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4 - Fearless

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In der Zeit, in der Narvik festlag, ging das Leben in der kleinen Festung weiter. Als Anne mich auf dem Wachturm ablösen kam, erzählte sie mir alles, was sich ereignet hatte und wie Narvik zu seiner Verletzung gekommen war. Außerdem berichtete sie mir von einer Herde Wildpferde, die sie erneut auf der großen Waldwiese gesehen hatte.

„Jetzt wäre die beste Zeit, um welche zu fangen. Sie

haben Junge dabei“, sagte sie.

„Aber wie wollen wir das anstellen? Die Pferde sind schnell und wir sind nur zu Fuß“, sagte ich.

„Das ist eine gute Frage. Ich weiß es auch noch nicht.“

„Außerdem brauchen wir Halfter und Sättel“, überlegte ich jetzt. „Es müssen ja keine Sättel und Halfter sein, wie ich sie vor dem Krieg hatte. Einfache, dem Zweck entsprechende, würden genügen, aber mit Steigeisen. Die könnte uns doch Victor schmieden. Und die Sättel und die Halfter könntest du doch machen? Ich könnte dir eine Skizze zeichnen, wie ich es mir vorstelle“, fachsimpelte ich jetzt.

Anne hob beide Hände.

“Nicht so schnell! Wir versuchen es erst einmal mit einem Halfter und Sattel samt Steigbügel. Dann sehen wir weiter. Überlege dir, wie wir die Pferde einfangen können!“

Ich antwortete zögerlich. „In meinen Pferdebüchern werden die Tiere durch Gatter in einen Pferch getrieben. Außerdem brauchen wir eine Koppel für die Tiere. Die Pferde sind das ganze Jahr draußen, die brauchen Auslauf!“

„Brian baut mit John einen Pferdestall“, warf Anne ein.

„Ja, ich weiß, aber wichtiger wäre vielleicht ein

Unterstand auf einer Koppel.“

„Joyse, du weißt mehr über Pferde als alle anderen. Warum wissen wir das nicht?“

Ich lächelte. “Mein Papa hat mir viele Pferdebücher mitgenommen und von dir habe ich damals vor dem Krieg auch schon welche bekommen. Ich habe die schon als Kind gern gelesen. Ich musste immer eher ins Bett als Kilian. Und so habe ich sie im Schein der Kerzen gelesen, bis mein Bruder ins Zimmer kam. Es waren auch Fachbücher dabei. Ich liebe Pferde und hatte schon mit fünf Jahren Reitunterricht, wie du ja weißt. Hier hatten wir keine Pferde und so habt ihr wohl angenommen, dass mein Interesse im Laufe der Jahre versiegt ist. Für mich war hier ein Pferd ein unerreichbarer Traum, den ich in meinen Büchern aufleben ließ.“

„Ja, Joyse, du hast aber doch mitbekommen, dass Brian einen Stall baut?“

„Das schon, ich wusste aber nicht, dass er für Pferde sein sollte. Erst als du anfingst, von den Wildpferden zu reden und wir Übungen mit dem Lasso machten. Ihr habt mich in eure

Überlegungen nie mit einbezogen. Kilian und Narvik schon.

Ich wollte mich nicht aufdrängen.“

Anne hörte den Vorwurf aus Joyse‘ Stimme und sie musste sich eingestehen, dass sie recht hatte. Sie durfte zwar alle Arbeiten mitverrichten, aber wenn es um Entscheidungen ging, wurde sie nicht mit einbezogen. Das war ein Fehler, wie sie jetzt merkte. Sie würde schnellstens mit Sus und Stephan reden.

„Joyse, das tut mir leid, es ist uns so nicht bewusst gewesen. Wir haben alle nicht gemerkt, wie erwachsen du schon bist. Erst als du vor einem Monat mit deinem Dad aus der Stadt gekommen bist. Aber das wird sich nun ändern. Geh jetzt, ich übernehme die Wache, du warst schon lange genug hier oben.“

Vorsichtig stieg ich vom Wachturm und ging zum Haus. Ich war viel zu müde und hungrig, um mir Gedanken über das Gespräch zu machen.

Als ich erwachte, war es Nachmittag. Ich ging in die Küche, um zu sehen, ob noch etwas von dem Maisbrot und der Suppe übrig war, die ich vor dem Schlafen gegessen hatte. Unter einem Tuch fand ich Maisbrot, der Topf mit der Suppe war leer. Ich nahm mir eine Tasse Tee, der immer auf dem Tisch stand, und aß von dem Maisbrot. Als ich satt war, wollte ich zuerst zu Narvik gehen. Am Bett saß meine Schwester Caro, Narvik schlief. Caro erzählte mir leise von seiner Behandlung und dass die Wunde schon besser aussehe. Ich drückte meine kleine Schwester und flüsterte ihr dabei ins Ohr. „Das wird schon wieder, du wirst sehen, bald wird er dich wieder an deinen Zöpfen ziehen und dich Frau Doktor rufen.“

Ein Lächeln huschte über Caros Gesicht.

„Du sollst zu Dad und Victor zum Pferdestall kommen, soll ich dir ausrichten. Sie dachten sich schon, dass du zuerst nach Narvik sehen würdest.“

Ich nickte und machte mich auf den Weg. Der neue Stall war außerhalb von der Umzäunung beim Bach. Als ich dort ankam, reichte mein Dad Victor Bretter für das Dach hoch. Es war ein warmer Sommertag und die Sonne schien.

„Na ihr zwei, seid ihr auch schön fleißig, dass ich mir bald ein Pferd fangen kann?“, fragte ich schelmisch.

„Ach, unser Langschläfer ist jetzt endlich mal wach und klopft freche Sprüche?“, tat mein Dad entrüstet.

„Ach, Dad, vielleicht könnten wir ja auf dem Wachturm ein Bett aufstellen? Es schläft sich so schlecht im Stehen. Der Service dort ist auch schlecht, ich hatte vor Hunger Albträume. Und so ein Gläschen Kirschwein von Oma hätte ich auch gern getrunken.“

„Ja hör sich einer die Göre an! Victor, was sagst du dazu?“

“Hm, ich würde sagen, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“

„Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken, anstatt mir zu

helfen?“

„Ich muss mich bei Joyse einschmeicheln, damit ich auch ein Pferd abkriege.“

„Was willst du großer Kerl denn mit einem Pferd? Das Tier tut mir jetzt schon leid!“, warf ich jetzt ein.

„Ich habe einen Pflug gebaut und den zieht mein braves Pferdchen dann. Ich ackere die Wiese am Waldrand um und verdiene mir eine goldene Nase mit den Erträgen. Basta.“

„Pass nur auf, dass du nicht vom Dach auf deine goldene Nase fällst!“, riefen Dad und ich gleichzeitig und lachten.

„Ihr werdet schon sehen“, tat Victor jetzt beleidigt.

„Was soll ich überhaupt bei euch beiden?“, fragte ich jetzt.

„Du sollst uns sagen, ob das hier für einen Unterstand für Pferde ausreichend ist. Oder brauchen wir noch Seitenwände?“

Bis jetzt waren nur vier Pfosten in die Erde gerammt, an denen Querbalken befestigt waren und diese hielten. Darauf legten die beiden Bretter als Dach, die sie festnagelten. Ich überlegte.

„Ich würde nur Bretter auf die Wetterseite nageln. Die anderen drei Seiten offenlassen, sodass die Pferde, wenn sie ihrem Fluchtinstinkt folgen wollen, schnell aus dem Unterstand herauskommen. Außerdem könnten wir hier auch direkt die Koppel bauen und der Bach dient gleichzeitig als Tränke. Zuerst sollte die Koppel klein sein, bis die Tiere sich an uns gewöhnt haben. Danach brauchen sie mehr Platz. Hier wachsen überall junge Birkenbäume, dessen Blätter sie knabbern können. Die Eichen spenden Schatten und die Eicheln sind im Herbst und Winter gutes Futter. Auch die Holundersträucher werden ihnen schmecken. Am Bach gibt es

auch in trockenen Sommern ausreichend saftiges Gras“, schloss ich meine Ausführungen.

Dad und Victor nickten sich zu. Anne hatte recht gehabt, als sie ihnen heute Morgen am Wachturm von Joyse und ihrem Pferdewissen erzählt hatte. Stephan hatte geglaubt, seine Tochter zu kennen. Doch nun entdeckte er eine völlig neue Seite an ihr. Er dachte, sie hätte im Laufe der Jahre ihr Interesse an Pferden verloren. Die Begeisterung, mit der sie von den Pferden sprach, überraschte ihn.

„Ja sag einmal, Kind, und wie fangen wir sie?“

„Anne hat mir erzählt, dass die Wildpferde dieses Jahr schon einmal auf der Waldwiese waren. Deshalb glaube ich, dass sie diese regelmäßig abgrasen kommen. Wir sollten dort, so lange sie da sind, zugegen sein, sodass sie uns Menschen nicht als Gefahr einstufen. Wir können so ihr Fluchtverhalten auf der Wiese studieren und herausfinden, wann sie weiterziehen. Dann werden wir aktiv. Wir bauen auf ihrer Fluchtseite ein Gatter, das in einem kleinen Pferch endet. Es braucht nur aus Brettern oder kleinen Bäumen zu bestehen, in einer Höhe, wo die Pferde nicht drüber springen können. Wir zäumen so ein Viertel von der Lichtung ein, das am Gatter endet. Es sollte etwa die Länge von drei Pferden

haben, das endet dann in einem Pferch. Dann heißt es abwarten. Sobald sie wiederkommen, sollten wir schnell handeln, bevor sie herausfinden, dass ihre Fluchtrichtung zugebaut wurde“, beendete ich meine Gedanken.

Meine Wangen glühten vor Aufregung, weil die Männer meine Meinung hören wollten.

„Joyse, geh doch zur Waldwiese. Vielleicht findest du etwas heraus, was uns helfen kann. Oder du bringst gleich ein Pferd mit“, grinste mich jetzt mein Dad an.

„Nein“, sagte ich, „ich fange nicht nur mit einem Pferd an. Ich brauche mindestens zwei. Eins für mich und eins für

Victor. Dann werde ich sein Teilhaber, wenn er

Großgrundbesitzer wird.“

Damit drehte ich mich um und ließ die beiden mit verblüffter Mine stehen. Victor lachte.

„Deine Kleine lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, die bleibt dir keine Antwort schuldig.“

Victor klopfte Stephan auf die Schulter.

„Komm, wir werden uns beeilen, Joyse bringt es fertig und kommt gleich mit Pferden zurück.“

Ich ging in Richtung Waldwiese. Diese lag etwa eine

dreiviertel Stunde entfernt, bis zum Abendessen war noch Zeit. Als ich in die Nähe der Waldwiese kam, blieb ich stehen. Der Wind kam von hinten und so würde er meinen Geruch zu den Pferden tragen. Ich änderte meine Richtung, um mich von der anderen Seite zu nähern. Als ich mich vorsichtig und lautlos anschlich, blieb mir fast das Herz stehen. Auf der Wiese standen etwa fünfzehn Pferde, die friedlich auf der Lichtung grasten. Von dem Aussehen und der Farbe her waren es aber eher verwilderte Hauspferde als echte Wildpferde, dachte ich. Ein Geräusch ließ mich und die Pferde aufhorchen. Es klang wie ein leises Winseln. Es kam aus der Richtung, von der ich gekommen war. Ich drehte mich um und ging dem Geräusch entgegen. Das Winseln setzte immer wieder aus und fing dann wieder an. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, um ja kein Geräusch zu machen. Dann sah ich es und blickte mich alarmiert in alle Richtungen um. Schnell drückte ich mich in den Schatten einer Eiche mit dem Rücken an den Baum und wartete. Ich zog mein kleines Schwert aus der Scheide und suchte mit den Augen die Gegend ab. Dabei achtete ich auf jedes Geräusch. Nichts, ich wartete. Als nach einer Stunde immer noch nichts passierte, wandte ich meinen Blick wieder dem Winseln zu. Neben einem Wolf, der sich die ganze Stunde nicht einmal bewegt hatte, saß ein kleines Jungtier.

Es stupste mit der Nase den Wolf an und winselte. Ich überlegte. Ein Wolf mit nur einem Jungtier ist ungewöhnlich. Wo waren die anderen Wölfe oder der Gefährte? Wusste ich doch, dass sie in Rudeln lebten und nicht ungefährlich waren. Aber es war Sommer und sie hatten genug Nahrung. Der Wald mit seinen angrenzenden Bergen bot vielen Tieren Lebensraum. Sollte ich mich so leise, wie ich gekommen war, wieder davonschleichen und den kleinen Wolf seinem Schicksal überlassen? Seine Mutter war anscheinend tot. Der Kleine tat mir leid, allein hatte er keine Überlebenschance, aber er war ein Wolf, wenn auch ein kleiner. Die Abendsonne färbte den Himmel rot, es wurde Zeit, nach Hause zu gehen. Schnell faste ich einen Entschluss. Ich zog mir die Jacke aus und näherte mich dem Jungtier. Dieses duckte sich hinter seiner toten Mutter und knurrte mich an. Leise, ihm gut zuredend, näherte ich mich ihm. Dann warf ich meine Jacke über den Kleinen und noch ehe er sich versah, hatte ich ihn eingewickelt. Es lugte nur der Kopf heraus. Er knurrte und fletschte mit seinen kleinen Zähnen. Ich klemmte ihn unter meinen Arm, dabei aufpassend, dass er mich nicht erwischte, wenn er versuchte, nach mir zu schnappen. Dabei redete ich ihm immer wieder gut zu. Schnellen Schrittes machte

ich mich auf den Heimweg. In der Nähe vom Tor stieß ich den Schrei eines Adlers aus. Mein Opa öffnete mir, er hatte Wache. Stirnrunzelnd betrachtete er mich.

„Joyse, ist das, was ich sehe, ein Wolfsjunges?“

Er zeigte mit dem Finger darauf. Das Kleine knurrte und versuchte nach dem Finger zu schnappen.

„Na, wer wird denn gleich beißen?“, schmunzelte jetzt mein Großvater. Mit ernster Miene sah er mich nun an.

„Was glaubst du, werden die anderen sagen, wenn du mit einem Wolf ankommst? Vor allem deine Oma mit ihrer Hühnerfarm?“

„Aber Opa, der ist doch noch ganz klein und frisst noch keine Hühner“, antwortete ich und setzte eine treuherzige Miene auf. „Ich konnte ihn doch nicht allein bei seiner toten Mutter lassen.“

„Er wird nicht lange brauchen, bis er herausgefunden hat, wie lecker Hühner sind.“

„Ich werde auf ihn aufpassen und ihn erziehen. Schließlich stammen Hunde vom Wolf ab.“

„Na, so einfach ist das nicht, Joyse. Aber geh erst mal zu deinem Vater, mal sehen, was der zu diesem kleinen, knurrenden Fellknäuel sagt.“

Jetzt war es mir doch etwas ungemütlich. Hätte ich ihn doch im Wald lassen sollen? Ach was, mein Dad würde mir schon nicht den Kopf abreißen. Zielstrebig ging ich zum Haus. Es war spät und sie saßen bestimmt schon beim Abendbrot. Ich steckte den Kopf zur Tür herein.

„Dad, kannst du mal kurz rauskommen, bitte?“ Ich sah ihn flehend an. Nachdem er mir ins Gesicht gesehen hatte, nickte er und stand auf. Irgendwie konnte er immer an meinem Gesicht ablesen, wenn etwas nicht stimmte. Und jetzt war ich froh, dass er gleich kam und nicht erst Fragen vor den anderen stellte.

„Was hast du denn wieder angestellt, was die anderen nicht wissen sollen?“

Und da sah er es. Er stieß einen leisen Pfiff aus.

„Na Joyse, auf dem kannst du aber nicht reiten, auch nicht, wenn er groß ist. Ich dachte, du bringst uns ein Pferd mit?“ Dad grinste.

Ich war erleichtert.

„Wo hast du ihn denn gefunden?“

Jetzt erzählte ich ihm, wie der Nachmittag verlaufen war und dass ich den Kleinen doch nicht hilflos im Wald zurücklassen konnte. Ich erzählte auch von meiner Angst, dass noch Wölfe in der Nähe sein könnten. Dad nickte. Eigentlich gingen sie immer zu zweit in den Wald, außer wenn Bruno, ihr Hund, mitkam. Aber heute Nachmittag hatte er nicht daran gedacht, als er Joyse zur Waldwiese schickte. Es hätte gefährlich werden können. Joyse war jetzt erwachsen, sie musste auch selbst daran denken.

Das sagte er mir auch. Ich nickte.

Jetzt nahm er den kleinen Wolf am Genick und hob ihn hoch. Er hielt still. Er betrachtete ihn ausgiebig und sagte dann zu mir:

„Der Kleine ist eine Sie. Oder besser: Sie ist ein

Mädchen. Du schaffst sie vorerst zum Kaninchenauslauf. Die Kaninchen sind jetzt im Stall und dort kann sie nicht ausreißen. Danach kommst du zum Essen und hinterher wird Kriegsrat gehalten.“

Ich lächelte meinen Dad an und küsste ihn auf die Wange.

„Danke.“

„Noch ist nichts entschieden! Freue dich nicht zu früh“, warnte er mich.

Mit der Kleinen unter dem Arm ging ich über den Hof. Als Stephan sich wieder an den Tisch setzte, waren alle Blicke auf ihn gerichtet.

„Joyse kann es euch selbst erzählen, nach dem Essen

halten wir Kriegsrat. Wir treffen uns alle am Wachturm bei John.“ Er löffelte genüsslich seine Suppe weiter.

Jetzt kam auch ich herein und wurde gleich mit Fragen bestürmt. Als ich meine Geschichte beendet hatte, begannen alle durcheinanderzureden und mich mit weiteren Fragen zu überhäufen. Jetzt war es Brian, der eingriff.

„Lasst sie doch zuerst etwas essen und hebt euch die Fragen für später auf!“

Ich wusste, dass alle ihre Meinung offen sagen konnten und

dass zum Schluss abgestimmt wurde. Dad nannte das Kriegsrat und alle akzeptierten den Mehrheitsbeschluss. So waren wir bisher immer gut zurechtgekommen, wenn es Streitigkeiten gab. Wir waren zwar nicht so viele, aber trotzdem nicht immer einer Meinung. Jetzt durfte ich das erste Mal bei einem Kriegsrat mit dabei sein. Als alle außer Narvik und Caro am Turm versammelt waren, erzählte ich noch einmal allen die Geschehnisse. Ich sagte auch, dass ich das Jungtier gerne behalten und erziehen würde.

„Die Hunde stammen doch auch von Wölfen ab, warum sollte sie nicht zahm werden?“, fügte ich noch zu meiner Verteidigung hinzu.

Jetzt entbrannte eine heiße Diskussion, alle redeten durcheinander. John stieß einen Pfiff aus und alle sahen zu ihm.

„So wird das nichts. Wir müssen überlegen, was es für Vorteile hat, das Wolfsjunge zu behalten und welche Nachteile. Danach wird abgestimmt. Außerdem soll uns Stephan sagen, ob es möglich ist, einen Wolf wie einen Hund zu erziehen. Da er Bruno zu einem ausgezeichneten Jagdhund ausgebildet hat. Am besten fängt er an.“

Alle nickten zustimmend.

„Das könnte euch so gefallen, wenn ich ja sage und

sie frisst ein Huhn, dann bin ich der Dumme. Außerdem ist ein Wolfsjunges nicht mit einem Hund zu vergleichen. Ich rede zum Schluss, um niemanden zu beeinflussen.“

„Da du von meinen Hühnern sprichst, fange ich an“, meldete sich Ann, meine Oma, zu Wort.

Und siehe da, sie hatte nichts dagegen, die kleine Wölfin zu behalten, staunte ich. Gerade bei ihr hätte ich mit dem meisten Widerstand gerechnet, da sie ja ihren kleinen Tierpark hatte.

„Unser Bruno ist in die Jahre gekommen und er hat uns so manchen Braten nach Hause gebracht. Wenn es Joyse mithilfe von Stephan gelingt, die Wölfin zu zähmen, vielleicht bekommen wir dadurch einen würdigen Nachfolger für Bruno. Oder noch besser, Nachwuchs. Denn soweit ich weiß, können sich Wölfe und Hunde paaren. Wir sollten es zumindest versuchen. Da meine Hühner auch brüten, werde ich schon mal auf ein Huhn verzichten können, auch Bruno hatte es als Welpe auf meine Hühner abgesehen“, schloss sie ihre Rede und lächelte mich an.

Ich schaute mich in der Runde um, wie es schien, war nicht nur ich überrascht.

„Jetzt, wo das Fieber von Narvik gesunken ist und wir hoffen dürfen, dass es ihm bald besser geht, habe ich Zeit, eine Hundehütte zu bauen, sowie einen kleinen Auslauf“, warf Brian ein und Kat nickte.

Victor und Anne schüttelten den Kopf.

„Wir wollten es euch eigentlich erst sagen, wenn wir ganz sicher sind. Aber wir glauben, Anne ist schwanger. Ein Wolf und ein Kleinkind passen, glaube ich, nicht recht zusammen.“

Es entstand ein neuer Tumult und alle umarmten die zwei und gratulierten den beiden.

Jetzt war es mein Dad, der das Wort ergriff.

„Ich verspreche euch beiden, sobald ich das Gefühl

bekommen sollte, dass sich die kleine Wolfslady nicht unterordnen will, kommt sie zurück in den Wald.“

Er reichte Victor seine Hand. „Ehrenwort.“

Victor sah fragend zu seiner Frau. Diese nickte leicht.

Daraufhin ergriff er Stephans Hand. Damit war die Sache entschieden und eine Abstimmung überflüssig.

Kilian klopfte seiner Schwester auf die Schulter.

„Na, dann bring ihr mal Benehmen bei, sie hat mich vorhin ganz schön angeknurrt.“

„Wirst du sie wohl in Ruhe lassen, sie ist verängstigt. Hunger hat sie bestimmt auch. Wenn ich nur wüsste, was ich ihr geben soll, und wie?“

„Komm mit!“, forderte mich meine Oma auf. „Ich habe Milch für dich. Wenn du Glück hast, trinkt sie die. Ich habe auch noch eine Plastikflasche, dann brauchst du nur noch so etwas wie einen Sauger.“

„Komm mit der Flasche zu mir. Wir machen einen Sauger aus Leder“, bekam ich jetzt auch von Anne Unterstützung.

Diese nähte aus Leder einen kleinen Trichter, der mit einer Schnur an der Flaschenöffnung festgebunden wurde. Damit ging ich zu der kleinen Wölfin. Dort wartete mein Dad schon auf mich.

„Zeig mir mal deine Flasche“, bat er mich.

Ich reichte sie ihm. Die Milch hatte Oma leicht angewärmt und als er die Flasche umdrehte, tröpfelte die Milch heraus. Dad nickte zustimmend. „Scheint zu funktionieren. Dann lass uns mal unser Glück probieren. Du steigst mit etwas Abstand zu ihr in den Auslauf, sodass sie abgelenkt ist und ich packe sie am Genick. Dann wickelst du die Decke um sie, es sollte nur noch Ihr Kopf herausgucken. Ich halte sie dann und du kannst versuchen, ob sie etwas trinkt. Nur eine Viertel Flasche, wir müssen es langsam angehen. Wir wissen nicht, wie lange sie schon nichts mehr bekommen hat und ob sie die Milch verträgt. Du musst mit ihr reden, damit sie sich an deine Stimme gewöhnt.“ „Okay.“ Ich stieg in den Kaninchenauslauf und die Wölfin zog

sich knurrend in die entgegengesetzte Ecke zurück. Dort schnappte sich Dad die Kleine. Als sie in die Decke gewickelt und von Dad gehalten wurde, tröpfelte ich ihr die Milch auf das Maul. Dabei flüsterte ich leise.

„Fearless, du musst trinken, wenn du groß werden willst.“

Erst versuchte Fearless auszuweichen, aber als sie die ersten Tropfen mit ihrer kleinen Zunge vom Maul ableckte, sperrte sie ihr Mäulchen auf und ich steckte ihr den Sauger hinein. Dabei redete ich leise mit ihr. Als Fearless ihre viertel Flasche weghatte, zog ich sie heraus. Danach setzte Dad die Kleine behutsam in den Auslauf zurück.

Ich faltete die Decke zusammen und legte sie ins Gehege und Dad legte zwei Bretter über den Auslauf, direkt über die Decke als Dach. Etwas abseits vom Gehege setzten wir uns, aber nur so weit, dass die kleine Wölfin uns noch sehen und hören konnte. Jetzt unterhielten wir uns leise. Es war eine sternenklare Nacht und der Vollmond schien. Fearless hatte sich auf der Decke zusammengerollt. Kurz vor Mitternacht wurde Fearless unruhig und fing wieder an zu winseln.

„Wir geben ihr noch mal etwas Milch und dann gehen wir besser auch schlafen“, sagte mein Dad.

Als ich mich ins Bett legte, konnte ich nicht gleich einschlafen. Zum einen, weil mein Bruder, mit dem ich immer noch ein Zimmer teilte, fürchterlich schnarchte. Zum anderen, weil die Ereignisse der letzten zwei Tage in meinem Kopf herumspukten. Auch hatte ich schon lange nicht mehr so ausgiebig mit meinem Dad geredet. Es war schön, dass er sich für mich so viel Zeit genommen hatte. Auch der Kriegsrat ging mir im Kopf herum. Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft, wo versucht wurde, alle Wünsche und Probleme zur Zufriedenheit aller zu lösen. Bei diesem Gedanken und mit einem Lächeln schlief ich ein.

Am nächsten Morgen stand ich schon vor dem Frühstück auf und ging mit der Milchflasche zu Fearless. Die kleine Wölfin war auf und machte sich am Zaun zu schaffen. Ich rief leise ihren Namen und sie spitzte die Ohren. Doch als ich in das Gehege stieg, knurrte sie wieder. Jedoch kam es mir so vor, als ob es leiser war. Mit etwas Mühe gelang es mir, sie auch allein zu fangen und zu füttern. Leise redete ich mit Fearless. Diesmal durfte sie die Flasche austrinken. Es schien ihr zu bekommen. In einer Ecke lag ein Kothaufen. Der Kot war fest. Dad hatte Bedenken, dass Fearless von der Kuhmilch Durchfall bekommen könnte. Natürlich war die Kuhmilch kein vollwertiger Ersatz für die Muttermilch, aber ich war froh, dass das Junge die Milch annahm. Nach dem Füttern setzte ich die Kleine wieder auf die Decke, ich selbst setzte mich etwas entfernt von ihr in das Gehege. Ich redete mit ihr und nannte oft ihren Namen. Damit sie sich an den Klang gewöhnen konnte. Auf einmal kam Bruno laut bellend auf uns zugerannt. Schnell stieg ich aus dem Gehege. Als Bruno Fearless sah, knurrte er sie an und bellte.

„Aus! Bruno! Sitz!“, befahl ich.

Widerwillig gehorchte er. Fearless hatte sich in die Ecke des Auslaufes gedrückt und knurrte ebenfalls.

Jetzt kam Kilian um die Ecke.

„Oh, Gott sei Dank bist du schon hier. Ich habe Bruno auf den Hof gelassen und nicht mehr an die kleine Wölfin gedacht. Erst als Bruno bellte, schoss es mir wieder ein. Entschuldige.“

„Ist ja nichts passiert. Bruno muss lernen, dass Fearless jetzt zu uns gehört.“

„Du nennst sie Fearless? Furchtlos, klingt schön und passt zu ihr, so wie sie unseren Bruno anknurrt.“

Kilian streichelte Bruno über den Kopf.

„Braver Hund. Komm, du kannst noch einen Hasen vor dem Frühstück fangen, dann brauchst du die kleine Wölfin nicht zu fressen.“ Er grinste mich an.

Ich drohte ihm mit dem Finger, doch Kilian lachte nur. Und als hätte Bruno Kilians Worte verstanden, rannte er zum Tor. Jetzt war es Victor, der das Tor hinter Kilian und Bruno schloss.

Ich erzählte Fearless, dass ich jetzt frühstücken gehen würde und dass ich dran war, Oma im Garten oder auf dem Feld zu helfen. „Zu Mittag komme ich wieder.“

Nachmittags half ich Brian beim Bau einer Hundehütte, die wir dann in den Kaninchenauslauf stellten und die Schutz vor Regen bot. Am nächsten Morgen ging ich mit Bruno zur Waldwiese. Aber von den Pferden gab es keine Spur mehr. Sie waren weitergezogen. Ich sah Bruno an und gab einen Befehl: „Such den Hasen!“

Und schon rannte Bruno los. Nach einer Weile hörte ich die Schreie eines Vogels, es klang wie ein Fasan, aber es war keiner. Dann Stille. Jetzt schlug Bruno an. Er wollte, dass ich zu ihm kam. Als ich Bruno erreichte, lag vor ihm ein Auerhahn. Ich lobte Bruno ausgiebig. Dann hörte ich es. Aus dem Gebüsch klang das Tschilpen von kleinen Küken. Deshalb hatte Bruno mich gerufen und war nicht einfach mit seiner Beute zurückgekommen. Der Busch war nicht groß und so fiel es mir nicht schwer, die Küken einzufangen. Bruno passte auf, dass keines weglief. Eins nahm er sogar behutsam in seine Schnauze, als es weglaufen wollte. Mit meiner Jacke formte ich einen Beutel und trug die Küken so nach Hause. Bruno trug stolz den erlegten Auerhahn. Am Mittagstisch sagte Mom zu mir: „Schatz, aber ein paar Jungtiere musst du schon im Wald lassen, sonst haben wir in Zukunft nichts mehr zu essen.“

Alle lachten.

„Eigentlich wollte ich sie ja Oma für ihren Zoo schenken, aber wenn ihr mich ärgert, gebe ich sie Fearless zum Spielen!“

„Wenn du das machst, behalte ich meine Kuhmilch für mich.“ Oma grinste.

„Okay, du bekommst sie. Ich gebe mich geschlagen. Also Kuhmilch gegen Küken.“

Jetzt kam Dad dazu.

„Was macht ihr denn für Schiebergeschäfte?“

„Ach, nichts weiter. Joyse hat eine Jungtierbörse eröffnet“, sagte Ann.

Wieder lachten alle.

„Heute gab es Auerhahnküken, mal sehen, was sie morgen aus dem Wald mitbringt“, warf meine Mom ein.

„Oh, wenn das so ist, würde ich mich gern für einen Biber anmelden. Dann bräuchte ich die Bäume nicht mehr mit der Axt fällen“, antwortete ihr Dad.

„Komm, Joyse, setz dich zu mir. Die anderen sind ja nur neidisch auf dich.“ Mein Opa klopfte neben sich auf den Stuhl.

Nach dem Essen ging ich zu Fearless, um sie zu füttern. Danach traf ich mich mit Brian, Anne, Kilian und Dad am Tor. Wir wollten auf der Waldwiese anfangen, meine Vorschläge Realität werden zu lassen. Natürlich war auch Bruno mit, der durfte jagen. Es war Sommer und das Fleisch, was wir nicht sofort verbrauchen konnten, wurde für den Winter getrocknet oder geräuchert.

Joyse

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