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»SAG MAL, WURDE ICH SCHON DICK
GEBOREN?« Gewicht: 3.968 Gramm Gefühlslage: Suche neuen Schutzengel – meiner ist jetzt schon mit den Nerven am Ende!

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Schon meine ersten Erinnerungen an mein Leben sind mit Übergewicht verbunden. Allerdings ist das schwer nachzuprüfen, denn seltsamerweise existieren von mir so gut wie keine Kinderfotos. Nur vom Karneval – und da ging ich als Pilz, versteckt in einem für mich sehr vorteilhaften Ganzkörper-Schaumstoffkostüm. Mögliche Erklärungen für das mangelnde Bild-Beweismaterial über meine ersten Lebensjahre könnten folgende sein:

A) Paderborn wurde kurzfristig von außerirdischen Lebensformen besiedelt, die alle Kameras zwecks Fortpflanzungskatalogisierung entwendeten. (Ich glaube, unser Nachbarsjunge wurde in dieser Zeit geboren!)

B) Es gab einen Hausbrand, der alle zärtlichen fotografischen Erinnerungen an mich zerstört hat. Dabei gerieten vermutlich auch alle Kochbücher mit Rezepten für gesunde Mahlzeiten ins Feuer.

C) Meine Eltern waren so verliebt in ihr Speckbärchen, dass sie keine Zeit damit verschwendeten, überflüssiges Bildmaterial zu generieren.

Habe ich einen Telefonjoker? Ich glaube, ich will die Antwort besser nicht wissen …

Meine Karriere als »das etwas andere Kind« begann bereits mit drei Jahren. Mein damaliges Hauptnahrungsmittel: Biene-Maja-Eis bis zum Erbrechen. Leider auch einmal in den Cowboyhut meines Kindergartenkollegen, womit ich schon früh meinen einzigen Freund verlor. Jungs können so nachtragend sein! Nach diesem Kotz-Intermezzo (»Die Dicke hat sich überfressen!«) beschloss ich, einfach nie wieder in den Kindergarten zu gehen. Ja, ich hatte mit drei Jahren schon eine sehr eigene Vorstellung von meiner Karriereplanung. Und der Kindergarten gehörte von da an nicht mehr dazu. Die freie Zeit, die ich dadurch gewann, nutzte ich sinnvoll. Nämlich dazu, meine Oma an der Küchenzeile festzubinden und sie mit Kindertränen zu zwingen, ununterbrochen Vanillepudding für mich zu kochen. Mit Schokosoße – ist doch klar!

Aber diese selbst gewählte Freizeitgestaltung und damit einhergehende Ernährungsumstellung zeigte rasend schnell Wirkung. Als der Schlüpfer im Sommer immer enger wurde, entledigte ich mich seiner einfach. Es ließ sich auch wunderbar nackt durch den Garten flitzen und im Sandkasten buddeln. Daran konnte ich nichts Außergewöhnliches finden, schließlich hatte ich seit meinem selbst gewählten Kindergartenaustritt keinen Kontakt und damit auch keinen Vergleich zu anderen, gleichaltrigen Kindern mehr. Und so war die Zeit zwischen meinem dritten und fünften Lebensjahr vermutlich meine glücklichste, da unbeschwerteste. Keine gemeinen Kinder, kein Mobbing. Nur ich und meine Pudding kochende Omi. Was für ein Schlaraffenland!

Doch mit den Brüsten kam das Schamgefühl. Denn dieses Paradies wurde jäh zerstört, als die Nachbarskinder begannen, mir aufzulauern, um mich kichernd in meine kleinen Specktittchen zu kneifen. Sie wunderten sich arg, warum sie so etwas nicht hatten – wo sie doch älter waren als ich, die kleine, dicke fünfjährige Stevani. Ja, ja, die Welt kann so ungerecht sein. Immerhin konnte ich sie zum Lachen bringen. Positiv denken lernte ich schon früh.

Irgendwann wurde auch meinen Eltern klar, dass sie mich nicht für immer im Garten oder in Pilzkostümen verstecken konnten. Ich war fast sechs Jahre alt und die Einschulung stand unmittelbar bevor. Also beschlossen sie, mich noch schnell auf Kur zu schicken. Vielleicht verliert die kleine Stevani ja dort noch ein bis zehn Kilo, bevor es losgeht.

Wie es sich für ein ungeselliges, übergewichtiges fünf Jahre altes Mädchen anfühlt, für ein paar Wochen allein von zu Hause weg­geschickt zu werden, darüber haben sich meine Eltern wohl keine Gedanken gemacht. Ich fühlte mich wie Gretel, die in den Wald geschickt wurde. Nur ohne Hänsel. Und ohne Brotkrumen – die hätte ich bestimmt selbst gegessen. Noch dazu war ich so dick, dass mich die böse Hexe bestimmt sofort in ihren Ofen gesteckt hätte. Lecker Speck-kind! Ob ich mir noch ein dünnes Holzstöckchen hätte einstecken sollen? Survival-Tricks à la Gebrüder Grimm …

Besonders schwer fiel es mir in dieser Zeit, mich von meinem Opa zu verabschieden. Denn ich war ein absolutes Opakind, wie die Verwandtschaft immer betonte. Und da hatten sie ausnahmsweise mal recht: Ich vergötterte meinen Opa. Und irgendwie ahnte ich wohl, dass es ihm nicht gut ging. Ich wollte unbedingt zu Hause bleiben, bei Opa! Aber meine Eltern waren unerbittlich. Sie waren sich zum ersten und vermutlich auch zum letzten Mal wirklich einig: Stevani muss an die Nordsee! Ausgerechnet die Nordsee! Ich bekomme heute noch Depressionen, wenn ich mir bei Nordsee nur ein Fischbrötchen hole.

Meine Abspeckkur war das reinste Desaster. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Höllenängste (vor allem wegen der bösen Hexe) und noch dazu schreckliches Heimweh und Sehnsucht nach Opi. Ich vermisste es, mit ihm durch den Garten zu flitzen (okay, er flitzte, ich rollte), Unkraut zu jäten und Bohnen zu pflanzen. Mein Opa liebte seinen Garten und brachte mir alles bei, was ich heute über Gartenarbeit weiß. Auch, dass man bereits geernteten und gewaschenen Spinat nicht wieder im Sandkasten eingräbt. Ich wollte so schnell wie möglich zurück, um zu sehen, ob aus den vergrabenen Apfelkernen tatsächlich ein Bäumchen geworden war.

Aber ich konnte nicht weg. Ich saß fest. Und das Einzige, was mich bis dahin immer hatte trösten können, gab es nicht: leckeres Essen. Zum Frühstück bekam ich Salzwasser und Pfefferminztee (würg). Erst wenn das restlos ausgetrunken (oder unauffällig in die Topfpflanzen geschüttet) war, gab es »Frühstück«. Und was man da unter Frühstück verstand, hatte nichts mit den Lebensmitteln zu tun, die ich kannte. Es gab Grünzeug und Vollkornbrot. Da hätte ich ja noch lieber Weinbergschnecken gegessen.

Natürlich war ich, wie immer, die Außenseiterin und meine ungeschickten Versuche, mich mit den anderen Kindern anzufreunden, endeten oft damit, dass irgendwer heulte. Meistens nicht ich, aber Schuld hatte ich immer. Mir fehlte einfach die Übung, was soziale Kontakte betraf, und gegen Geld Spielsachen zu verleihen, führte nicht gerade zu Freundschaftsangeboten.

Ich war sozial inkompetent, hungrig, ängstlich, einsam, traurig und wütend, wurde krank und bekam hohes Fieber. Die Betreuer schickten mich nach nur zehn Tagen wieder nach Hause. Ihre Begründung: Heimweh. Das hätten wir wirklich abkürzen können.

Zu Hause angekommen, war mir klar, warum ich so dringend von der Bildfläche hatte verschwinden sollen. Man hatte geahnt, dass Opas letztes Stündlein bald schlagen würde. Ich kam zu spät und war um die Chance betrogen worden, mich von meinem geliebten Opa verabschieden zu können. Er starb mit nur 63 Jahren nach drei Herzinfarkten. Und für mich ging damit nicht nur der bis dahin wichtigste Mensch aus meinem Leben, sondern auch eine wesentliche Informationsquelle verloren, die ich später gern zu verschiedenen Themen befragt hätte, wie zum Beispiel: »Du, Opa, ist Papa wirklich das Kind der Krankenschwester?«

Wenn mich jemand sucht - ich bin im Kühlschrank!

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