLER 2006, S. 33).

Mary Richmond gilt zutreffender Weise als Begründerin der professionellen Einzelfallhilfe. Die vor allem von ihr angeregten umfangreichen Sammlungen von Einzelanamnesen und Beratungsprotokollen der COS führten jedoch schließlich auch zu Erkenntnissen über Zusammenhänge sozialer und gesellschaftlicher Art, die über die alleinige Einzelansicht der Fälle hinaus gehen. Deshalb ist C. W. MÜLLER zuzustimmen, dass es „wie eine List historischer Vernunft“ (C. W. MÜLLER 2006, S. 34) wirkt, dass die fleißige, umfangreiche und sorgfältige Datensammlung Mary Richmonds im Zuge der Einzelfallhilfe zugleich auch als Erkundungswelle für die komplementären methodischen Ansätze der Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit genutzt werden konnte.

Anthropologisches – Ethisches – Sozialkritisches

In ihren Grundannahmen über Einzelschicksal und Gesellschaft nimmt Mary Richmonds Weltanschauung im Vergleich mit anderen hier skizzierten Vordenkern von Sozialer Arbeit eine durchgängig innerweltliche Position ein: Die mittelalterliche Almosenvorstellung der von Gott gewollten Armut erscheint ihr obsolet.

 Die gesellschaftlichen Problemlagen von Einzelmenschen und Familien entstehen im Gefüge des sozialen Miteinanders und seiner Mängel, hier müssen sie auch behoben werden.

 Professionalität, Menschenfreundlichkeit und Engagement der Sozialarbeiter sind nötig, „eine schlimme Sache in eine gute zu verwandeln“ (RICH-MOND 1930, zit. n. C. W. MÜLLER 2006, S. 25).

 Im Zusammenwirken von SozialarbeiterInnen und Unterstützungsbedürftigen gelingt das edukative, d. h. aus dem Problemkreis hinausführende Ziel „die Persönlichkeit durch bewusst bewirkte, einzelfall-spezifische Anpassungsleistungen zwischen Menschen und sozialer Umwelt zu entwickeln“ (RICHMOND 1922, S. 98f., zit. n. C. W. MÜLLER 2006, S. 33).

Handbuch Sozialpädagogik

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