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1. 3. 25 Kurt Hahn (1886–1974)
ОглавлениеLebensdaten und Leitlinien
Kurt Hahn war der zweite von vier Söhnen einer großbürgerlichen, jüdischdeutschen Familie. Sein Vater Oskar und sein Großvater Albert handelten europaweit von Schottland bis Petersburg mit Eisen, speziell Röhren, die in Düsseldorf, Oberschlesien und Schottland produziert wurden. Hahns Mutter Charlotte, geb. Landau, stammte aus einer jüdisch polnisch tschechischen Familie mit zahlreichen Verbindungen zur intellektuellen und kulturellen Szene der Zeit. Von früh an hatte Kurt Hahn teil an diesen Kontakten und betätigte sich aktiv in Lese- und Theaterzirkeln. Der weitläufigen Anlage seines im britischen Stil erbauten Vaterhauses mit Rasenflächen, Waldungen, Spiel- und Sportanlagen am Berliner Wannsee verdankt Hahn Naturliebe und Sportlichkeit. Seine wesenstiefe Verbundenheit mit britischem Lebensstil dürfte sich am Modell seines Vaters entwickelt haben, obwohl Hahn eine eher distanzierte Einstellung zu ihm hatte. Weltanschaulich wie geografisch lässt sich die Lebensart der Familie Hahn als kosmopolitisch bezeichnen.
Zeitlebens war Kurt Hahn mit immer wiederkehrenden gravierenden Kopfschmerzen belastet. Ihretwegen konnte er in der Phase des Abiturs nicht an den Prüfungen teilnehmen. Erst mit Verspätung und ohne mündliche Prüfung erhielt er das Zertifikat. Von da ab studierte er in verschiedenen kurzzeitigen Intervallen einzelne Semester in Oxford, Heidelberg, Freiburg, Berlin und Göttingen. Dabei belegte er Vorlesungen in Philosophie, Philologie, antikem Recht, Politologie und Kunstgeschichte. Einen Universitätsabschluss machte er nicht.
Auf die Pädagogik im engeren Sinne stieß Hahn durch das Buch „Emlohstobba“8 von Hermann Lietz (1868–1919). Lietz entwirft darin sein reformpädagogisches Schulkonzept der Landschul- bzw. Landerziehungsheime. In ihnen sollen junge Menschen mit ihren Lehrern gemeinsam und verantwortlich ein landwirtschaftliches Gut betreiben, regelmäßig sportliche Trainings absolvieren und sich das theoretische Bildungsgut – denkend und handelnd zugleich – aneignen können. Den Hintergrund der Lietz’schen Ideen hinwiederum bildet das Schulprojekt von Cecil Reddie (1858–1932) in Abbotsholme, England. Lietz hatte es durch persönliche Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit C. Reddie kennen gelernt. Hahn beschließt, auf der Grundlage von Lietz’ Darstellung, ein jugend- und bildungsgerechtes Landerziehungsheim zu schaffen und der lebensfremden wie jugendfeindlichen Bildungsmisere entgegenzutreten.
Es muss als glücklicher Umstand in unglücklichen Zeiten angesehen werden, dass Hahn als persönlicher Berater Max von Badens (1867–1929), des letzten deutsch-kaiserlichen Reichskanzlers (1918), mit diesem die Kritik am deutschen Schulwesen teilte. Auf seinem Sitz, Schloss Salem am Bodensee, gab Max von Baden Hahn die Gelegenheit, die „Erziehungsprovinz“ seiner Vorstellung zu realisieren.
Weltanschaulich war Kurt Hahn Weltbürger mit deutschen und britischen, und nur mit geringen Anteilen jüdischen Wurzeln. Das zeigt seine Akzeptanz der Lietz’schen Ideen, trotz deren anti-jüdischen Tendenzen. Auch sein 1945 erfolgter Übertritt in die anglikanische Kirche macht seine Distanz zum Judentum deutlich.
Schließlich war Hahn trotz einiger Arrangements mit nationalsozialistischem Gedankengut ein heftiger und mutiger Gegner Hitlers und des Nationalsozialismus’: „Im August 1932 traten fünf SA-Leute einen kommunistischen Arbeiter bei Beuthen im Dorf Potempa (heute Potepa) vor den Augen seiner Mutter zu Tode; die Täter wurden zum Tode verurteilt. Hitler verfügte nach der Machtergreifung ihre Freilassung. In dem Telegramm von 1932 nach Beuthen an die Verurteilten hieß es: ‚Meine Kameraden! Angesichts dieses ungeheuerlichen Bluturteils fühle ich mich Euch in unbegrenzter Treue verbunden. Eure Freiheit ist von diesem Augenblick an eine Frage unserer Ehre’ (Völkischer Beobachter, 24. 08. 1932). … Kurt Hahn reagierte in einem Rundschreiben an alle Altschüler im Salemer Bund und an die Salemer Lehrer: ‚Durch das Telegramm von Hitler an die Kameraden von Beuthen am 23. August 1932 ist ein Kampf in Deutschland entbrannt, der über die Politik hinausführt. Es geht um Deutschland: seine christliche Gesittung, sein Ansehen und seine Soldatenehre. Salem kann nicht neutral bleiben. Ich fordere die Mitglieder des Salemer Bundes auf, die in einer SA oder SS tätig sind, entweder ihr Treueverhältnis zu Hitler oder zu Salem zu lösen.’ (Hahn: Benachrichtigung)“ (zit. n. FRIESE 2000, S. 115).
Infolge dieser Stellungnahme und weiterer heftiger Attacken Hahns gegen das Unrechtsregime wurde er am 11. März 1933 verhaftet. Nach baldiger Freilassung, die durch die weitreichenden diplomatischen Beziehungen seiner Freunde möglich war, wurde Hahn aus Baden-Württemberg, d. h. von Salem, verbannt und emigrierte bis zum Ende des Krieges nach Großbritannien (vgl. FRIESE 2000).
Die pädagogischen Gründungen
Die Lebenswirksamkeit Hahns verläuft auf zwei Gleisen: Politisch war er ein einflussreicher Diplomat; Vertragsbedingungen zwischen den sich bekriegenden Mächten Europas hat er beeinflussen können. Kriege konnte er nicht verhindern. Allerdings glaubte er mit der Leidenschaft des Rettens das von William James (1842–1910) gesuchte Äquivalent der Leidenschaft zum Kriege gefunden zu haben.
Pädagogisch war er eine große Gründergestalt. Weltweit schuf er auch heute aktuell wirksame schulische und sozialpädagogische Institutionen. Verkürzt geben wir hierzu die Zeittafel der Kurt-Hahn-Stiftung, Essen wieder:
1934: Gründung der British Salem Schools in Gordonstoun/ Schottland, später Eröffnung von Zweigschulen
1941: Gründung der ersten Kurzschule, der Outward Bound Sea School in Aberdovey/ Wales, heute gibt es weltweit ca. 30 offizielle Kurzschulen
1949: Mitinitiator von weiteren Internatsschulen, z. B. Anavryta/ Griechenland, Louisenlund/ Bundesrepublik Deutschland, später Battisborough/ Großbritannien, Athenian School/ USA. Gründung der American-British Foundation for European Education, Gründung der Deutschen Gesellschaft für Europäische Erziehung, um Schülerstipendien bereitzustellen, Tagesheim- und Kurzschulen ins Leben zu rufen.
1956: Gründung des Duke of Edinburgh Award, eines Abzeichens, um das sich jährlich 100.000 Jugendliche in fast 50 Ländern der Welt bewerben.
1958: Einrichtung der Trevelyan Scholarships, besondere Studienstipendien für Oxford und Cambridge.
1962: Gründung des ersten United World College, des Atlantic College in St. Donat’ Castle/ Wales, heute gibt es Oberstufenkollegs auch in Kanada, Singapur, USA und Italien.
1963: Mitbegründer der Medical Commission on Accident Prevention/ London, einer Institution, die sich im Sinne angewandter Wissenschaft der Unfallverhütung, Ersten Hilfe und Lebensrettung widmet (KURT-HAHN-STIFTUNG 2009, Profil).
Soweit der institutionelle Erfolg der Gründertätigkeit Kurt Hahns.
Sozialpädagogischen Charakter erhält sie speziell durch den Outward Bound, die sogenannten Kurzschulen. Mit ihrer Einrichtung wollte Hahn in „short-termsschools“ von vier Wochen Jugendlichen, später auch Erwachsenen, zu einer sozialmotivierten, selbst-zutrauenden Lebenseinstellung verhelfen. „‚Outward bound’ ist ein Begriff aus der englischen Seefahrt: ein Schiff kann – zu großer Fahrt ausgerüstet und bereit – auslaufen. Dieses Bild wurde von Kurt Hahn auf Anregung des englischen Reeders9 in die Pädagogik übertragen: der junge Mensch, der die Kindheit hinter sich gebracht hat und auf der Schwelle zum Erwachsenensein steht, soll auf eine aktive und verantwortungsbewusste Lebensführung vorbereitet werden – auf seine ‚Fahrt ins Leben’“ (ZIEGENSPECK 1993, S. 13). Orientiert am Konzept der Kurzschulen (vgl. SCHWARZ 1968) geht es im Folgenden um Hahns Wirksamkeit in der Ideengeschichte des Sozialpädagogischen, eine Wirksamkeit, die ungebrochen bis heute anhält.
Erlebnistherapie
Kurt Hahn geht davon aus, dass es einen zivilisatorischen Verfall prosozialer und bürgerschaftlicher Tugenden gibt: den Verfall
der körperlichen Fitness,
der Sorgfalt,
der Initiative und Zivilcourage und
der menschlichen Anteilnahme.
Durch gezielte Bereitstellung von Erfahrungs- und Bewährungssituationen mit erlebnishaftem Charakter setzt er den zivilisatorischen „Krankheiten“ ein Curriculum der „Erlebnistherapie“ entgegen. Seine Elemente sind:
sportliches Training,
Projekt,
Expedition und
Rettungsdienst.
Dem Verfall der körperlichen Fitness will Hahn durch ein intensives sportliches Training zu Leibe rücken. Dabei wird jeweils der einzelne in jener Disziplin besonders gefördert, für die er sich am wenigsten geeignet und begabt fühlt. Die durch das harte Training für das Subjekt unerwartet großen Fortschritte erbringen das gewünschte Erlebnis der eigenen Tüchtigkeit und das Zutrauen, auch andere sportive oder sonst wie körperliche, soziale und intellektuelle Hürden zu überspringen.
Dem Verfall der Sorgfalt soll ernsthafte Projektarbeit mit späterer Präsentation entgegenwirken. Die Teilnehmer erarbeiten einzeln oder in kleinen Gruppen meist naturnahe Arbeitsaufgaben wie den Bau einer Brücke über einen Bach, eine Rinden- oder Blütensammlung oder auch eine Fotoausstellung. Wie auch das Vorhaben lautet: Immer geht es darum, im Verbund von Zweckmäßigkeit, Ästhetik und Exaktheit ein jeweils bestes Ergebnis zu erzielen. Der natürliche Stolz auf das Resultat der eigenen Leistung und das soziale Feedback der Betrachter gesellen sich zu dem Erlebnis einer persönlichen Gestaltungskraft, die sich von Oberflächlichkeit und Ungenauigkeit absetzt.
Dem Verfall der Initiative und Zivilcourage will Hahn mit der Expedition abhelfen. Die Kursteilnehmer seiner „short-terms-schools“ werden nach intensiver intellektueller, körperlicher und sozialer Vorbereitung in Natur belassenem bis urwüchsigem Gelände ausgesetzt. Ausgerüstet mit Kompass und Messtischblättern sowie mit Kenntnissen in Erster Hilfe sollen sie als Selbstversorger und „Selbstbehausung“ inklusive Hüttenbau oder Höhlensuche innerhalb einiger Expeditionstage ein vorgegebenes Ziel erreichen. Das gemeinsame Erleben von Ungewissheit, Entscheidungsnotwendigkeiten, gegenseitigem Schutzgeben und -nehmen und des zwischenzeitlichen und schließlich endgültigen Erfolges des Weiterkommens und Ankommens sichert das Erlebnis des „Yes, we can!“, wie es heute mit Obama heißt. Damit wird zugleich der Mut geweckt, auch kommende Lebens- und Sozialsituationen mit Initiative, Mut und Zivilcourage anzugehen und zu bestehen.
Den Verfall der mitmenschlichen Anteilnahme sieht Kurt Hahn in der von ihm als „Spektatoris“ bezeichneten „Zivilisationskrankheit“ begründet, die in der oberflächlichen mentalen und motivationalen Verarbeitung medienbedingter Informationsfülle besteht. Er setzt ihr das Konzept der Nächstenhilfe durch den Rettungsdienst entgegen: In Aberdovey an der Atlantikküste von Wales, seiner ersten Outward Bound Gründung, übernimmt Kurt Hahn mit den und für die „short-terms“ Teilnehmer die bürgerschaftlich verbindliche Aufgabe des Seenotrettungsdienstes. Für Berchtesgaden in den deutschen Alpen tritt an dessen Stelle der Bergrettungsdienst. Die Kursteilnehmer werden verbindlich in den Rettungsfertigkeiten ausgebildet und versehen eigenverantwortlich die Notrufwache und bei Bedarf die Rettungsaufgaben.
Hahn war der Meinung, dass die intensive Beschäftigung mit potenziellen wie realen Notlagen für Menschen das Mitgefühl der Helfer auch für allgemeine soziale Probleme und zwischenmenschliche Hilfsbedürfnisse anbahnt. Ja, wie schon gesagt, hielt er die Leidenschaft des Rettens für das von William James gesuchte Äquivalent zur Kriegslust.
Heute hat der Outward Bound die Einsatzfelder der Nächstenhilfe über das Rettungswesen hinaus auf soziale Dienste allgemein, z. B. in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ausgeweitet.
Erlebnistherapie vs. Erlebnispädagogik
Kurt Hahn wird, obwohl er sich nie als Initiator oder Mentor der Erlebnispädagogik bezeichnet, – solche Vereinnahmungen aber auch nicht abgewehrt hat, häufig als Vater der Erlebnispädagogik bezeichnet.
Hahn sah das System Schule als menschen- und bildungsfeindlich an, vor allem aber als reform-resistent. So „ist die Frage berechtigt, warum die zentralen Inhalte der Hahnschen Erlebnistherapie für das staatliche Bildungssystem unmöglich erscheinen, nämlich die pflichtgemäße sportliche Betätigung – auch, wenn es eine Qual ist; die Hilfsbereitschaft gegenüber dem Nächsten – auch, wenn ‚es nervt’; mehrtätige Expeditionen – auch wenn unerträglich erscheinende Entbehrungen damit verbunden sind“ (FRIESE 2000, S. 314).
Hahn selbst gibt die Antwort: „Solange die Gegenwartskenntnis und die Bewährung in praktischen Arbeiten nicht ein wesentlicher Bestandteil auch der Philologenausbildung wird, werden die Herren Studienassessoren dem Lebenshunger der modernen Jugend niemals gerecht werden können“ (aus HASSELBORN 1964, zit. n. ZIEGENSPECK 1993, S. 10).
Nämlich: „Wer mit Kindern Hütten und Segelflugzeuge baut, wer mit ihnen auf Forschungsexpeditionen geht, wer mit ihnen wandert und gleichberechtigt mit ihnen in einer Schulmannschaft spielt und kämpft, der … muß gänzlich auf den geliebten Schutz autoritativer Amtswürde verzichten!“ (ebd., S. 10). Leider gilt deshalb Hahns Prognose, „dass der Selbsterhaltungstrieb der Lehrer zur Ablehnung eines Schulplanes führen müsse, der andere Menschen, als sie es waren, voraussetzte. Gerade durch dieses ‚unvermeidliche, aber verhängnisvolle Versagen der Staatsschule’ erwachse den Landerziehungsheimen ihre besondere Bedeutung und Verpflichtung“ (ebd.).
Diese Verpflichtung der Landerziehungsheime und auch noch der Kurzschulen, ist also immer nur eine kompensatorische und therapeutische zu einem allgemeinen Schulsystem, welches die zivilisatorischen Defizite und Verfallserscheinungen keineswegs abwehrt, sondern kräftig mitschafft. Erlebnistherapie ist insofern notgedrungen die Antwort, weil prophylaktische Pädagogik, sprich Erlebnispädagogik unmöglich scheint.
Trotz der vielen sich auf Hahns Prinzipien berufenden erlebnispädagogischen Initiativen innerhalb der Sozialpädagogik müssen wir eingestehen, dass ihr der therapeutische Charakter unvermindert anhaftet.
Fazit
Hahn ist kein großer Theoretiker. Trotzdem stellt er ein theoretisches Konzept von beeindruckender Praktikabilität dar:
Kinder und Jugendliche verlangt es nach tätiger Lebenswirklichkeit. In ihr sind sie motiviert zu lernen. Nicht unter dem Zwang eines lebensfremden Schulsystems können sie für eine prosoziale Tüchtigkeit gewonnen werden, sondern im gemeinsamen Erleben mit peers und am Modell ihrer professionellen Begleiter.
Dieses Konzept ist sozialpädagogisch. Es erinnert an die Konzepte von Pestalozzi, Makarenko, Korczak, Flanagan, Suchomlinski.
Sie alle verlangen nach einer sozialpädagogischen Jugenderziehung. Angesichts der Einschätzung, dass die Schule auf absehbare Zeit diesem Bedarf nicht entsprechen wird, bleibt der sozialpädagogischen Praxis innerhalb, vor allem aber außerhalb der Schule die Aufgabe einer erlebnistherapeutischen Kompensation.