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1. 3. 15 Johann Tews (1860–1937) (mit Carsten Müller)
ОглавлениеTews bleibt als einer der Klassiker der Sozialpädagogik oftmals unerwähnt. Das mag daran liegen, dass er zu einer Zeit, in der Willmann und Natorp mit der Grundsatzdiskussion befasst waren, Sozialpädagogik auf die konkreten Aufgaben der Volkserziehung, der Fürsorge, der Frauenfrage und der Einkommensverteilung verweist. Gewissermaßen kann er mehr als andere als Vorläufer auch der heutigen Sozialen Arbeit verstanden werden. Aus heutiger Sicht mutet diese Ausrichtung in Art einer Handlungswissenschaft außerordentlich modern an. Wissenschaftsmethodisch lässt sich Tews somit als Vorläufer des „action research“ ausmachen. Aus der Perspektive der stark sozialphilosophisch orientierten frühen Sozialpädagogik mag Tews' Beitrag trivial erscheinen und deshalb übergangen worden sein. Es ist sicher sinnvoll, das Ungleichgewicht der Würdigung zu vermindern oder zu beheben. Dies gilt vor allem deshalb, weil Tews’ Programm der „Sozialpädagogischen Reformen“ (1900) in weiten Teilen auch heute noch sozialkritische Aktualität besitzt.
Auf den Streit über das Verhältnis von Sozial- und Individualpädagogik und ihre definitorische Abgrenzung antwortet Tews folgendermaßen:
„Die Gesamtheit der Bemühungen, Wissenschaft und Kunst im Volke zu verbreiten, nicht nur durch die Schulen, sondern darüber hinaus bei Kindern und Erwachsenen, welche zu lernen und zu genießen willig sind, durch mannigfache andere Mittel, kann man mit dem Ausdruck Sozialpädagogik bezeichnen. Dies und nichts anderes möchte ich unter diesem Ausdruck hier verstanden wissen. Ich will damit keinen Gegensatz etwa zur Individualpädagogik hervorheben, wie es seitens anderer Pädagogen geschehen ist. Man kann ja einen solchen Gegensatz konstruieren, indem man gewisse Seiten der pädagogischen Arbeit stärker betont.
Wenn man das Individuum als den Mittelpunkt und als das Ziel der pädagogischen Bemühungen auffasst, wenn man die Aufgabe der Erziehung nur darin erblickt, starke, gute, harmonisch entwickelte Individuen zu bilden, so kann diese Auffassung der Erziehung als Individualpädagogik bezeichnet werden. Wenn man dagegen die Aufgabe der Erziehung darin erblickt, das ererbte Kulturgut, das ja niemals von einem Individuum, sondern von der ganzen Generation getragen wird, an die neue Generation zu übermitteln und diese Generation mit all dem auszurüsten, was erforderlich ist, um die Aufgaben, die im sozialen Organismus zu erfüllen sind, auf sich zu nehmen, so ist eine solche Auffassung der Pädagogik sehr wohl als Sozialpädagogik zu bezeichnen.
Die Gegensätze entstehen jedoch nur dadurch, dass man das eine Mal auf die eine und das andere Mal auf eine andere Seite der Erziehung das größte Gewicht legt. Derartige Schlaglichter und Schlagwörterbezeichnungen sind gar zu sehr geeignet, die Geister zu verwirren und für einseitige Auffassungen gefangen zu nehmen. Aus diesem Grunde kann ich dieser Auffassung von Sozialpädagogik auch das Wort nicht reden“ (TEWS 1900, S. 4f.).
Indem Tews auf die wiedergegebene Weise sich der unerledigten Grundsatzdiskussionen entzieht, wird er frei, einer praktischen Sozialpädagogik ihre Ziele zu setzen und darüber hinaus aus ihrer sozialkritischen Perspektive massive Reformen sozialpolitischer Art zu fordern.
Für’s erste schließt er – wie vor ihm Mager – die Erwachsenenbildung in den sozialpädagogischen Aufgabenkatalog ein: „Alle die Veranstaltungen, welche notwendig sind, um die Erwachsenen mit den Ergebnissen der Wissenschaft und den Erzeugnissen der Kunst in Verbindung zu bringen und zu halten, schließe ich in das Gebiet der sozialpädagogischen Tätigkeit ein“ (ebd., S. 6). Damit ist für die praktische Dimension der Sozialpädagogik hinsichtlich ihres Adressatenkreises eine Entscheidung gefallen, die bis heute wirksam geblieben ist. Wir sehen sie repräsentiert in der sozialpädagogischen Anteil- und Parteinahme für das Schicksal und die Sozialisation von Eltern, Ausländern, Alten, Aidskranken und anderen nicht jugendlichen Adressaten unserer Profession.
Im gleichen Sinne soll nach Tews vor allem die Frauenfrage durch sozialpädagogische Reformen beantwortet werden. „Denn auf die Erziehung der heranwachsenden weiblichen Jugend wird die Sozialpädagogik der Zukunft ein ganz besonderes Gewicht legen müssen. Das Weib muss in unserem sozialen Organismus für einen doppelten Beruf unterrichtet und erzogen werden, für das Erwerbsleben und für ihre Aufgaben als Hausfrau und Mutter. Der letztere Beruf ist der allgemeinere und wertvollere“ (ebd., S. 18).
Aus den weiteren Ausführungen geht hervor, dass Tews vor allem die Mutter der Arbeiterfamilie durch mehr Bildung und durch eine gerechtere Einkommensverteilung aus der existentiellen Überlastung befreien will. Die dringend geforderten Hilfen versteht er jedoch im Widerspruch zur zeitgenössischen Sozialdemokratie nur als unvollkommene Ersatzleistungen für die im Prinzip höher zu bewertende Erziehung durch die Familie: „Man wird vielmehr sich nach Reformen umsehen müssen, die die gegenwärtige Familie nicht nur in ihrem Bestande und in ihrer Wirksamkeit erhalten, sondern sie weiter ausbauen und ihre pädagogischen Leistungen vervollkommnen“ (ebd., S. 15). Tews’ Gedanken nehmen hier den modernen Charakter des Subsidiaritätsprinzips, das heißt eine sozialpolitische, sozialkritische Wertposition ein, indem er betont, dass sozialpädagogische Einrichtungen aushilfs-, ersatzweise und nach Möglichkeit wieder ablösbar einspringen sollen. Er formuliert unmissverständlich:
„Wir haben Krippen, Kinderbewahranstalten, Kindergärten, Kinderhorte usw. Diese Anstalten können nun und nimmer die Familie ersetzen; aber sie werden auch bei verbesserter Familienerziehung nicht völlig überflüssig werden ... Sobald sie aber mehr sein sollen als Not- und Aushilfsinstitute, ist man auf dem Wege, die Hauserziehung zur Kasernenzucht umzugestalten“ (ebd., S. 15). Unausgesprochen und doch nicht unüberhörbar melden sich hier anthropologische, aber auch ethische und sozialkritische Wertsetzungen an, für die auch heutige Vertreter der Sozialpädagogik einstehen.
Wir wollen festhalten: Tews nimmt mit seinen Äußerungen Gedankengut vorweg, das in den Zeiten der sozialpädagogischen Bewegung Bäumers (1. 3. 20) und Nohls (1. 3. 22) zum Tragen kommt und bis heute Gültigkeit behält. Zum ersten Mal wird der institutionelle Bestand an außerschulischen Erziehungshilfen ausdrücklich Bestandteil des Verständnisses der Sozialpädagogik. Tews’ Ausweitung des sozialpädagogischen Ansatzes auf die Erwachsenen-, speziell Frauenbildung und Sozialpolitik sowie die Artikulation sozialpädagogischer Subsidiarität sind bis heute aktuell geblieben. Im Sinne unserer Vermessungslinien der Sozialpädagogik verdanken die praktische Dimension in Bezug auf Handlungsbezogenheit und Adressaten, die anthropologische und sozialkritische Dimension hinsichtlich der Werte und Zielsetzungen Tews eine Reihe von Schwerpunktsetzungen.