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2 - Die zerstörte Stadt

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Als es am nächsten Morgen soweit war, nahm er mich mit in unser Schulzimmer. Dort zeichnete er mir an unserer Tafel einen Lageplan.

Er sagte: „Joyse, passe genau auf, was ich dir sage! Falls mir etwas zustößt, musst du allein zurückfinden.“

Er erklärte mir den Weg in die Stadt, wo wir Rast machten und wo Verstecke waren.

„Joyse, du musst immer genau das machen, was ich dir sage, unser Leben könnte davon abhängen!“

Ich nickte. Dann ging es los. Zuerst ging es unsere gepflanzte Allee entlang, am Ende bogen wir nach rechts ab. Er zeigte mir an einem Baum ein eingeritztes Herz auf der Wetterseite.

„Das ist unserer Zeichen, damit wir zurückfinden.“

Bis zum Mittag liefen wir durch den Wald und er zeigte mir jeden Baum mit dem Zeichen. Er erklärte mir den Stand der Sonne, sodass wir nicht im Kreis liefen. Kurz vor einer Lichtung war das Herz von einem Pfeil durchbohrt.

„Hier befindet sich ein Versteck“, sagte Dad.

„Findest du es?“

Ich drehte mich im Kreis und schaute in alle Richtungen, aber außer Bäumen und Sträuchern war nichts zu sehen. Mir fiel nur ein großer Holunderstrauch auf, dessen Äste bis auf den Boden reichten. Ich zeigte auf ihn.

„Gut beobachtet, mein Schatz!“, lobte mich mein Vater. Wir gingen hin. Er zeigte mir die Stelle, an der wir in den Busch kriechen konnten. Im Inneren war ein kleiner Holzverschlag, wo zwei Menschen nebeneinandersitzen konnten. Es war eng, aber wind- und wettergeschützt.

Wir krochen wieder heraus. Auch wenn man direkt vor dem Busch stand, konnte man den Holzverschlag kaum sehen.

„Wir haben auf dem Weg zur Stadt mehrere solcher Verstecke, die haben uns schon manches Mal gerettet, wenn wir auf andere herumziehende Menschen gestoßen sind. Im Krieg und später, Joyse, sind die meisten Menschen an Hunger und Krankheit gestorben. Es haben nur die überlebt, die sich rechtzeitig mit der Natur im Einklang zu helfen wussten, so wie wir.“ Wir erreichten die Stadt ohne Zwischenfälle. Aber es war keine Stadt mehr. Die zerbombten Häuser und Straßen wurden von Pflanzen und Bäumen in Besitz genommen, sie war menschenleer.

„Dad, was wollen wir hier?“, fragte ich.

„Nützliche Dinge suchen, die wir gebrauchen können. Jetzt begegnet man hier kaum noch jemandem, aber wir sollten trotzdem vorsichtig sein. Wir bleiben in Sichtweite zusammen. Falls du jemanden siehst oder etwas hörst, gehst du in Deckung. Der Käuzchenruf ist der Warnruf. Im Zentrum haben wir schon jeden Stein umgedreht, jetzt nehmen wir uns die Randgebiete vor“, erklärte mir Dad.

Als wir ein Stück gegangen waren, machte mir Dad ein Zeichen, dass es losgeht. Ich suchte auf der rechten Seite der ehemaligen Straße, Dad links. Manche der Häuser standen noch zur Hälfte. Als ich das erste betrat, hoffte ich, dass es nicht einstürzte. Jedoch standen sie jetzt schon so lange, warum sollten sie gerade jetzt einstürzen?

Ich hatte vier Ruinen durchsucht und noch nichts Brauchbares gefunden. Beim nächsten Haus war nur das Dach zerstört. Ich sah mich im Erdgeschoss um. Ein Zimmer mit einem schweren Schrank, der leer war, ließ mich stutzen. Die Größe dieses Zimmers passte nicht zu den restlichen Zimmern, und warum hatte der Schrank keine Fächer oder Stangen für Wäsche? Im Raum standen noch ein Sofa und ein Tisch. Gardinen oder Vorhänge gab es wie in jedem Haus keine mehr. Ich betrat den Schrank und untersuchte die Rückseite, mein Bauchgefühl sagte mir, dass hier etwas nicht stimmte. In der Mitte befanden sich zwei Scharniere. Nun hatte der Schrank meine volle Aufmerksamkeit. Für was waren die Scharniere da? Die Rückwand war zweigeteilt, aber warum? Ich tastete die Rückwand ab, ergebnislos. Jetzt untersuchte ich die Oberseite. An der rechten Kante zur Rückwand fühlte ich einen kleinen Hebel. Ich zog ihn nach vorn und die Rückwand sprang ein kleines Stück nach hinten auf. Ich stieß sie weiter auf und ein kleiner Raum dahinter kam im Dunkeln zum Vorschein.

„Wow!“ Das musste ich unbedingt Dad zeigen. Ich machte die versteckte Tür wieder zu, ging aus dem Haus und stieß den Ruf eines Adlers aus. Es dauerte nicht lange, da kam Dad angelaufen.

„Warst du das?“

Als ich nickte, sagte er: „Dachte ich mir doch. Was ist los, hast du was Interessantes gefunden?"

„Vielleicht.“

Ich machte den Schrank auf und zeigte hinein.

„Ich sehe nichts!“

„Du nicht, aber ich“, grinste ich ihn an.

„Na, wenn du so grinst, werde ich mir das gute Stück mal näher ansehen.“

Ich zeigte ihm, was ich entdeckt hatte. Überrascht stieß er einen Pfiff aus. Er kramte aus seinem Rucksack eine Kerze und Zündhölzer heraus, mit denen er sehr sparsam umging. Es war ein kleiner, voll ausgestatteter Raum. Auf dem Tisch und auf dem Nachtschrank neben dem Bett standen Kerzen. Als Dad sie anzündete, war der kleine Raum gut ausgeleuchtet. Das Zimmer war trocken und es befand sich noch ein Waschbecken mit Unterschrank, ein Schrank und eine Elektroheizung darin. Der Schrank hing voller Männerkleidung, es waren auch Bettwäsche und Decken darin. Im Unterschrank waren Seife, Waschpulver und Handtücher. Alles gut erhalten. Im Nachtschrank Kerzen, Zündhölzer und ein Nachttopf.

„Joyse, wenn ich geahnt hätte, dass du so eine gute Spürnase hast, hätte ich dich schon eher mitgenommen“, lachte Dad jetzt.

„So viel Ausbeute hatten wir schon lange nicht mehr.“

Wir verstauten zuerst die Waschmittel und Kerzen in unseren Rucksäcken, dann die Handtücher, die noch Platz hatten. Die anderen Sachen wollten wir später holen. Dad verschloss das geheime Zimmer. Wir gingen hinaus und er machte Äste von einem Strauch ab. Ungläubig fragte ich ihn, was er damit wolle. Er lächelte tiefgründig und ging mit mir zurück. Er deutete auf den Boden. Überall waren unsere Fußspuren in der dicken Staubschicht zu sehen. Mit den Zweigen kehrte er darüber und so verließen wir rückwärtsgehend das Haus.

„Nur für den Fall, dass sich jemand hierher verirrt. Was ich zwar nicht glaube, aber wir wollen doch nicht, dass jemand anderes unsere Geheimkammer findet!“

Da wir mehr gefunden hatten, als wir tragen konnten, machten wir uns auf den Heimweg. Dad versprach mir, mich das nächste Mal wieder mitzunehmen, wenn er erneut an der Reihe war, in die Stadt zu gehen.

„Joyse, du bist jetzt der Boss und führst mich nach Hause“, sagte Dad im ernsten Tonfall.

Ich starrte ihn ungläubig an.

„Ich bin das erste Mal hier, wie soll ich mich da zurückfinden?“

Er sah mich nur an und langsam erinnerte ich mich, was er am Anfang zu mir gesagt hatte.

„Falls mir etwas passiert, musst du allein zurückfinden.“ Im stillen Einvernehmen nickte ich ihm zu und er wusste, dass ich es verstanden hatte.

Ich marschierte in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Nach einer Weile blieb ich stehen. Die Ruinen sahen hier anders aus. Hier waren wir noch nicht vorbeigekommen. War ich zu weit gelaufen? Hilfesuchend sah ich meinen Dad an. Doch der schüttelte nur mit dem Kopf. Er wollte mir nicht helfen. Frustriert schaute ich mich um. Nur Ruinen, sonst nichts. Was hatte er immer gesagt, wenn wir in den Wald gingen und bevor wir uns auf den Weg in die Stadt machten? „Du musst auf den Stand der Sonne achten.“

Ich schaute zur Sonne. Als wir hierherkamen, war es morgens und wir hatten die Sonne im Rücken. Mittlerweile war es Mittag geworden und ich lief immer noch mit der Sonne im Rücken. Nach kurzem Überlegen änderte ich meine Richtung. Mein Dad hinter mir sagte: „Gut gemacht, Kleines.“

Innerlich freute mich sein Lob. Jetzt nahm ich die Gegend genauer in Augenschein. Wald, überlegte ich. Wir sind aus einem Wald gekommen und haben die Stadt vor uns gesehen. Als die Häuser weniger wurden und wir aus der Stadt kamen, sah ich den Wald in einiger Entfernung vor mir. Ich war erleichtert. Jetzt musste ich nur noch den richtigen Weg hineinfinden. „Der Bach!“, fiel es mir wieder ein.

Wir waren an einem Bach entlanggelaufen. Ich suchte den Stand der Sonne, der Bach müsste rechts von uns liegen. Also ging ich über die Wiese in die Richtung, wo ich ihn vermutete.

Es war ein warmer Frühsommertag, das Gras stand hoch und die Wiese war mit Blumen übersät. Schmetterlinge flogen von einer Blüte zur anderen. Es gab Kornblumen, Glockenblumen und Margeriten. Etwas weiter hinten sah ich etwas Gelbes leuchten. Waren es Butterblumen oder Sumpfdotterblumen? Schnell lief ich in diese Richtung. Gelbe Sumpfdotterblumen standen an einem kleinen Bächlein, das friedlich vor sich hin plätscherte. Ich hatte den Bach gefunden.

Wir gingen bis zum Waldrand am Bach entlang. Im Schatten der Bäume rasteten wir. Ich holte aus meinem Rucksack getrocknetes Fleisch. Dad füllte unsere Feldflaschen mit frischem Bachwasser. Wir aßen schweigend.

Als wir aufbrachen, sah ich an einer großen Eiche unser Zeichen auf der Wetterseite, ein eingeritztes Herz. Ich strahlte. Jetzt erst fiel mir auf, dass unser Zeichen immer in Eichen ober Buchen geritzt war. Das erleichterte es mir, unseren Heimweg zu finden. Als wir unsere Allee erreichten, zog mich Dad in seine Arme und küsste mich auf die Stirn.

„Ich bin stolz auf dich Joyse!“

Wir brauchten einen Tag länger zurück, da ich allein den Weg finden musste.

Dad erzählte allen von dem geheimen Zimmer und dass ich den Weg allein zurückgefunden hatte.

Jeder gratulierte mir zu meinem Erfolg und Mama machte für alle mein Lieblingsgericht zum Abendbrot. Kartoffelpuffer.

Wie ich so meinen Gedanken nachhing, hörte ich den Schrei eines Adlers. Ich schaute zum Himmel, sah aber keinen Vogel.

Der nächste Schrei folgte. Jetzt schaute ich in Richtung Allee, denn von dort kam der Schrei. Brian und Dad kamen schnellen Schrittes zu mir.

„Joyse, siehst du etwas?“

„Nein, es klang wie Kilian“, antwortete ich.

Brian überlegte laut: „Wenn sie in Gefahr wären, hätte Kilian den Käuzchenruf gemacht!“

Dad war schon am Tor und schob den schweren Riegel zurück.

„Joyse, schließe das Tor hinter uns!“

Die beiden Männer gingen Richtung Allee davon. Als ich am Tor war, sah ich Victor, Oma und Caro.

Von Weitem fragte Victor: „War das dein Bruder, Joyse?“

„Ich denke schon, Narviks Ruf ist heller, nicht so kratzig.“

Nachdem die drei durch das Tor waren, schloss ich es. Jetzt kamen auch meine Mutter und Opa.

„Kilian, das war doch sein Ruf, was ist mit ihm?“

„Mom, ich weiß es nicht, aber Dad und Brian sind schon draußen, nach den beiden suchen.“

Es verging eine ganze Weile, dann war das Heulen eines Wolfes zu hören.

„Brian, das war Brian!“, stellte ich fest.

Kat kam vom Kräutergarten zum Tor gelaufen.

„Was ist los?“, rief sie schon aus einiger Entfernung.

„Wo ist Brian? Das war er doch, oder?“

Als sie am Tor ankam, erzählte ich ihr, was vorgefallen war. „Wenn Brian als Wolf heult, muss ich sofort zu ihm, ich nehme meine Arzttasche mit. Caro, willst du mit?“

Caro nickte eifrig. Sie ging Kat zur Hand, wenn diese in ihrem kleinen Arztzimmer Verletzungen oder Krankheiten behandelte. Auch erklärte Kat Caro ihre Experimente und die Untersuchungen am Mikroskop. Seit zwei Jahren versuchte Kat, Penicillin herzustellen. Dazu hatte sie Mais in Wasser

eingeweicht, sogenanntes Maisquellwasser. Dieses stand auf dem Fensterbrett im Warmen. Auf diesem wuchsen Schimmelpilze: Das sollte Pinselschimmel Penicillium sein. Als sich unser Jagdhund Bruno einmal verletzt hatte und es zu eitern anfing, machte Kat ihm Umschläge mit den Schimmelpilzen. Innerhalb von wenigen Tagen war die Wunde abgeheilt. Das bestärkte Kat, weiter zu machen. Einmal hatte ich Kat und Brian belauscht, es war zufällig geschehen. Ich saß ganz oben im Kirschbaum und naschte Kirschen, als die beiden sich unter dem Baum auf die Bank setzten. Kat hatte sich an Brian geschmiegt und schluchzte.

„Brian, ich habe Angst, es wird die Zeit kommen, wo ich nicht mehr helfen kann. Was nützt mir all mein Wissen über Medikamente und Operationstechnik, wenn ich sie nicht habe?“

Brian zog sie in seine Arme und küsste sanft ihre Stirn. „Schatz, wir wissen das alle und es wird dich keiner verurteilen, falls es je dazu kommen sollte.“

Mir stockte der Atem, ich war der Meinung, dass Kat alles heilen konnte. Diese Aussage ließ mir lange Zeit keine Ruhe, aber sie hatte ja recht. Warum sonst hatte sie einen Kräutergarten mit Pflanzen, die nicht zum Essen waren?

Kat hatte in den elf Jahren, die wir jetzt hier waren, fast ihren ganzen Vorrat an Penicillin aufgebraucht. Was sie jetzt noch hatte, war überlagert, aber es half immer noch. Victor hatte sich letzten Monat in seiner Schmiede verletzt und die Wunde hatte sich entzündet, sie wollte nicht heilen. Als dann auch noch Fieber hinzukam, verabreichte Kat ihm das überlagerte Penicillin und es half.

Kat hatte jede Menge Bücher über Heilpflanzen, Naturheilkunde und Fachliteratur.

Caro war eine gelehrige Schülerin und ihr machte es Spaß. Die beiden gingen in die kleine Praxis und während Kat ihre Tasche holte, suchte Caro Verbandszeug heraus und steckte es in ihren Rucksack.

Kat nickte ihr zu. "Gut gemacht Caro!"

Als sie zum Tor kamen, stand auch Victor mit einem Rucksack auf dem Rücken da. „Ich komme mit.“

Ich blieb mit meiner Mom, Oma und Opa zurück. Sorgfältig verriegelte ich das Tor, als die drei draußen waren.

„Joyse, der Käuzchenruf, wenn du etwas siehst!“, sagte mein Opa zu mir.

„Sus und Ann, macht heißes Wasser und desinfiziert den Behandlungstisch, nur vorsichtshalber. Ich hole eine Flasche hochprozentigen Kartoffelschnaps. Nur für alle Fälle.“

Beide nickten und gingen davon.

Sus war meine Mom und hieß eigentlich Susanne. Und Ann, meine Oma, hieß Annegret. Mein Opa John war groß, hatte schwarze Haare, die schon weiß durchsetzt waren, und seine achtundsechzig Jahre sah man ihm nicht an. Jetzt drehte er sich um und ging in Richtung Haus davon.

Ich kletterte wieder auf den Wachturm.

„Was wohl passiert ist?“, fragte ich mich.

Ausschau haltend gingen meine Gedanken wieder auf Wanderschaft. Als wir Kinder das erste Mal mit Dad und Victor im Wald waren, tollten wir herum. Nach einer Weile machten wir Rast und Dad bedeutete uns, leise zu sein. Wir hörten die Geräusche der Natur. Victor erklärte uns diese. So waren Rehe zu hören, der Ruf eines Adlers und Vogelgezwitscher. Unser Dad ahmte uns nach, wie ich und mein Bruder durch den Wald tollten. Wir waren so laut, dass man nichts anderes hörte. Papa erklärte uns, dass wir so ganz leicht von Fremden aufgespürt werden könnten.

„Im Wald wird es jetzt bald gefährlich“, erklärte er uns. „Wir gehen leise durch den Wald und beobachten unser Umfeld.“

Falls wir Fremde sähen, sollten wir uns sofort verstecken. Wir verständigten uns über Tierlaute. Der Käuzchenruf bedeutete Gefahr. Der Ruf des Adlers, dass man zusammenkommt. Das Heulen des Wolfes bedeutete, dass der Partner kommen soll.

Also lernten wir uns leise zu verhalten, schnell Verstecke zu finden und Tiergeräusche nachzuahmen. Später kam noch Narvik dazu. Uns machte es Spaß. Manchmal kam auch Opa oder Brian mit. Dad lief zum Beispiel eine Weile vor uns in den Wald und wir folgten mit Brian oder Victor. Wenn wir dann Papa sahen oder hörten, manchmal redete er laut, mussten wir uns erst warnen: Käuzchenruf und dann verstecken. Wenn er vorbei war, der Ruf des Adlers: Entwarnung, alle zusammenfinden. Danach wurde ausgewertet, wie wir waren. Wir durften auch die Männer suchen, aber da waren wir am Anfang nicht sehr erfolgreich.

Ich lächelte vor mich hin. Jetzt fand mich keiner mehr, wenn es ums Verstecken ging. Die Sonne neigte sich, es war jetzt schon später Nachmittag. Wie schnell doch die Zeit vergangen war.

Joyse

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