Читать книгу Wenn mich jemand sucht - ich bin im Kühlschrank! - Christiane Hagn - Страница 5

WAS MICH NICHT UMBRINGT,
FRESS ICH AUF! Gewicht: 28 Kilo Gefühlslage: Erwachsen werden? Ohne mich!

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Mit sechs Jahren war es vorbei, ob ich wollte oder nicht. Ich musste raus an die Front, weg vom heimischen Vanillepuddingherd. Ich wurde eingeschult. Stephanus-Grundschule Paderborn. Erstaunlich, aber dieses Ereignis lief ohne Zwischenfall ab. Vielleicht weil an diesem Tag ein anderes Kind die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog, als es sich vor Aufregung in die Hose pinkelte. Vielleicht aber blieb ich auch nur deshalb an diesem einen Tag unbemerkt und damit verschont, weil ich mich erfolgreich hinter meiner überdimensional großen Schultüte (prall gefüllt mit Süßigkeiten) versteckte und einen karierten Pullover trug. So kam wenigstens niemand auf die Idee, mich für einen Wal zu halten und wieder zurück ins Wasser zu ziehen.

Aber bereits am zweiten Tag war es mit der Schonzeit vorbei. Meine Mitschüler hänselten mich nicht nur, weil ich speckig war, sondern auch – oder gerade –, weil ich immer noch in der Obhut meiner Oma war.

Ja, meine Eltern waren schwer beschäftigt. Meistens aber nicht mit mir. Und meine Oma mästete mich nicht nur mit Pudding, sondern zog mich auch an wie ihre holländischen Puppen, von denen sie einige fast lebensgroße Exemplare hatte. Ich hasste Puppen im Allgemeinen und diese unheimlichen Gestalten im Besonderen, die überall in der Wohnung verteilt waren und mich aus allen Ecken mit ihren unbeweglichen Glupschaugen anstarrten. Ich für meinen Teil spielte lieber mit Masters of the Universe-Figuren oder Lego. Und wenn Oma nicht aufpasste, schnitt ich den Puppen gern mal die Haare. Ihr Outfit bestand aus geschmacklosen Rüschenkleidern und bunten holländischen Trachten. Meines auch. Es gab kein Entkommen. Oma war gnadenlos, nicht nur, was meinen Kleidungsstil betraf. So zwang sie mich auch im Freibad immer in das Schwimmbecken, das so niedrig war, dass ich es nie schaffte, mich komplett darin zu verstecken. Irgendetwas schaute immer raus: Bauch oder Po. Und mein hochroter Kopf. Aber Oma hatte kein Verständnis für mein Schamgefühl. Schließlich hatte sie selbst keins. Falls mal keine Toilette in der Nähe war, machte Oma halt Pipi auf ein öffentlich einsehbares Blumenbeet – gern auch mitten in der Stadt.

So schlimm das klingt, das war noch nicht das Schlimmste. Denn Oma zog mich nicht nur an wie einen Zirkusclown, sondern betreute auch meine Hausaufgaben. Zunächst fand ich das ganz toll. Sie machte meine Hausaufgaben, während ich Pudding aß. Oma hatte wirklich eine wunderschöne Handschrift. Und so viel Fantasie. Aber leider keine Ahnung von Rechtschreibung oder Grammatik, dem Einmaleins oder Heimat- und Sachkunde. Meine Lehrerin sprach mich vor der versammelten Klasse auf meine Fehler an und ich gab kleinlaut Omas Devise zum Besten: »Hauptsache, es ist schön geschrieben!« Daraufhin brachen dreißig Kinder in schallendes Gelächter aus und ich bekam im Alter von sechs Jahren meinen ersten Tinnitus.

Auch mit der Pünktlichkeit nahm es meine Oma nicht so genau. War Schulbeginn nun um acht oder doch erst um zehn Uhr?

»Ach, ich fahr dich, sobald der Kuchen aus dem Ofen ist. Ein­verstanden?«

Ganz ehrlich? Wer hätte da Nein sagen können?

Dafür brachte sie mich dann auch bis vor das Klassenzimmer, öffnete die Tür und sagte: »Och, guck mal, die sind ja alle schon da!«

Ich sag nur: Tinnitus, der zweite.

Trotz allem liebte ich meine Omi über alles. Denn langweilig wurde es mit ihr nie!

Meine Eltern bekamen natürlich mit, dass das mit dem Kind in der Schule nicht besonders gut lief. Allerdings, wie immer, nur am Rande. Denn meine Mutter war dauerkrank und selten zu Hause. Und ­natürlich war ich schuld, denn seit meiner Geburt hatte sie ziemliche Nierenprobleme. Zudem bekam sie Magengeschwüre wie andere Leute Pickel.

Und Papa?

Darf ich vorstellen – mein Vater Otto, seines Zeichens Charmeur und Schwerenöter. Ich nehme an, die Ehe mit meiner Mutter war ihm einfach zu langweilig, denn der liebe Otto war sehr abenteuerlustig und sprunghaft. Nur in wenigen Dingen war er immer sehr zuverlässig: im Trinken, Lügen und Betrügen. Stand ein neues Motorrad vor der Tür, gab es immer auch eine neue Affäre dazu. So viel war sicher.

Mama war also im Krankenhaus und Papa hatte – im wahrsten Sinne des Wortes – freie Fahrt. Und er genoss seine Freiheit! Einziger Wermutstropfen: Er musste sich um mich kümmern. Autsch! Motorradtouren mit wechselnden Liebhaberinnen und einem unbeweglichen kleinen Mädchen? Das passt nicht zusammen, könnte man meinen. Doch weit gefehlt! Denn »geht nicht«, das gab’s bei Papa nicht. Gerade was seine Freizeitgestaltung anging, war er durchaus kreativ – einer seiner wenigen angenehmen Wesenszüge, die er mir vererbt hat. Stevani wurde also aufs Moped geschnallt und los ging’s: ab in die Kneipe! Dort angekommen, gab er mir fünf Mark und setzte mich vor die Spielautomaten. Ich glaube, es war Glücksspiel. Zumindest freute ich mich immer, wenn drei gleiche Kirschenpaare erschienen. Währenddessen turtelte er mit seiner neuen Liebe, der Wirtin. Wie praktisch war das denn?

Okay, ich war dick und komisch, aber nicht blöd. Natürlich roch ich den Braten. Ich wusste nie genau, was da lief. Aber dass was ganz schön faul war, das war mir klar. Doch wie man sich vorstellen kann, war es damals relativ einfach, mich zu bestechen.

»Papa, ich sag’s Mama!«

»Und wenn ich dir noch mal fünf Mark gebe?«

»Nein! Ich will zu Mama!«

»Okay, noch ’ne Limo und ein Eis?«

»Zwei Eis! Und fünf Mark!«

Schön, ich gab nach. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt oder einer gewissen Anzahl an Eiskugeln. Außerdem verbat ich mir Tätscheleien jeglicher Art und biss zu, wenn die jeweilige Dame versuchte, mir in die Wange zu kneifen. Schließlich hatte ich auch meinen Stolz.

Manchmal kam Papas »Damenbesuch« auch zu uns nach Hause. Mama war meistens im Krankenhaus und ich, wenn ich Glück hatte, bei Oma. Aber nicht immer. Und einer dieser Tage endete zumindest für mich unter dem Esstisch. Ich musste mich nämlich aus der Gefahrenzone in Sicherheit bringen. Denn was Papa auf dem Esstisch mit der Wirtin machte, das musste er meiner frühzeitig aus dem Krankenhaus entlassenen Mutter dann doch selbst erklären.

»Ich wollte nur ein Bier trinken gehen und dann, dann ist sie, äh, mir was dazwischengekommen.«

Ja, auch Otto verließ im entscheidenden Moment die Kreativität so manches Mal.

Aufgrund dieser und sicherlich auch einiger anderer Situationen (von denen ich dank Oma – Puppenklamotten hin oder her – nicht alle mitbekam) trennten sich meine Eltern, als ich sieben war. Damit schieden sich die Wege unserer kleinen Familie. Omi zog samt ihrer holländischen Puppenlegion in eine eigene Wohnung nach Benhausen und mein Vater kaufte eine Bruchbude von Haus in Neuenbeken. Ich blieb bei Mama.

Wir zogen in eine kleine Wohnung im ersten Stock eines Mehr­familienhauses in einem Randgebiet von Paderborn. Ja, Randgebiet Paderborn. Das war fies – einfach so weg aus der Metropole. Es war unglaublich langweilig dort. Ja, schlimmer geht immer. Oder: Was mich nicht umbringt, fress ich auf.

Neuer Ort, neue Schule, neue Hänseleien … Die Erfolgsbilanz meines ersten Schultages: 17 Gesichter, die mich belächelten, acht, die mich ignorierten, 15 neue Schimpfworte gelernt, zwei neue Spitznamen bekommen (»Kuheuter« und »Eisentitte« – ja, meine Brüste waren für ein siebenjähriges Mädchen riesengroß und knüppelhart;

Wegbandagieren hatte ich versucht, war aber gescheitert). Zudem war mir ein Zahn ausgeschlagen worden.

Mama meinte: »Hätte schlimmer kommen können.«

Und ich fürchte, da hatte sie ausnahmsweise mal recht.

Was Opa wohl dazu gesagt hätte? Wahrscheinlich: »Stevi, wenn du dich ärgerst oder traurig bist, mach ’ne Faust! Das hilft immer!«

Eine altbewährte Kriegsweisheit, nehme ich an.

Ich wurde dicker und dicker. Vielleicht hätte irgendjemand meiner Mutter sagen müssen, dass ein Tiefkühllieferant als ausschließlicher Ernährer nicht gesund sein kann. Auch dann nicht, wenn dieser Lieferant »Hausmannskost« heißt. Aber Die Super Nanny gab es damals noch nicht. Schokolade schon. Gibt’s eigentlich noch Pommes, Mutti?

Statt der Super Nanny zog sehr bald die jüngere Schwester meiner Mutter zu uns: meine Tante Helga. Denn so oft, wie meine Mutter im Krankenhaus war, wäre ich sonst schon mit sieben Jahren Alleinversorgerin geworden. Rückblickend wäre das vielleicht gar nicht so schlecht gewesen. Denn leider war Tante Helga, die auf der Couch im Wohnzimmer schlief, schwere Alkoholikerin. Dass etwas nicht stimmte, merkten wir erst, als Mama einen Schluck aus Helgas »Mineralwasserflasche« nahm, um ihn unmittelbar danach im hohen Bogen durch das Wohnzimmer zu spucken. Verrückt! Es schien, als könnte meine Tante aus Wasser Korn machen. Halleluja!

Und so kam es, dass auch mein Tantchen sehr oft weg war. Mal auf Kneipen-, mal auf Entzugskur. Dann passte Oma auf oder ich wurde zu den Nachbarn abgeschoben. Bei denen war ich wirklich gern. Da durfte ich nämlich so viel fernsehen, wie ich nur wollte. Ich sah Knight Rider, das A-Team oder Ein Colt für alle Fälle. Außerdem entwickelte ich eine überraschende Leidenschaft für Wrestling und verliebte mich ein bisschen in Hulk Hogan. Ich fand seine Haare toll. Vielleicht begann ich deshalb später, meine Haare auch zu blondieren. Oder wegen Barbie. Da bin ich mir jetzt nicht mehr sicher.

Neben den männlichen Superhelden bewunderte ich Pippi Langstrumpf über alles, sie war mein großes Vorbild. Pippi und ich, wir wohnten beide allein. Doch im Gegensatz zu mir fand Pippi immer eine Lösung und war so stark, dass sie den bösen Jungs einfach ein paar auf die Zwölf geben konnte, wenn es sein musste. Ich wäre gern so wie sie gewesen: stark, reich, schlank … unbeschwert.

Während ich also Stunden vor dem Fernseher verbrachte und mich in andere Leben träumte, vernaschte ich ordentlich viel Zeug. Denn natürlich hatte ich auch bei den Nachbarn schon bald den Süßigkeitenschrank entdeckt, dessen Inhalt ich großzügig mit der Katze teilte. Ich liebte dieses Fellknäuel, das sich immer an mein Bein schmiegte und dabei wonnig schnurrte. Auch wenn mir ein gepunktetes Pferd und ein Affe, so wie bei Pippi, noch lieber gewesen wären. Aber bei uns zu Hause waren Tiere nun mal strengstens verboten. Der Vermieter war dagegen und Mutti auch. Sie sei allergisch gegen diese Biester, meinte sie. Daher waren die Stunden bei den Nachbarn, das Fernsehen und vor allem das Kuscheln mit dem Kätzchen mein absolutes Alltags-Highlight. Da hatte mich jemand lieb und zeigte es mir auch. Ich fühlte mich sauwohl. Es war ein bisschen wie Urlaub vom Leben.

Doch wie das so ist, geht jeder Urlaub mal zu Ende. Und oft erwartet einen nach der Rückkehr eine böse Überraschung. In meinem Fall war es kein Wasserrohrbruch oder unangenehmer Behördenbrief. Es war meine gerade zurückgekehrte Tante Helga, die bewegungslos auf der Couch lag. Egal was wir anstellten, niemand schaffte es, Tante Helga aufzuwecken, denn sie war tot.

Trotz dieses tragischen Ereignisses denke ich auch heute noch oft und gern an meine Tante Helga zurück – wenn auch mit einer Träne im Knopfloch. Denn sie war damals genauso alt wie ich heute: 37 Jahre.

Wenn mich jemand sucht - ich bin im Kühlschrank!

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