Читать книгу Mein wildes Leben zwischen Laufsteg und Swingerclub - Christiane Hagn - Страница 7

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WARUM SO WÜTEND? Tattoos: In Planung

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Das früh geborene Bedürfnis, meinen Körper selbst zu gestalten, stieß bei meiner Familie auf Unverständnis und Desinteresse, so wie eigentlich alles, wofür ich mich begeisterte. Meiner Schwester war relativ egal, was ich den ganzen Tag trieb. Obwohl wir uns lange Zeit ein Zimmer teilen mussten oder vielleicht gerade deshalb, entfernten wir uns mehr und mehr voneinander und als wir schließlich jede ein eigenes Zimmer bekamen, gab es plötzlich gar keinen Grund mehr, miteinander in Kontakt zu treten.

Ehrlich gesagt war ich ziemlich eifersüchtig auf meine Schwester. Ich hatte immer das Gefühl, sie würde bevorzugt behandelt und mehr geliebt werden als ich. Ob das wirklich so war, weiß ich nicht, aber was ich wusste, war, dass ich fast jeden zweiten Tag mindestens eine Ohrfeige von meiner Mutter kassierte, gern auch mal zwei oder den Kochlöffel auf den Po. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie jemals die Hand gegen meine Schwester erhoben hätte. Bestimmt lag das auch daran, dass meine Schwester nun mal ihre Hausaufgaben machte, anstatt nackte Frauen in Zeitungen, Designermöbel, Haustiere oder sich selbst anzumalen. Trotzdem fand ich das ungerecht. Ich war so furchtbar enttäuscht, dass sich meine ältere Schwester nicht für mich einsetzte. Sie müsste mich doch eigentlich beschützen. Ich fand es schon schlimm genug, dass sie mich auf dem Pausenhof ignorierte, aber als die Handgreiflichkeiten zu Hause zunahmen und sie sich nicht für mich stark machte, verstand ich gar nichts mehr. Es schien ihr egal zu sein, dass ich Prügel bezog. Diese für mich zum Himmel stinkende Ungerechtigkeit machte mich vor allem eines: hilflos und damit sehr wütend. Meine Pausenhofschlägereien, die mir als Ventil dienten, meine Aggressionen loszuwerden, nahmen zu. Außerdem fing ich an, grundsätzlich alles, was meine Schwester mochte, abzulehnen. Sie mochte Schinken, also hasste ich Schinken und aß, bis ich 16 Jahre alt war, keinen mehr. Leider mochte meine Schwester auch Pilze und Fisch und während meine Speiseauswahl so immer weiter schrumpfte, nahm meine Wut zu. Meine Schwester durfte sich die Lippen schminken und einen Büstenhalter tragen. Wurde ich dagegen im BH und den Stöckelschuhen meiner Mutter vor dem Spiegel erwischt, gab es gleich wieder den Kochlöffel. Dabei verkleidete ich mich einfach nur gern. Die Idee, jemand anderes zu sein, gefiel mir. Am liebsten wollte ich schnell erwachsen sein. Ich wusste zwar nicht genau, was das bedeutete, aber ich wusste, dass erwachsene Menschen sich meist besser wehren und eigene Entscheidungen treffen konnten. Und dass sie nicht mit dem Kochlöffel geschlagen wurden.

In dem seltenen Fall, dass meine Schwester und ich zusammen etwas angestellt hatten, wurde ich einfach für zwei bestraft. Ich hätte sie schließlich angestiftet, hieß es, und meine Rolle als Anstifterin und Sündenbock trug schließlich dazu bei, dass ich mich immer mehr von meiner Schwester und auch von allen anderen Menschen distanzierte.

Ich nahm mir vor, meine Schwester und meine Mutter zu hassen, niemals so zu werden wie sie. Ich wollte mich von ihnen abheben, wollte etwas Besonderes sein. Um jeden Preis. So wie die bunte Frau, die ich im Fernsehen gesehen hatte.

Da man mir zu Hause meist keinen Glauben schenkte, tat ich schon bald nur noch das, worauf ich Lust hatte. Und Lust hatte ich auf alles, was meine Schwester nicht interessierte: auf Verbotenes. Ich fing früh an, heimlich zu rauchen, auszugehen und mich für das andere Geschlecht zu interessieren. Mit 14 begann daher meine wilde Zeit.

Schon bald hatten meine Freundin Stefanie, die Pferdefresse, und ich eine Stammkneipe: das Rossini. Dort verliebte ich mich zum ersten Mal. Er hieß Danny und war in meinen Augen total cool. Ich war 14, Danny schon 17 und machte gerade seinen Führerschein. Danny und ich tranken Whiskey- Cola, spielten Darts, Billard und knutschten auf der Toilette. Dabei war Danny nicht nur cool, weil er älter und auch noch Skater war, sondern vor allem, weil er ein echtes Tattoo hatte. Ein Skateboard auf dem Oberarm. Ich war sofort hin und weg. Doch bereits nach den ersten vier verliebten Wochen änderte sich das.

Es war ein warmer erster Frühlingstag, Danny kam zum ersten Mal mit kurzen Hosen ins Rossini. Als ich seine total behaarten Beine sah, fand ich das so eklig, dass ich sofort Schluss machte, unter dem feigen Vorwand, meine Mutter hätte mir verboten, ihn zu treffen. Natürlich hatte meine Mutter von Danny überhaupt keine Ahnung, auch nicht von meiner Leidenschaft für Whiskey-Cola und Zigaretten. Aber ich war mir sicher, hätte sie davon gewusst, wäre sie bestimmt dagegen gewesen.

Stefanie gratulierte mir zu dem mutigen Schritt zurück ins Singleleben. Sie fand Dannys Beinbehaarung auch ekelhaft. Umso verwunderter war ich, als sie eine Woche später mit Danny auf der Toilette knutschte und mich in der Schule plötzlich nicht mehr kannte.

Stefanie war die Pubertät gut bekommen, die an mir, bis auf den einen oder anderen Pickel, fast spurlos vorübergegangen war. Während sich bei der großen und schlanken Stefanie mit 14 Jahren schon deutlich Brüste abzeichneten, wollte bei mir außer den Pickeln einfach nichts sprießen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich wenigstens kein Pferdegesicht hatte und irgendwann einen außergewöhnlichen, bunten Körper haben würde.

Leider half dieser Traum nicht dabei, meine familiäre Situation zu entspannen. Meine Schulnoten hatten sich zwar irgendwo im Bereich befriedigend eingependelt, aber meine neu entdeckte Leidenschaft für Männer, Bars, Alkohol und Zigaretten machten meiner Mutter ordentlich zu schaffen. Denn schon bald roch sie den Braten, oder besser gesagt: den Zigarettenrauch trotz Dunstabzugshaube. Als ich damit aufflog, flippte sie ziemlich aus. »Das Kind gerät auf die falsche Bahn!«, oder »Was sollen da die Nachbarn sagen?«, waren ihre größten Bedenken. Und wer nicht hören will, musste eben fühlen. Also ließ sie ihren Frust an mir aus und ich gab den meinen weiter an Mitschüler und bald auch an meine Schwester. Meine Schwester, die immer alles richtig machte, die natürlich nie zurückschlug, die keinen Alkohol trank und schon nach zwei Rumkugeln betrunken war.

Handgreiflichkeiten standen zu jener Zeit bei uns zu Hause an der Tagesordnung. Wenn das die Nachbarn wüssten!

Mein Vater versuchte, so gut es ging, sich wie immer aus allem rauszuhalten. Als technischer Leiter für einen großen Konzern arbeitete er rund um die Uhr. Er war wohl das, was man einen erfolgreichen Geschäftsmann nennen würde. Für mich war er aber vor allem eines: nicht da. Selbst wenn er anwesend war, zog er es vor, dass seine Frauen »ihre Problemchen « untereinander klären sollten. Meine Mutter sah das anders. Sie hatte längst keine Lust mehr, sich mit mir, dem verhaltensauffälligen Problemkind, auseinanderzusetzen und schickte mich mit 14 Jahren zum Psychologen. Sollte der sich doch mit mir rumschlagen, mich richten.

Aber durch diese Rechnung, so nahm ich mir damals vor, würde ich ihr einen gewaltigen Strich machen. Ich ging genau einmal dorthin.

Die Praxis der Psychologin war in einem grauen Hochhaus am Stadtrand. Zuerst musste ich in dem kleinen Warteraum Platz nehmen, der komplett in weiß gehalten war. Eine ziemlich lieblose und unterkühlte Atmosphäre, gerade für die Praxis einer Kinderpsychologin. An der weißen Wand hing ein einziges kleines Bild. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was darauf zu sehen war, aber ich weiß noch, dass es mich furchtbar traurig machte, so einsam und verloren wie es an dieser Wand hing. Kurzerhand nahm ich es ab. Als ich gerade darüber nachdachte, ob ich die sterilen Wände mit Buntstiften verzieren sollte, kam ich an die Reihe.

In der ersten Sitzung musste ich mich eine Stunde lang an einen Computer setzen und Fragen beantworten. So etwas wie: »Bist du oft wütend?« Klares Ja. Das Fragensystem ließ sich noch aushalten, aber als ich im Anschluss dieser Frau, mit derselben Ausstrahlung wie ihr Wartezimmer, gegenübersaß, hatte ich schnell die Schnauze voll. Wieso musste ich zum Psycho-Doktor, wenn meine Mutter mich schlug? Wieso nicht sie? Wieso war immer nur ich das Problem?

Ich wünschte, meine Mutter hätte sich nur einmal bei mir entschuldigt oder gesagt, dass sie sich mit mir völlig überfordert und allein gelassen fühlte. Aber stattdessen musste ich alles allein ausbaden, dort in diesem Betonklotz, vor dieser fremden, kalten Frau.

Ich schämte mich, fühlte mich derart unverstanden und ungerecht behandelt, dass ich nach wenigen Minuten jegliche Antworten verweigerte. Anschließend ging ich nach Hause und sagte zu meiner Mutter: »Wenn du mich da noch einmal hinschickst, dann erzähl ich den Nachbarn und Lehrern, dass du mich schlägst.« Daraufhin haute sie mir eine rein und das Thema Psychologe war erledigt. Ein für alle Mal.

Ich zog mich innerlich und äußerlich weiter zurück und versuchte, meine Familie so wenig wie möglich an meinem Leben teilhaben zu lassen. Mein großer Traum war es, sehr früh von zu Hause auszuziehen, um dieser gutbürgerlichen Hölle zu entfliehen.

Als ich 16 Jahre alt wurde, änderte sich dann gleich einiges in meinem Leben. Zuerst verlor ich meine Jungfräulichkeit, und zwar mit Paul Pichler, genau so, wie ich es geplant hatte. Na ja, zugegeben, vielleicht nicht genau so. Es hätte nicht nach einer Party auf dem Fahrersitz eines roten BMW Kombis passieren müssen. Aber mit Paul schon. Er war 21 und ich, Sandra Müller, war so Hals über Kopf in Paul Pichler verschossen, dass ich schon überlegte, ob mir der Name Sandra Pichler gefallen könnte. Paul war Straßenarbeiter und spielte als Schlagzeuger in einer Band. Meistens war er bekifft, aber das störte mich nicht, denn ich fand seinen Schlafzimmerblick total sexy. Paul hatte lange Haare, trug immer ein Basecap und nannte mich »Baby«. Das fand ich heiß, vermutlich weil ich es aus »Dirty Dancing« kannte. Aber andererseits fand ich alles heiß, was Paul sagte oder machte, mit Ausnahme der Nummer im Kombi. Die war alles andere als heiß und das lag nicht nur an den Außentemperaturen, die weit unter null lagen.

Ich erinnere mich, dass »Cruisen« von Massive Töne lief, während Paul an mir rumfummelte. Zum ersten Mal sah ich einen echten Penis aus nächster Nähe, dessen Anblick mich völlig verstörte. Noch viel verstörter wurde ich, als Paul mich dann auch noch mit einem dezenten, aber direkten Griff an meinen Kopf aufforderte, dieses Ding in den Mund zu nehmen. Ich weigerte mich mit einem Kopfschütteln und sah Paul dabei zu, wie er sich den Penis selbst steif rieb. Als es dann tatsächlich losging, war ich völlig unterkühlt und damit alles andere als in Stimmung. Ich ließ alles einfach nur geschehen. Das war das erste und einzige Mal, dass ich wirklich einem Text von Massive Töne zuhörte: »Mit zweihundert PS nehm ich jede Puppe genau unter die Lupe. Ist sie prüde, öl ich ihr Getriebe, mit viel Liebe. Ich zeig ihr meine Einspritzpumpe, weich nie ab von der Route und drehe noch ne Runde. « Ich lauschte den Tönen, um mich von den Schmerzen abzulenken, und Paul rammelte weiter. Aus meiner Lethargie erwachte ich erst, als jemand am Autofenster klopfte, nach einer Zigarette fragte und Paul auch noch völlig selbstverständlich das Fenster runterkurbelte. Ich habe mich furchtbar geschämt. Eigentlich dachte ich, als wir in dieses Auto stiegen, dass wir zu Paul nach Hause fahren würden. Dass wir ein paar Kerzen anzünden und schöne Musik einlegen würden, bevor wir nach einem zärtlichen, langen Vorspiel Liebe machen würden.

»Können wir nicht zu dir gehen?«, fragte ich schüchtern, als Paul wieder volle Fahrt aufnahm.

»Später Baby!«, stöhnte Paul und kam.

Immerhin hatte es nicht allzu lange gedauert. Als Paul keuchend über mir zusammensackte, kramte ich schon nach meinen Zigaretten in der Handtasche. Paul fand, es wäre wirklich »geil« gewesen, bis er den riesigen Blutfleck auf seinem Autositz entdeckte. Das wiederum fand er dann gar nicht mehr so geil. Sein völlig entgeisterter und etwas angewiderter Blick war mir so furchtbar peinlich, also behauptete ich kurzerhand, dass ich wohl meine Tage bekommen hätte.

»Ist ja widerlich!«, sagte Paul und ich wollte ganz plötzlich nicht mehr Sandra Pichler heißen. Wir fuhren an diesem Abend nicht mehr zu Paul. Und auch später nicht mehr.

Das erste Mal war mehr als enttäuschend und ich war mir sicher, von Sex bestimmt für die nächsten Jahre, vielleicht sogar bis zum Ende meines Lebens, genug zu haben. Von nun an, so nahm ich mir an diesem Tag vor, werden alle Herausforderungen im Leben allein gemeistert. Ich wollte mich fernhalten von Freundinnen, die sich meinen Freund trotz starker Beinbehaarung schnappten, von Männern, die mich hinter dem Lenkrad blutig bumsten, von einer Familie, die nichts mit mir gemeinsam zu haben schien, außer eines schrecklich faden Nachnamens.

Ich wollte von jetzt an alles allein entscheiden und allein schaffen. Und endlich meinen Traum ins Rollen bringen. Es war Zeit für mein erstes Tattoo.

Mein wildes Leben zwischen Laufsteg und Swingerclub

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