Читать книгу Mein wildes Leben zwischen Laufsteg und Swingerclub - Christiane Hagn - Страница 9
3.
DREIFALTIGKEIT Tattoos: Sonne über dem Steißbein; Tribal auf der linken Pulsader; Tribal auf der rechten Rippe; drei Sterne am rechten Handgelenk; Om-Zeichen auf dem rechten Fußrücken; Tribal auf der Innenseite rechter Oberarm
ОглавлениеNach der Misere mit Paul Pichler hatte ich von Männern erst mal genug. Mein erstes Tattoo, so viel stand fest, sollte daher unbedingt von einer Frau gestochen werden. Ich hatte Glück, denn in Leibnitz gab es nur ein Tattoostudio, ohne Konkurrenz, betrieben von einer Frau. Kurzerhand schwänzte ich den Unterricht und suchte das Studio auf. Die Tätowiererin, Frau Eva-Maria Wallner, war Mitte vierzig und eine wahnsinnig sympathische Frau. Auf ihre Frage, was ich mir denn tätowieren lassen wollte, wusste ich keine konkrete Antwort, nur dass es passieren musste, und zwar schnell. Denn, so erklärte ich ihr, es wäre nun an der Zeit, meine eigenen Träume nicht nur zu träumen, sondern auch zu realisieren. Sie schmunzelte und fragte, ob ich denn eine ungefähre Vorstellung hätte, wie viel es kosten dürfte, und davon hatte ich in der Tat eine sehr genaue Vorstellung. Schließlich hatte ich mir ein Budget von ganz genau 150 Euro aus Taschengeld, Weihnachtsgeld und Geburtstagsgeld mühsam zusammengespart.
Frau Wallner zeigte sich geduldig, bat mich, Platz zu nehmen, und legte mir eine Mappe mit Motivvorschlägen samt Preisen vor. Genau nach diesem Kriterium habe ich mich dann auch entschieden. Unter den 150-Euro-Motiven gab es eine Sonne, die sollte es werden, und zwar über dem Steißbein. Das war der ideale Platz auf meinem Körper, da ich ihn problemlos bedecken und somit geheim halten konnte. Zu meiner großen Enttäuschung legte Frau Wallner nicht sofort los. Stattdessen musste ich mich auf eine Warteliste setzen lassen. Da sonst niemand im Laden war, nahm ich an, Frau Wallner lege Wert darauf, dass ich über diese folgenschwere Entscheidung besser noch ein Mal schlafe. Doch in jener Nacht tat ich kein Auge zu, wälzte mich hin und her und konnte es kaum erwarten, endlich die surrende Tattoonadel auf meiner Haut zu spüren. Allein der Gedanke daran war der reinste Adrenalinschub. Zum Glück wurde ich schon am nächsten Tag von der Warterei erlöst. Als das Telefon klingelte, sprintete ich wie eine Verrückte los, um vor meiner Mutter am Apparat zu sein. Tatsächlich war Frau Wallner in der Leitung: »Ich habe heute spontan einen Termin für dich. Möchtest du noch die Sonne?«
Und wie ich die wollte! Ich machte mich sofort auf den Weg. Meiner Mutter erzählte ich, ich würde zum Nachhilfeunterricht gehen. Ihr Blick verriet, dass sie mir kein Wort glaubte, aber ich war schon aus der Tür, bevor sie den Mund hätte aufmachen oder die Hand erheben können. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass ich diese Tätowierung haben wollte. Meine einzige Sorge galt den Schmerzen. Ich war seit jeher eine wehleidige Heulsuse und alles andere als ein Indianer. Schmerz und ich standen auf Kriegsfuß.
Als ich bei Frau Wallner ankam, wollte sie wissen, ob ich denn keine Freundin mitgebracht hätte. Ich schüttelte den Kopf und legte die gefälschte Einverständniserklärung meiner Eltern vor. Unterschriften fälschen war eine meiner leichtesten Übungen. Dann ging es los. Das Tätowieren an sich hat nur knappe zwei Stunden gedauert und mich sehr überrascht. Anstatt unerträglicher Schmerzen verspürte ich vielmehr ein Brennen, was zwar nicht gerade angenehm war, aber auszuhalten. Beim Zahnarzt tat es meist mehr weh. Und als ich das fertige Kunstwerk über meinem Steißbein bewunderte, waren alle Schmerzen vergessen und ich der glücklichste Mensch auf der Welt. Auch die nächsten Tage stand ich in meinem abgeschlossenen Zimmer ständig vor dem Spiegel und bewunderte die Sonne auf meinem Körper. Ich konnte kaum fassen, dass diese auch nach dem Duschen immer noch an derselben Stelle war. Ich war wahnsinnig stolz, so stolz, dass ich meine Tätowierung zwar vor meiner Familie geheim hielt, aber ansonsten keine Möglichkeit ausließ, sie herzuzeigen. Natürlich ganz beiläufig. Anstatt mich wie sonst nach dem Sportunterricht in einer Ecke zurückgezogen umzuziehen, ließ ich nun sichtbar die Hüllen fallen und kramte ewig lange nach einem frischen T-Shirt. Während mir zuvor niemand Beachtung schenkte, ich bei Fachgesprächen über den richtigen BH bewusst nicht miteinbezogen wurde, staunten die anderen Mädels nun nicht schlecht, als sie meine Tätowierung sahen.
»Ist die echt?«
»Tat das weh?«,
»Wissen deine Eltern davon?«
Ich wurde mit Fragen geradezu durchlöchert und hatte zum ersten Mal das Gefühl dazuzugehören, respektiert und vielleicht sogar beneidet zu werden. Ich war selbst verblüfft, wie so eine kleine Zeichnung mein Selbstbewusstsein stärken konnte. Vermutlich war es nicht die Tätowierung an sich. Ich war stolz, dass ich etwas geschafft hatte, das ich mir schon so lange vorgenommen hatte. Damit war ein Anfang gemacht, mein Traum ins Rollen gebracht. Und ich, ich hatte Blut geleckt. Ich wollte mehr. Unbedingt.
Von der Sonne erzählte ich meinen Eltern nichts. Nur von einer weiteren wichtigen Entscheidung, die ich in dieser Zeit traf. Diese fällte ich, als ich mal wieder als einziges Mädchen in der »Laptop-Klasse« saß. Ich arbeitete wie immer allein an einem Computer, weil die Nerds um mich herum es uncool fanden, mit »dem Mädchen« zu arbeiten. Als uns der Lehrer aufforderte, uns in Zweiergruppen zusammenzusetzen und sich ausgerechnet Phillip mit den Hamsterbacken neben mich setzen sollte, sagte er: »Neben die? Die hat ’nen IQ so hoch wie eine Teppichkante!« Die Klasse brach in Lachen aus. Ich stand auf, knallte der Hamsterbacke eine und verließ das Klassenzimmer mit dem Vorsatz, es nie wieder zu betreten.
Zu Hause angekommen teilte ich diese Information auch meinen Eltern mit. Ich sagte, dass ich die Schule abbrechen und eine Lehre beginnen würde. »Ich will Geld verdienen und hier endlich ausziehen!«
Meine Mutter schmierte mir eine und ich sperrte mich die nächsten zwei Tage in meinem Zimmer ein.
In dieser Zeit der Zwangsklausur schmiedete und perfektionierte ich meinen Plan. Ich wusste, dass meine Eltern es nie zulassen würden, dass ich die Schule schmiss. Denn was würden da die Nachbarn sagen? Da ich aber eh schon einmal sitzen geblieben war, nahm ich mir vor, einfach noch ein zweites Mal sitzen zu bleiben, denn bei einer zweiten Ehrenrunde in derselben Jahrgangsstufe müsste ich die Schule gezwungenermaßen verlassen. Nichts leichter als das! Die Idee gefiel mir sehr gut. Mit der kleinen Einschränkung, dass ich den Rest des Schuljahres noch durchhalten musste, verließ ich also nach zwei Tagen mein Zimmer (auch, weil ich echt Hunger hatte) und ging stoisch weiterhin in den Unterricht.
Es lagen noch über sechs grausame Monate vor mir. Ich saß unregelmäßig und äußerst passiv auf meiner Schulbank, machte keine Hausaufgaben mehr und gab bei allen Tests leere oder einfach nur schön bemalte Blätter ab. Ich versteckte mich auf der Schultoilette, um heimlich zu rauchen, oder schwänzte den Unterricht komplett. Dazu schrieb ich mir selbst Entschuldigungen mit gefälschter Unterschrift meiner Eltern und ausgedachten Krankheitsdiagnosen wie »Bore Out«. Meine freie Zeit, wovon ich ja jetzt genug hatte, nutzte ich wie immer sinnvoll. Zum Beispiel färbte ich mir ständig die Haare. Von lila über blau, orange bis zu schwarz. Hauptsache, ich konnte provozieren und sah anders aus als die anderen. Neben meinem aufwendigen Styling begann ich bald, auf der Zugtoilette versteckt nach Graz zu fahren. So sparte ich mir das Ticket und den Unterricht. Stattdessen verbrachte ich einen schönen Tag mit Bummeln, bevor ich pünktlich zum Schulschluss wieder zu Hause auftauchte. Kam ich zu spät, sagte ich einfach: »Ich musste nachsitzen.« Das klang für meine Mutter immer am realistischsten.
Bei einem dieser Stadtbummel entdeckte ich eine Ausschreibung auf einen Schüler-Nebenjob im Lager einer Schraubenfabrik. Ich bewarb mich, bekam den Job und fuhr regelmäßig nach der Schule mit dem Zug dorthin, um in der Technikabteilung einer riesigen Lagerhalle zu schuften. Meiner Mutter erzählte ich, dass ich mich im Schultheater angemeldet hätte und wir jeden Tag bis spät proben müssten. Vermutlich hat sie mir das nie abgenommen, doch solange mich nicht die Polizei nach Hause brachte, war ihr vermutlich egal, wie ich meine freie Zeit gestaltete. Anstatt den Sommernachtstraum auswendig zu lernen, habe ich stundenlang Schrauben sortiert, abgewogen, ihr Gewicht errechnet und Inventur gemacht. Das Geld, das ich verdiente, packte ich in meine Spardose. Die Zeit des Weggehens und Feierns war nun, in meinem 17. Lebensjahr, auch schon wieder vorbei. Ich hörte sogar auf zu rauchen, um noch mehr sparen zu können. Da soll einer noch mal behaupten, ich hätte keinen hohen IQ! Am Tag der Theateraufführung war ich übrigens ganz plötzlich furchtbar krank. Hohes Fieber. Leider.
Mein raffiniertes Geschäftsmodell ermöglichte mir noch während des letzten Schuljahres sechs weitere Tattoos bei der lieben Frau Wallner, die mir mehr und mehr ans Herz wuchs. Der Sonne folgte ein schwarzes Schriftzeichen auf der linken Pulsader, das ich geschickt mit einem Schweißband zu verstecken wusste. Einen Monat später träumte ich nachts von einem großen schwarzen Tribal, also einer Art Ornament mit schnörkeligem Muster, das ich über die Rippen nach oben gezogen trug. Ich stand sofort auf, zeichnete es in vielen Stunden aus meiner Erinnerung nach und legte es Frau Wallner vor. Vier Stunden später war ich um einen großen Teil nackter Haut ärmer und sehr viel glücklicher. Einen Monat später folgte mein erstes buntes Tattoo: drei Sterne in rot, gelb und grün am rechten Handgelenk. Von nun an trug ich Stulpen und, um meine Körperkunst vor meinen Eltern weiterhin geheim zu halten, auch bald keine offenen Schuhe mehr. Denn mein fünftes Tattoo war ein Om-Zeichen auf dem rechten Fußspann, zu jener Zeit eine sehr ungewöhnliche Stelle für ein Tattoo. Das Om hatte ich zum ersten Mal auf dem dritten Album von »Soulfly« entdeckt, meiner damals absoluten Lieblingsband. Ich recherchierte und verliebte mich sofort in die Bedeutung der Dreifaltigkeit: Geburt- Leben-Tod, Morgen-Tag-Nacht.
Die Tatsache, dass ich immer noch versuchte, zu Hause meine Tätowierungen geheim zu halten, beanspruchte mehr und mehr Zeit, Aufwand und Geschick. Badezimmer absperren, Stulpen und Schweißband anziehen, T-Shirt immer in die Hose, Socken nicht vergessen. Ich war zu einem echten Verkleidungsprofi geworden.
Das ganze Spiel flog erst auf, als mich meine Mutter eines Tages bei starkem Gewitter ausnahmsweise in die Schule fuhr. Beim Aussteigen blieb der Gurt an meinem T-Shirt hängen, zog es nach oben und entblößte die Sonne.
»Sandra? Was ist das auf deinem Rücken?«
»Wo?«
»Na, hier! Über dem Steißbein.«
»Nichts.«
»Sandra?«
»Ja?«
»Geht das wieder weg?«
»Gott sei Dank nicht!«
»Das seh ich anders.«
»Ich finde es schön.«
»Ich nicht.«
»Musst du auch nicht. Ist ja mein Rücken.«
Sie seufzte. »Das musst du selbst wissen.«
»Eben.«
Damals hat mich meine Mutter zum ersten Mal so richtig überrascht, denn das große Donnerwetter blieb aus. Und so gab ich nach und nach meine Verhüllungsstrategien auf. Unverständiges Kopfschütteln oder ein »So heiratet dich bestimmt keiner« von meinem Vater war alles, womit ich mich auseinandersetzen musste. Heute denke ich, dass meine Eltern längst resigniert hatten, was ihre Erziehungsversuche bei mir betraf. Ich für meinen Teil warf auch meine letzten Bedenken über Bord und entwarf ein buntes, in türkis und lila gehaltenes Tribal für die Innenseite meines rechten Oberarms. Frau Wallner war mehr als skeptisch. So große Tätowierungen in Farbe waren damals noch nicht üblich. Zumindest nicht in Leibnitz. Die Farbe könnte verblassen. Ich versicherte ihr, dass ich mir des Risikos bewusst wäre und es trotzdem genauso wollte. Groß und bunt. Bereut habe ich es nur einmal. Und zwar im Moment des Stechens. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Innenseite Oberarm so höllisch weh tut. Aber wie sagt man so schön? Wer schön sein will, muss leiden. Auch in Österreich.