Читать книгу Mein wildes Leben zwischen Laufsteg und Swingerclub - Christiane Hagn - Страница 4
ОглавлениеVORWORT
»Vielen Dank, dass Sie heute mit uns geflogen sind. Wir hoffen, Sie bald wieder als Gast an Bord begrüßen zu dürfen«, haucht die Stewardess ins Mikrofon. Natürlich hört ihr längst niemand mehr zu. Stattdessen springen alle auf und reißen ihr Gepäck aus den Ablagefächern, als ginge es um Leben und Tod.
Auch ich habe es eilig. Aber solange die Flugzeugtüren noch geschlossen sind, macht es keinen Sinn, Hektik zu verbreiten. Genau eine Stunde habe ich noch Zeit, um pünktlich um Mitternacht an meinem Arbeitsplatz zu erscheinen. Das ist knapp, aber mit dem Taxi zu schaffen. Nach zwei Tagen auf dem Laufsteg würde ich jetzt eigentlich nichts lieber tun, als nach Hause zu meiner Katze zu fahren, mir dann ein heißes Bad einlaufen zu lassen und anschließend zehn Stunden am Stück durchzuschlafen. Stattdessen muss ich die nächsten acht Stunden damit zubringen, fremden Menschen beim Geschlechtsverkehr und/oder onanieren zuzusehen. Währenddessen werde ich Gläser polieren, das ständig klingelnde Telefon beantworten und Drinks ausschenken. An vorrangig nackte Menschen. Ich trage dabei aber Kleidung. Immerhin.
Als die Türen sich öffnen, werde ich vom Menschenstrom automatisch mitgeschoben und schaffe es gerade noch so, mir zwei Schokoladenherzen aus dem Körbchen der Stewardess zu schnappen. Eigentlich wollte ich drei.
Eine halbe Stunde später sitze ich endlich im Taxi und nenne dem Fahrer die Adresse meines Arbeitsplatzes. Sein Blick verrät sofort, was er denkt: »Das passt. So eine treibt sich in genau solchen Läden rum.«
»Det is aber ein janz schönes Stück«, erklärt er mir kurz angebunden, wobei er etwas verstört auf das Totenkopf-Tattoo an meinem Kehlkopf starrt.
»Und?«, frage ich verwundert nach.
»Det werden bestimmt dreißig Euro!«
»Keine Sorge. Die werde ich schon noch zusammenkratzen «, sage ich so freundlich wie möglich und schenke ihm ein Lächeln, das nicht erwidert wird. Natürlich nicht. Ich bin ja tätowiert und damit asozial.
Tatsächlich und leider gibt es auch heute – und ja, auch in Berlin – immer noch Menschen, die bei Tätowierungen seltsame Assoziationen haben. Sie denken: asozial, Schmarotzer, Schlampe, kriminell oder etwas einfallsloser einfach nur: Junkie. Inzwischen versuche ich, mit Vorurteilen dieser Art humorvoll umzugehen oder sie zumindest zu ignorieren. Die Tatsache, dass ich seit einigen Jahren gerade wegen meiner Tätowierungen zu einer »Person der Öffentlichkeit« wurde, ändert an diesen Vorurteilen nichts.
Also versuche ich meinem Taxifahrer seine voreingenommene Haltung heute nicht allzu übel zu nehmen. Die Kombination aus Tätowierungen und meinem heutigen Fahrtziel zu so später Stunde kann schließlich durchaus irritierend sein. Daher wissen auch nur die wenigsten meiner Bekannten von meinem etwas ungewöhnlichen Arbeitsplatz. Doch professionelles Modeln mit einem normalen Brotberuf in Einklang zu bringen, ist nun mal gar nicht so einfach. Aber leider notwendig. Denn Modeln ist immer noch ein sehr, sagen wir, saisonal bedingtes Geschäft. Eine Arbeit, die von Modemessen und Trends abhängig ist. Und davon, ob man als Model und auch als Person gerade IN oder OU T ist. In meinem Fall ist das noch extremer. Tätowierungen schwanken in der Modebranche vom absoluten In-Trend zum totalen No-Go. Die Anzahl meiner Bookings und die Bezahlung variieren genauso wie der Geschmack. Daher bin ich schon aus finanziellen Gründen auf einen Nebenjob angewiesen. Und der muss für mich vor allem zwei Kriterien erfüllen: mir ein gewisses monatliches Grundeinkommen sichern, damit ich garantiert meine Miete bezahlen kann, und gleichzeitig flexible Arbeitszeiten mit sich bringen. Das ist extrem wichtig, um Bookings, die gern sehr spontan eintrudeln, auch ebenso spontan zusagen zu können. Genau deshalb arbeite ich in einem Swingerclub.
Als wir an einer roten Ampel zum Stehen kommen, starrt der Taxifahrer völlig entgeistert auf das haushohe Plakat an dem Baugerüst gegenüber. Dann sieht er mich fragend an. Von seinem Blick aufgeweckt, betrachte auch ich die tätowierte, halbnackte Frau mit dem Totenkopf auf dem Hals, deren Brüste durch eine Bierflasche versteckt sind. Der Slogan lautet: »Endlich mal Werbung ohne nackte Haut«. Ich gefalle mir auf diesem Foto wirklich ganz gut.
»Bist du das?«
»Hier bitte links«, erinnere ich meinen aufmerksamen Fahrer an der Kreuzung, die er vor lauter Schreck fast überfahren hätte. Kaum um die Ecke gebogen, sind wir auch schon am Ziel angekommen. Ich bezahle bar und gebe auch ein paar Euro Trinkgeld. Nur, um ihn noch mehr zu irritieren, ich asoziales Ding.
»Kann ich vielleicht ein Autogramm bekommen?«, fragt er schüchtern, als ich gerade die Tür zuschlagen will.
»Bin leider schon zu spät dran. Aber du kannst ja jederzeit vorbeikommen. Weißt ja jetzt, wo ich arbeite. Kostet allerdings sechzig Euro Eintritt.« Den letzten Satz konnte ich mir nicht verkneifen.
Als ich zehn Minuten später hinter dem Tresen stehe und mich im Spiegel zwischen all den nackten Menschen sehe, muss ich grinsen. Irgendwie schon komisch, wie ich, ein schüchternes Mädchen aus der Steiermark, hier im Swingerclub gelandet bin. Und was ich hier schon alles erlebt habe, glaubt mir vermutlich kein Mensch. Ich finde, es ist höchste Zeit, genau das zu erzählen.
Thorsten,
der Wichser
»Hey Sandra, bekomm ich noch eine Apfelsaftschorle?«
Ich nicke freundlich, nehme sein Glas entgegen und fülle es wieder auf. Darf ich vorstellen: Thorsten, der Wichser. So nennen wir ihn hier unter uns Kollegen. Er ist Stammgast, kommt mindestens dreimal die Woche und immer allein hierher. Montags zu »Sexy im String«, donnerstags zu »Gangbang « und jeden Samstag zu »Swingernight«. Wie jeder Mann zahlt er sechzig Euro Eintritt. Gern auch mit EC-Karte. Und nein, keine Sorge, auf dem Kontoauszug steht nicht »Swingerclub «, sondern unauffällige Zahlen- und Buchstabenkombinationen. Nichts Verdächtiges, das die unwissende Ehefrau irritieren könnte. Für diese sechzig Euro darf Thorsten dann zwölf Stunden bleiben und so viel trinken und essen, wie er möchte. Alkohol wie auch nicht alkoholische Kalt- und Warmgetränke sind inklusive. Eigentlich alles außer Champagner. Der kostet extra. Unsere Speisenauswahl ist ebenso reichlich, wenn auch keine Gourmetküche. Donnerstags gibt es immer Frühstück mit B rötchen und M üsli, gegen Mittag gekochte E ier, Nudeln mit Fleisch, kalte Schnitzel, Buletten, K artoffelsalat, ein bisschen O bst und was Süßes wie Donuts, Muffins oder Milchreis zum Dessert. Am Wochenende gibt es Salate, kalte Wurst- und Käseplatten, Gemüsetarte, Spaghetti Bolognese und immer eine Suppe. Bevorzugt Kartoffelsuppe. Eben typisch deutsche Hausmannskost. Alles viel zu fettig und zu schwer, um danach Sex zu haben. Aber Sex gibt es hier natürlich auch, insofern willige Partner oder Partnerinnen vor Ort sind. Falls nicht, kann man sich auch anders betätigen. Zum Beispiel allein sexuell aktiv werden. Und genau das tut Thorsten, der Wichser, dann auch. Er trinkt literweise Apfelsaftschorle, setzt sich in eine Ecke und tut das, was er am besten kann: wichsen.
Nun könnte man annehmen, dass Thorsten dabei zumindest andere Gäste beobachten würde, denn warum sollte er sonst sechzig Euro Eintritt bezahlen, um in einem Swingerclub zu masturbieren? Doch Thorsten, der Wichser, wartet nicht auf andere Gäste. Er wichst immer und ausschließlich allein vor dem Computer, der zur freien Benutzung in einer dunklen Ecke steht. Während er Pornos schaut oder mit Webcam-Girls chattet, holt er sich permanent einen runter.
Lange Zeit habe ich das nicht verstanden. Schließlich hat fast jeder mittlerweile zu Hause einen Internetanschluss und müsste daher keine sechzig Euro bezahlen, um unter Beobachtung zu masturbieren – Beobachtung, auf die Thorsten noch dazu keinen besonderen Wert zu legen scheint.
Meine Kolleginnen vermuten, dass Thorsten, der Wichser, zu Hause einfach nicht im Netz surfen kann oder darf. Vielleicht hat er eine Gattin, die ihren Mann nicht in Ruhe Pornos schauen lässt. Denn, soweit wir herausfinden konnten, kommt Thorsten aus einem mehr als gutbürgerlichen Milieu. Er ist ein angesehener Arzt und zugegeben, bis auf die verstörende Tatsache, dass er die ganze Zeit masturbiert, ein richtig netter Kerl. Er ist superfreundlich, zurückhaltend, gepflegt und trinkt niemals Alkohol, trotz Flatrate.
Anfangs, als ich vor zweieinhalb Jahren angefangen habe hier zu arbeiten, ekelte ich mich ziemlich vor Thorsten. So wie auch vor allen anderen Gästen. Aber inzwischen weiß ich, dass Thorsten noch einer der Harmlosesten ist. Mein Ekel wich mit der Zeit Befremdlichkeit und inzwischen freue ich mich sogar ein bisschen, wenn ich zu meiner Schicht antrete und Thorsten wichsen sehe. Dieser Mann gehört fast schon zur Einrichtung mit dazu – ein Mann, der entweder einfach nicht allein masturbieren will oder kann. Ob das nun an der Frau Gemahlin oder an einer schlechten Breitbandverbindung liegt, konnte ich noch nicht herausfinden. Und will ich auch nicht. Denn hier herrscht Anonymität. Das gilt für Gäste wie auch für Angestellte. Und das ist auch gut so.
Das Beste an Thorsten, dem Wichser, ist, dass er im Gegensatz zu fast allen anderen sein Sperma selbst wegwischt. Dazu hat er immer einen kleinen Lappen bei sich, in einer Bauchtasche, die er sich um beziehungsweise unter den Bauch geschnallt hat, der wiederum über das knappe Lederhöschen hängt. Das ist Thorstens Outfit. Lederunterhose mit Eingriff, Bauchtasche mit Wichslappen und Schlappen. Funktionell und dennoch gemütlich. Genau richtig für den Aufenthalt in einem Swingerclub.
»Sandra! Machst du mir noch eine?«
Ich muss schmunzeln, denn dieser Laden ist vermutlich der einzige Ort, an dem ich noch auf den Namen Sandra reagiere – hier und bei meinen Eltern zu Hause in Österreich. Der Gedanke, dass meine Eltern und Thorsten, der Wichser, eine Gemeinsamkeit haben, sorgt für ein Grinsen in meinem Gesicht. Wenn die wüssten! Aber natürlich wissen sie das nicht. Denn, dass ich im Swingerclub arbeite, habe ich meinen Eltern nie erzählt. Schließlich habe ich diesen Job damals auch nur vorübergehend angenommen, bis ich etwas Richtiges finden würde. Aber als ich das entschieden habe, kannte ich Berlin noch nicht gut genug. Damals wusste ich noch nicht, dass »vorübergehend« in dieser Stadt der Träume und Selbstverwirklichung sehr lange sein kann und »etwas Richtiges« einfach reine Ansichtssache ist.
Was ich allerdings schon immer wusste, war, dass sich der Name Sandra Müller für mich irgendwie falsch anfühlte.