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1 - Der Anfang

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Es war das Jahr 3021, der Krieg war seit fünf Jahren vorbei. Aber die Schrecken, die Angst, der Kampf ums nackte Überleben tobten nicht weniger schlimm als der Krieg selbst. Ich, Joyse, ein junges Mädchen von achtzehn Jahren, stand auf dem Wachturm. Meine rotbraunen Haare waren zu einem Zopf geflochten und leuchteten im Sonnenlicht. Meine rehbraunen Augen hielten Ausschau nach meinem Bruder Kilian. Er war mit seinen zwanzig Jahren fast einen Kopf größer als ich. Seine schwarzen Haare und die graublauen Augen hatte er von Papa geerbt. Kilian war mit Narvik, seinem treuen Freund, in die Stadt gegangen, oder das, was von ihr noch übrig war.

Sie lag zwei Tagesmärsche von hier entfernt. In den Überbleibseln der Stadt wollten sie nach brauchbaren Gegenständen suchen, wobei es immer gefährlich war. Es hatten sich Banden gebildet, die durch das verwüstete Land zogen und alles niedermachten. Auch vor Kindern und Frauen machten sie keinen Halt. Der Krieg hatte sechs Jahre gedauert, erinnerte ich mich zurück, es blieb kein Stein mehr auf dem anderen. Es wusste niemand so recht, was der Auslöser gewesen war. Am Ende wusste keiner mehr, wer gegen wen kämpfte. Alles wurde dem Erdboden gleichgemacht. Zum Schluss gab es keine Munition, keine Krankenhäuser, keinen Strom, keine Fabriken und Lebensmittel mehr. Aus dem Krieg wurde ein Kampf ums Überleben und wer nicht im Krieg umkam, verhungerte. Damals, vor Kriegsbeginn, dachte ich zurück, ich war sieben Jahre alt und mein Bruder neun, saßen mein Vater und Großvater tagelang über Landkarten. Dad und Opa sahen in ihren Uniformen großartig aus,wenn sie nach Hause kamen. Mein Bruder Kilian sagte dann immer: „Wenn ich groß bin, werde ich auch General, so wie Papa und Opa.“

Mutter und Großmutter packten Kisten mit Hausrat und Sachen, selbst wir als Kinder mussten mitmachen, und es herrschte eine düstere Stimmung. Meine Mutter kaufte robuste Lederschuhe in allen Größen. Ich dachte noch: „Diese hässlichen Schuhe will doch keiner anziehen.“

Und genau diese hatte ich jetzt an meinen Füßen und war froh darüber. Plastikteller und -tassen. Nie hatten wir damals davon gegessen, jetzt waren wir froh, es zu haben. Auf dem Transport und auch so ging es nicht zu Bruch. Zu meinem siebten Geburtstag hatte ich keine Hightech-Puppe bekommen, sondern eine aus Stoff. Ich war enttäuscht gewesen. Meine Großmutter nahm mich in den Arm und sagte zu mir: „Sieh mal Joyse, mit der Puppe werden noch deine Kinder spielen können, sie kann nicht kaputtgehen.“

Und auch damit sollte sie recht behalten. In dieser Zeit kamen auch oft Dads Freunde, Brian und Victor, zu Besuch. Manchmal blieben sie bis tief in die Nacht hinein. Opa sagte, dass die drei in der Schule unzertrennlich gewesen waren. Manchmal brachten sie auch ihre Frauen mit. Kat war Ärztin und gehörte zu Brian und Anne, die zu Victor gehörte, war Schneiderin. Sie hatte mir zur Schuleinführung ein Kleid genäht, in das ich ganz verliebt war. Jetzt ziehe ich kaum noch Kleider an, Hosen sind einfach praktischer. Beide Paare hatten keine Kinder. Anne war erst dreiundzwanzig. Ihr Mann Victor, Brian und Kat waren genauso alt wie mein Dad, zweiunddreißig. Auch brachte sie mir manchmal ein Pferdebuch

mit. Ich hatte schon mit fünf Jahren Reitunterricht und ich liebte Pferde. Dann waren mein Vater und Großvater verreist und auch Dads Freunde kamen nicht mehr. Sie kamen auch nicht wieder, als in den Nachrichten von Krieg gesprochen wurde und die ersten zerstörten Städte gezeigt wurden. Das war das Startsignal für Mama und Oma. Innerhalb einer Woche hatten wir alle noch restlichen Sachen in Mamas Auto geladen. Einen Großteil hatten Papa und Opa schon mitgenommen.

In der Nacht fuhren wir dann los. Mama und Oma wechselten sich beim Fahren ab. Abends machten wir Halt und übernachteten in einem Hotel. So ging das mehrere Tage. Vom Krieg war noch nicht viel zu merken, da die Gegend immer unbewohnter wurde. In der Kleinstadt Sopol trafen wir dann Papa.

Nachdem Papa unser Auto verkauft hatte, gingen Mama und Oma Lebensmittel, Seife und Waschmittel kaufen. Am nächsten Morgen fuhren wir mit Papas Auto wieder los in Richtung Berge. Nach einem weiteren halben Tag waren wir da. Als Erstes sah ich zwei Blockhäuser, die mit Tarnnetzen abgedeckt waren. Auf dem Hof arbeitete Opa mit Brian und Victor an einem großen Zaun. Wir gingen in ein Blockhaus.

Es hatte eine große Küche mit einem großen Esstisch, an dem zwölf Stühle standen, ein kleines Wohnzimmer und im Obergeschoss drei Zimmer sowie einen Keller.

Ich musste mir ein Zimmer mit meinem Bruder teilen. Mama und Papa hatten ein Zimmer sowie Oma und Opa.

Im anderen Blockhaus wohnte Brian mit seiner Frau Kat und auch Victor mit seiner Frau Anne. Dort gab es nur eine kleine Küche, dafür aber ein Arztzimmer. Papa sagte, wir müssen jetzt viel lernen, ich bei Mama und Oma, mein Bruder Kilian draußen bei Opa und Papa. Von früh bis zum Mittagessen und danach zwei Stunden Unterricht. Den Rest des Tages bis zum Abendbrot konnten wir machen, was wir wollten. Nur immer in der Nähe von Erwachsenen. Ich begriff mit meinen sieben Jahren noch nicht, wie sich alles von einem Tag auf den anderen änderte.

Am Morgen feuerte Oma zuerst den Küchenofen an, um heißes Wasser zu bekommen. Wir gingen zum Bach, um uns zu waschen und die Zähne zu putzen. Ich hasste das, es war kalt. Nach dem Frühstück wurde gewaschen, gekocht und in einem Steinofen gebacken. Auch die zwei anderen Frauen, Kat und Anne, arbeiteten bis Mittag mit. Nach dem Mittag, das wir alle zusammen aßen, gab uns Opa Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen. Zweimal pro Woche bestand der Unterricht aus Kampfsport. Nachmittags erkundete ich unser Camp. Wenn Papa mit unserem kleinen Windhund, den er gekauft hatte, in den Wald ging, waren Kilian und ich dabei. Er brachte Bruno, so hieß der Hund, das Jagen bei.

„Sehr bald werden wir auf Bruno angewiesen sein, wenn wir etwas zu essen haben wollen“, sagte er zu uns.

Bruno lernte schnell. Schon bald brachte er seinen ersten Hasen. An diesem Tag hörten wir auch zum ersten Mal die Bomber über unseren Wald fliegen und die Explosionen. Es herrschte eine bedrückende Stimmung beim Abendbrot.

Victor sprach als Erstes. „Hoffen wir, dass sich die Großmächte an ihre eigenen Beschlüsse gehalten haben und alle Atomwaffen vernichtet wurden.“

Alle nickten.

Papa sagte zu Brian, das war derjenige der beiden Männer, der zu Kat gehörte: „Wir fahren morgen in die Stadt und sehen, was los ist. Lange können wir das Auto sowieso nicht mehr benutzen, es gab beim letzten Mal schon kein Benzin mehr.“ Zu Großvater gewandt sagte er: „Dad, es wird Zeit die Allee zu pflanzen.“ Opa nickte.

Am nächsten Tag zogen wir alle los. Mit Hacke, Spaten und die Schubkarre voller Kiefern, Birken und Spitzahornbäume. Die Bäume pflanzten wir direkt auf den Weg zu unserem Camp.

Opa sagte: „Der Weg wird bald zugewachsen sein, wenn wir nicht mehr mit dem Auto fahren. Wir wollen nicht, dass uns andere leicht finden können. Nur wir wissen, dass die Allee zu uns führt.“

Papa und sein bester Schulfreund Brian kamen nach drei Tagen zurück und brachten Narvik mit. Er war verletzt und hatte neben seiner toten Mutter gelegen. Brian und Kat hatten keine Kinder, sie wollten sich um Narvik kümmern. Brian war Architekt und Baumeister und seine Frau Kat Ärztin. Sie arbeite vor dem Krieg als Chirurgin in einem Krankenhaus.

Er sagte: „Die ganze Stadt ist zerbombt. Es gibt kein Haus mehr, welches nichts abbekommen hat. Es herrscht das reinste Chaos.“

Narvik, ein dünner Junge mit blonden Haaren, erholte sich nur langsam von seiner Verletzung. Ein Granatsplitter steckte in seiner Schulter. Kat hatte ihn entfernt, noch hatte sie Betäubungsmittel. In der wenigen freien Zeit, die Kat hatte, las sie Bücher über Heilpflanzen und zog diese auch in ihrem Kräutergarten. Narvik war ein Jahr jünger als Kilian und die zwei freundeten sich schnell an. Bald waren sie unzertrennlich. Auch er wurde jetzt von Opa mitunterrichtet. Das Camp war jetzt voll eingezäunt und am Eingang stand ein kleiner Wachturm. Mitten im Hof stand ein Brunnen, daneben ein Unterstand, das war die Schmiede und Victors Reich. Victor war, wie Brian, auch ein Schulfreund von Papa.

Opa sagte immer: „Die drei waren unzertrennlich, was der eine nicht wusste, wussten die anderen zwei.“

Hier schmiedete er Schwerter, Messer und für seine Frau Anne Pfeilspitzen. Vor dem Krieg war sie in einem Verein für Bogenschützen und sie war gut darin. Anne hatte schon Siege bei Landesmeisterschaften errungen. Von Beruf war sie Schneiderin, deshalb hatte sie eine Nähmaschine mit Tretpedal mitgebracht. Hinter den zwei Häusern war der Garten voller Gemüsebeete und es gab auch Obstbäume. Das Reich ihrer Oma, sie war Gärtnerin.

Mama war Köchin und kochte für alle.

Am hinteren Ende kam noch ein einzelnes Haus, das sogenannte Waschhaus. Hinter dem Zaun floss ein Bach, und die Männer hatten unter der Erde Rohre vom Bach durch das Waschhaus und wieder zurück in den Bach verlegt. Im Waschhaus standen ein Badeofen aus Kupfer und eine Badewanne. Wenn wir baden wollten, musste der Kessel geheizt werden. Seit das Waschhaus fertig war, konnten wir uns auch dort waschen. Neben dem Waschhaus waren große Holzstapel und daneben ein großes Zelt. Unser Vorratszelt.

Jetzt hörte ich Geräusche, die mich aus meinen Gedanken rissen. Aber es waren nicht mein Bruder und Narvik, sondern Papa mit Bruno und Anne, die von der Jagd kamen. Bruno hatte ein kleines Reh erlegt und Anne hatte mit ihrem Bogen eine Ente von Himmel geschossen. Das große Vorratszelt war schon lange leer. Es war nur noch das darin, was wir selbst herstellten oder jagten.

„Na Kleine, lässt du uns rein?“, grinste mich mein Papa an. Er wusste genau, dass ich es hasste, Kleine genannt zu werden.

„Nein, da ich klein bin, kriege ich das Tor nicht auf“, grinste ich jetzt frech zurück und blieb stehen.

Anne lachte. „So, das hast du jetzt davon, dass du Joyse geärgert hast!“

„Okay, ich probiere es anders. Du große, schöne Amazone, willst du nicht deinen armen, geschwächten Vater einlassen?“Ich nickte gnädig, kletterte vom Turm und ließ die zwei ein. Dann bezog ich wieder Posten, denn ich war dran mit Wache. Jetzt waren noch Oma, Victor und Caro, meine kleine Schwester, draußen. Oma wollte noch ein neues Feld außerhalb anlegen und Victor half ihr umzugraben. Caro war gerade zehn Jahre alt geworden, sie hatte die blonden Haare und die blauen Augen von Oma geerbt. Sie war immer an Omas oder Kats Seite. Kat lehrte sie die Heilkraft der Pflanzen und Caro saugte alles in sich auf, was mit Heilen und Pflanzen zu tun hatte. Opa konnte Oma nicht mehr auf dem Feld helfen, er hatte Schmerzen in den Knien und im Rücken. Er half Brian, den Stall zu vergrößern. Es waren mit der Zeit immer mehr Tiere geworden und vielleicht kam ja noch ein Pferd dazu. Anne hatte bei ihrem letzten Ausflug in den Wald Wildpferde gesehen. Sie wollte versuchen, eins oder zwei zu fangen und zu zähmen. Wenn es so weit ist, darf ich mitkommen, hatte sie mir gesagt. Mit fünf Jahren hatte ich schon Reitunterricht bis zu dem Zeitpunkt, wo wir alle hierherkamen. Ich vermisste die Pferde und hätte nie geglaubt, dass ich je wieder eins besitzen würde. Aber jetzt, wo Anne die Pferde gesehen hatte, hegte ich Hoffnung. Nie hatte ich aufgehört, in meinen Büchern über Pferde zu lesen und wusste alles über sie.

Vor drei Jahren fing Papa mit Kilian und mir für Oma eine junge Bergkuh ein. Oma hatte im Laufe der Jahre einen kleinen Bauernhof außerhalb des Zaunes errichtet. Immer, wenn jemand in die Stadt ging, schärfte Oma ihnen ein, sie sollten nach Tieren Ausschau halten und sie mitbringen. So hatte sie jetzt außer der Kuh noch Hühner samt einem Hahn, Kaninchen, Ziegen, Schafe und Enten. Sowie den Hof voller Katzen, die unsere Vorräte von Mäusen und Ratten freihielten. Der Stall für die Tiere wurde aus Platzgründen außerhalb der Umzäunung gebaut.

Die Natur fern von den Städten hatte keinen Schaden genommen. Oma sagte immer, wir müssen uns nur an längst vergangene Zeiten erinnern. Auch da haben Menschen gelebt. Uns ging es relativ gut. Auch wenn sich unsere Essgewohnheiten dem einfachen Leben angepasst hatten.

Ich durfte letzten Monat mit Dad in die zerstörte Stadt gehen. Mama war anfangs dagegen gewesen, aber Papa meinte, ich sei jetzt alt genug und würde hier zu behütet aufwachsen. Außerdem waren sie schon lange keinen anderen Menschen mehr begegnet, wenn sie in die die Stadt gingen. Ich war ganz aufgeregt, schließlich sollte es das erste Mal sein, dass ich unsere keine Festung für ein paar Tage verlassen durfte. Das erste Mal seit genau elf Jahren.

Joyse

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