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1. 3. 26 Carl A. Mennicke (1887–1959)

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1937, selbst ein halbes Jahrhundert alt, von dem das erste Viertel dem ausgehenden 19. Jh. angehört, legt Carl Mennicke ein geschlossenes Werk zur Sozialpädagogik vor; es trägt den Titel „Sociale Paedagogie“ ergänzt durch den Untertitel: „Grondslagen, Vormen en Middelen der Gemeenschapsopvoeding“ (opvoeding = Erziehung). Der Titel ist holländisch, das Buch ist in Holländisch geschrieben, der Autor, unter dem Druck des Nazi-Regimes nach Holland emigriert, hat es im niederländischen Sprach- und Freiraum verfasst. Dort hat er gearbeitet, bis er 1941 infolge des deutschen Überfalls auf die Niederlande trotz Emigration in die Hände der deutschen Besatzung fiel und ins KZ Sachsenhausen deportiert wurde. 1943 wurde er entlassen und bis 1945 in einer Berliner Metallfabrik dienstverpflichtet. Seine späte Wiedereinsetzung in die Ämter an der Universität Frankfurt, die er bei der Emigration hatte aufgeben müssen, hat leider nicht mehr dazu geführt, dass die „Sociale Paedagogie“ zu seinen Lebzeiten ins Deutsche übertragen wurde. Dies ist nun durch Hildegard FEIDEL-MERZ (2002) geschehen. Mennicke wird dadurch neuerdings – noch zögernd – auch in Deutschland rezipiert.

Was die theoretische Dimension der Arbeit betrifft, so lässt sich lapidar feststellen, dass Mennicke mit dem holländischen Wort „Sociale Paedagogie“ wohl das gleiche meint wie mit dem deutschen Wort Sozialpädagogik. Als Begriff verwendet er es einerseits für den praktischen Part der Sozialerziehung, Gemeinschaftserziehung bzw. Erziehung zur Gemeinschaft. Diese Praxis der Sozialpädagogik bezeichnet er schon im Untertitel holländisch als „gemeenschapsopvoeding“, wörtlich übersetzt: Gemeinschaftserziehung. „Sociale Paedagogie“ steht aber auch für den wissenschaftlichen Teil der sozialwissenschaftlichen Forschung, die die Grundlagen, weltanschaulichen Rechtfertigungen und Methoden der praktischen Sozialpädagogik zu erarbeiten hat.

Die Systematik von Mennickes „Sociale Paedagogie“ umfasst drei große Bereiche:

 Historische, soziologische/ sozialpsychologische und weltanschauliche Grundlagen,

 Anwendungsbereiche und Formen

 Methoden und Angebote, die er vergleicht nach ihren weltanschaulichen Herkünften (christlich, aufklärerisch, nationalhistorisch: „gebaseerd op natuur en historie“) und synthetisch. Dabei soll das Attribut synthetisch einer weltanschaulich vermittelnden, transzendental orientierten, toleranten und liberalen Weltsicht der Moderne zukommen.

Der theoretische Grundgedanke, der sich durch Mennickes Argumentation zieht, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Sozialpädagogik hat die Aufgabe, vor allem die Jugend, aber auch unterschiedliche Randgruppen zielgerichtet in das moderne Gesellschaftssystem einzugliedern. Die Notwendigkeit ist hierzu seiner Meinung nach entstanden, erstens durch die zunehmende Verwissenschaftlichung und den damit gegebenen Autoritätsverlust von Weltanschauungen,– zweitens aufgrund wachsender Technisierung und Industrialisierung und dem damit einhergehenden Verlust wirtschaftlicher Selbstreproduktion vormaliger Sozialgebilde wie Sippen, Gemeinden, vor allem aber beruflicher Stände. Mit der Auflösung zugleich weltanschaulicher und wirtschaftlicher Sozialeinheiten verfiel auch ihre selbstverständliche und unreflektierte, funktional sozialisierende Wirksamkeit. Insofern ist die intendierte Sozialpädagogik eine Antwort auf eine Bedarfslage der Moderne.

Diese Sicht macht Sozialpädagogik zuständig für die gesamte Gesellschaft und nicht nur für die Gruppen Benachteiligter, von Außenseitern und Minderheiten, kurz derer, die die moderne Politik als Präkariat bezeichnet. Trotzdem entwickelt Mennicke das sozialpädagogische Selbstverständnis am historischen Prozess des Umgangs mit Randexistenzen. In der historischen Gesellschaft des Ständewesens, so argumentiert er, war es das Schicksal aller Devianten, sich unter dem Zwang der Traditionen, Hierarchien und der sie untermauernden Weltanschauung zu unterwerfen, oder – als vogelfrei ausgestoßen – schlimmstenfalls verfolgt zu verderben. Der tatsächliche Rückhalt von Lebensfristung und religiöser Übereinstimmung, den die Angepassten als Lohn für ihre Einfügung in Anspruch nehmen konnten, hatte für das Gros der Menschen die unreflektierte Beweiskraft für die Richtigkeit des Gelebten und Geglaubten sowie für die Rechtmäßigkeit der Ausstoßung Andersdenkender und -handelnder. Nun, da das einheitliche Wirtschaftsgefüge und Weltbild zerbrochen ist, stehen die modernen Gesellschaften vor dem Problem, es potenziell nur noch mit Außenseitern und Devianten zu tun zu haben. Gewissermaßen erkennt Mennicke hier bereits die gesellschaftlichen Probleme der Postmoderne, die Ulrich BECK (1986) mit den Bezeichnungen der Individualisierung und Pluralisierung auf den Begriff gebracht hat. Mennicke weist der Sozialpädagogik die Aufgabe zu, das einigende Band für eine plurale Gesellschaft herzustellen.

Damit erreicht seine Theorie den Charakter der Metatheorie: Einer ideologisch neutralen sozialpädagogischen Wissenschaft erteilt er eine Absage; ja, umgekehrtermaßen erwartet er von ihr die Synthese widerstreitender Weltanschauungen, als die er anführt:

 die christlichen Konfessionen von Katholizismus, Luthertum und Calvinismus,

 die aufklärerisch „rational idealistische“ Richtung, wie er sagt, und

 die natur- und geschichtliche Orientierung, als deren Negativ-Extrem er den Nationalsozialismus und Faschismus begreift.

Wie schon in diesen kurzen Ausführungen deutlich geworden sein dürfte, nimmt Mennicke immer wieder vergleichend Maß an historischen Zuständen der mittelalterlichen und neuzeitlichen Gesellschaften. Als deutscher Wissenschaftler im holländischen Asyl ist auch der Gesellschaftsvergleich dieser zeitgleichen, bis zum Überfall auf Holland weit auseinanderdriftenden Gesellschaftsformen ein stetiger und immanenter Anteil seiner Schriften. Aber weit darüber hinaus stellt er immer wieder Bezüge zu den skandinavischen Ländern, zu England, den USA, auch zu Russland her. Es würde zu weit führen, seinen Beitrag für die historisch vergleichende Dimension der Sozialpädagogik eingehend zu belegen. Stattdessen wollen wir den zuletzt als metatheoretisch verstandenen Gedanken der weltanschaulichen Beteiligung der Sozialpädagogik für die anthropologische und ethische Dimension noch einmal aufnehmen.

Mennickes anthropologische Kernannahme ist folgende: „Het denken heeft in de mens twee functies: een orienterende, die hem de eindige wereld leert kennen en beheersen en een metaphysische, die hem doet vragen naar zijn principiele positie in de wereld en dus naar zijn verhouding tot het geheel der wereld“ (MENNICKE 1937, S. 79). Übersetzt: „Das Denken hat im Menschen zwei Funktionen: eine orientierende, die ihn die endliche Welt kennen und beherrschen lehrt, und eine metaphysische, die ihn fragen lässt nach seiner prinzipiellen Position in der Welt und infolgedessen nach seinem Verhältnis zum Ganzen der Welt.“

Unabhängig von allen Besonderheiten an Weltanschauungen haben sie demzufolge übereinstimmend das Ziel, ihre Angehörigen ganzheitlich in ein (Welt-)Bild zu setzen und ihnen Aufgabe und Verantwortung für das Ganze zu vermitteln.

Auf dem Boden dieser anthropologischen Feststellung gewinnt Mennicke eine ethische Position für die Sozialpädagogik: Sie hat den Widerstreit der Weltanschauungen in der Synthese aufzuheben, dass sie den ihr Anvertrauten den metaphysischen Horizont öffnet und die Erkenntnis und Bereitschaft zu einer gemeinsamen Verantwortlichkeit für Gesellschaft und Welt weckt und vertieft. Konkret heißt dies, dass die Sozialpädagogik ihre Erziehungskunst an Menschen richtet, die sich als Ergebnis einer gelungenen Erziehung und Entwicklung als metaphysisch verantwortliche Subjekte von Gesellschaften verstehen, für deren Änderung und Verbesserung sie selbst mit zuständig sind.

Mit der Frage „Wie soll das geschehen?“ nähern wir uns der praktischen Dimension der Sozialpädagogik. Sie wird von Mennicke ausführlich behandelt, wenn er über die Formen im Sinne von Sozialstrukturen und Institutionen und über die Mittel der Sozialerziehung schreibt sowie beide Bereiche zunächst deskriptiv an den Weltanschauungen von Konfessionen und Bewegungen orientiert.

Angesichts der notwendigen Knappheit der Darstellung lässt sich nur noch auf eine bemerkenswerte Konsequenz hinweisen, die Mennicke aus der von ihm geforderten Synthese eines Gemeinschaftsideals ableitet: Im Gegensatz zu religiösen oder sich auf Natur und Historie berufende autoritäre Systeme verlangt er die Freiheit der Meinung und der Öffentlichkeit, auch wenn das Geäußerte fraglich, falsch oder gar gefährlich erscheint. Darin stimmt er mit der rational-idealistischen Bewegung überein. Er setzt sich jedoch von ihr ab, wenn er nachdrücklich betont, dass nicht nur kognitive Belehrung die Methode der Sozialpädagogik sein soll. Im Gegenteil fordert er den engagierten Einsatz auch gefühlsadressierter, suggestiver Erziehungsmethoden und emotions- und gemeinschaftsbindender Symbolik.

Leider ist dieser Anstoß Mennickes in der Sozialpädagogik bisher nicht aufgenommen worden. Es gibt z. B. keine einschlägig sozialpädagogische Literatur über die Wirklichkeit, Wirksamkeit und Rechtfertigung von Symbolen. Die Diktatoren dieser Welt, die „rechte“ politische Szene ebenso wie die Werbung der Wirtschaft aber auch der Sport können insofern ungeniert und pädagogisch unbeantwortet Menschenbeeinflussungsmittel nützen, ohne sich an erziehlichen oder ethischen Maßstäben und Methoden messen und verantworten zu müssen.

Ich schlage vor, die meines Erachtens originäre Position Mennickes neu zu überdenken und durch Forschung der sozialpädagogischen Praxis und Reflexion zugänglich zu machen.

Handbuch Sozialpädagogik

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