Читать книгу Wenn mich jemand sucht - ich bin im Kühlschrank! - Christiane Hagn - Страница 8

LUFT UND LIEBE MACHEN NICHT SATT Gewicht: 42 Kilo Gefühlslage: Ich? Verrückt? Ja! Verrückt nach Liebe!

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Irgendwie überlebte ich die erste Liebe. Dominik auch – zunächst zumindest. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass es ihm weitaus schlimmer ergangen war als mir. Er war auf die schiefe Bahn geraten, hatte Drogen genommen und sich im Alter von 18 Jahren vor einen Zug geworfen. Ich weiß nicht, ob es mit der schlanken Frau zu tun gehabt hatte, aber ich weiß, dass mein dicker Hintern sein geringstes Problem gewesen war.

In der Zeit meines ersten (und leider nicht letzten) Liebeskummers begann ich, wie verrückt zu malen. Schon als Kind hatte ich mir vorgenommen, später einmal Kunstmalerin zu werden, und alles beschmiert, was mir zwischen die Finger gekommen war. Ich malte und malte und malte, geradezu manisch. Das Malen war vermutlich die einzige Sache, die mich neben Jungs und Essen noch interessierte. Ich malte aus Kummer und fraß aus Frust.

Doch im Gegensatz zum Essen hatte das Malen einen wirklich positiven Effekt auf meine Gemütslage. Nicht nur, weil ich davon nicht dick wurde. Wenn ich malte, hatte ich ein sonderbar schönes Gefühl. Ich glaube, es war Leichtigkeit. Ich fühlte mich frei und federleicht, fast wie beim Eislaufen. Nur mit weniger blauen Flecken. Das könnte auch meine spätere Berufswahl erklären. Eines kann ich schon mal verraten: Kunstmalerin wurde ich nicht.

Ich war also mitten in der Pubertät und hatte ein gebrochenes Herz. Eigentlich ein normaler Zustand, der sich allerdings sehr fatal auf mein Essverhalten auswirkte. Denn mein anfänglicher Kummer, der sich in Fressanfällen geäußert hatte, schlug bald in das komplette Gegenteil um. Ich trat in einen Hungerstreik und hörte einfach auf zu essen.

Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht. Nicht. Nicht. Nicht! Ich bekam keinen Bissen mehr runter, konnte kein Essen bei mir behalten und half auch hin und wieder mit dem Finger nach. Dadurch nahm ich extrem ab und entwickelte sogar eine Art Magersucht.

Allerdings wurde meine Radikaldiät ebenso radikal unterbrochen, wie sie begonnen hatte. Und zwar von meiner Mutter, die mich »zärtlich« ihren kleinen »Hals mit Ohren« nannte und diesen auch wieder zurückhaben wollte. Durch diverse Magenoperationen hatte sie es inzwischen geschafft, schlank, ja sogar untergewichtig zu werden. Doch anstatt die längst überfälligen Abnehmversuche ihres pubertierenden Pummelchens zu unterstützen, versuchte sie, ihren Mops mit Sanostol und Vitaminsaft zwangszuernähren.

Ich ertrage bis heute keine Säfte, die mehr als zwei Geschmacksrichtungen haben. Nur durch die Saft-Zwangsernährung meiner Mutter fing ich langsam wieder an zu essen und nahm – wie sollte es anders sein – rasant zu!

Als ich psychisch aus dem Gröbsten raus war und physisch wieder auf meinem üblichen Fettlevel, wandte ich mich dem Nächstliegenden zu: unserem Nachbarsjungen Sascha. Ich schätze, ich bin ein Stehaufmännchen!

Sascha wohnte zwei Häuser weiter und saß auch in der Schule neben mir. Und: Er fand mich doof! Aber wenn man wie ich mit Beziehungskomödien im Fernsehen aufgewachsen war, wusste man, dass das die beste Voraussetzung für eine romantische Liebesgeschichte mit Happy End war! Bridget Jones war schließlich auch nicht die Dünnste und am Ende kloppten sich die Typen um sie.

Von nun an schmiedete ich Pläne, wie ich Sascha für mich gewinnen konnte. Dazu schöpfte ich meine Kreativität voll und ganz aus. Mein Kampfgeist war zurück. Ich gab vor, seinen Superhelden Rambo ebenso zu lieben wie er. Ich beschmierte mein Federmäppchen mit »I LOVE YOU« und drehte es ihm mehr als auffällig zu. Ich tauschte meine Drei-Fragezeichen-Bücherkollektion gegen ein nagelneues, sauteures BMX-Rad. Ich schenkte seiner Mutter Blumen! Ich ging über Umwege nach Hause, um »zufällig« an seinem Haus vorbeizukommen, und bemalte »sein« Bushaltestellenhäuschen mit unseren Initialen in Herzform. Natürlich versuchte ich immer, im selben Bus wie er zur Schule zu fahren. Ich ließ mir die Haare wachsen und fing an, mich zu schminken.

Dennoch, es half nichts. Und als all meine Versuche keine Früchte tragen wollten, fing ich eben wieder an zu fressen. Und zu fressen und zu fressen ...

Als ich mich mit 16 Jahren gerade damit abgefunden hatte, Sascha für den Rest meines Lebens aus der Ferne anzuhimmeln, passierte es. Diesmal wurde ich überrascht. Sascha küsste mich. Einfach so! Auf dem Schützenfest, wo sonst? Dass er bei diesem ersten Kuss ziemlich betrunken war, störte mich nicht weiter. Ich war mir sicher, dass er sich einfach nur Mut angetrunken hatte, um das zu tun, was er bestimmt schon seit einer Ewigkeit hatte tun wollen.

Ich schwebte im siebten Himmel. Das mir inzwischen bekannte Gefühl, glücklich verliebt zu sein, kehrte zurück. Und ich sprang darauf an wie der Pawlow’sche Hund auf seinen Glockenton. Ich wollte mehr! Ich wollte wieder im Kino Händchen halten und Popcorn teilen. Ich wollte seine Hand unter meinem T-Shirt und seinen nackten Oberkörper auf meinem spüren. Diesmal wollte ich alles richtig machen und entspannt sein, auch im Bett. Und zwar möglichst schnell, um nicht wieder gegen eine schlanke und unbeschwerte Frau ausgetauscht zu werden.

Bereits nach einer Woche sollte es so weit sein. Ich hatte alles perfekt eingefädelt. Mutti war – natürlich – im Krankenhaus. Also lud ich Sascha zu mir nach Hause ein, stellte Kerzen als einzige Lichtquelle auf und den Sekt kalt. Aus dem »Videoabend« wurde natürlich nichts. Vor lauter Angst, wieder zu verkrampfen, und weil ich es nicht besser wusste, betrank ich mich, bevor wir das erste Mal miteinander schliefen. Ich weiß, dass es passiert ist. Und ich weiß, dass es nicht besonders lange dauerte. Aber an viel mehr kann ich mich leider nicht erinnern.

Am nächsten Morgen hatte ich zwar einen wahnsinnigen Schädel, war aber mindestens genauso erleichtert, »es« endlich hinter mir zu haben. Während ich verliebt Nutellabrote schmierte, musste Sascha allerdings schon wieder los – zum Fußball. Mir schwante Übles. Und tatsächlich hielt unsere zarte Liaison gerade einmal 14 Tage. Sascha ging so schnell, wie er kam (in jeder Hinsicht). Und Mutti hatte wieder einmal recht: Männer sind Arschlöcher! Alle!

Da auf reale Männer offensichtlich kein Verlass war, besann ich mich erneut auf meine Leidenschaft für mein Idol Morten. Diese Liebe war zwar etwas einseitig, dafür aber frei von Enttäuschungen. Und er spielte auch nicht »Fußball«.

Leider blieb es in Bezug auf Sascha nicht bei dieser einen Enttäuschung. Denn in den nächsten Jahren platzte er immer wieder in mein Leben, verwirrte mich, schwor mir seine Liebe, gelobte Besserung und enttäuschte mich erneut. Eigentlich sollte man ja aus seinen Fehlern lernen, aber in diesem Fall war ich unbelehrbar. Diese Zeit war nicht nur seelisch, sondern auch körperlich die reinste Achterbahnfahrt für mich.

In meinem 16. Lebensjahr setzte ein enormer Wachstumsschub ein, der mich von Jahr zu Jahr runder werden ließ. Ich wurde extrem schnell extrem dick und jedes Jahr noch etwas fetter und fetter und fetter. Allerdings wuchs ich nicht proportional. Es war ähnlich wie bei kleinen Katzen oder Hunden: Mal wächst nur der Kopf, mal die Beine. Bei mir wuchsen mal die Oberschenkel, mal der Bauch. Oder ich ging einfach in die Breite. Das einzig Positive daran war: Mein Hintern wuchs mit, sodass ich nicht Gefahr lief, nach vorn umzukippen. Das war gut so, denn vor allem wuchsen meine Brüste – was plötzlich erhöhte Aufmerksamkeit von Männern zur Folge hatte. Und Aufmerksamkeit von Männern war ich eigentlich nur in dieser Art gewohnt: »Alter, schau mal die Dicke an! Die kloppt sich am Teich um Brot!« Oder: »Hey Püppi, hat dein Arsch ’ne Postleitzahl?«

Meine überdimensional großen Brüste schienen also ein echter Männermagnet zu sein. Und so kam kurz die Hoffnung in mir auf, dass es sich bei meinem Übergewicht nur um Babyspeck handeln und ich mit etwas Anstrengung doch noch zu einem Schwan werden könnte. Diese Hoffnung hielt aber nur kurz, sehr kurz – bis zur nächsten Pizza Hawaii.

Mit 17 Jahren begann ich meine Ausbildung zur Grafikdesignerin. Genauer gesagt zur Gestaltungstechnischen Assistentin (GTA). Für mich kam nur dieser künstlerisch-gestaltende Beruf infrage, da es sich doch schwieriger erwies als erwartet, mal eben so Kunstmalerin zu werden. Zur damaligen Zeit war diese Ausbildung eine rein schulische, eine Art Vorstufe zum Studium.

Für mich hieß es nun: wieder eine fremde Schule, wieder fremde Gesichter, noch dazu in Bielefeld. Bielefeld! Das war eine Weltreise entfernt von unserem kleinen Vorort von Paderborn. Als ich den Fahrplan der öffentlichen Verkehrsmittel für meinen Schulweg etwas genauer studierte, überlegte ich noch mal ganz kurz, doch Floristin zu werden. Aber ich sprang ins kalte Wasser und morgens um vier Uhr aus dem Bett.

Zum Duschen und Anziehen brauchte ich immer etwas länger. Es dauerte nicht nur ewig, bis ich mich endlich in die Strumpfhose gezwängt hatte, sondern noch viel länger, bis ich in den Tiefen meines Kleiderschranks endlich etwas gefunden hatte, worin ich mich wohlfühlte. War das überstanden, fuhr ich mit dem Fahrrad erst mal vier Kilometer zur Bushaltestelle, dann 45 Minuten mit dem Bus nach Paderborn zum Hauptbahnhof, um den Zug nach Bielefeld zu bekommen. Dort angekommen, lagen nur noch drei Kilometer flotter Fußmarsch vor mir, um endlich pünktlich um acht Uhr das Schulgebäude zu erreichen. Und das fünf Mal die Woche!

Super Fitnessprogramm, könnte man meinen. Wäre es bestimmt auch gewesen, hätte ich nicht schon nach kürzester Zeit beschlossen, meinen Wecker einfach gegen die Wand zu werfen. Wie oft ich in den folgenden Jahren blaumachte, geht auf keine Kuhhaut.

Meine Mutter bekam von all dem wie immer kaum etwas mit. Aber wie auch? Ich war so verdammt clever. Konnte ich mich nicht überwinden loszugehen, ahmte ich einfach meine morgendlichen Geräusche nach, so gut es ging, und versteckte mich anschließend hinter dem Wohnzimmersofa, bis meine Mutter das Haus verließ. Natürlich warf sie vorher noch einen Kontrollblick in mein Zimmer, wobei sie jedes Mal stolz war auf ihr Pummelchen, wenn sie das Bett leer vorfand. Kaum war sie weg, frühstückte ich erst einmal fett und verkroch mich wieder ins Bett. Was für ein Aufwand! Da hätte ich eigentlich auch gleich zur Schule fahren können.

Mit Anfang zwanzig war ich eigentlich schon an dem Punkt angekommen, ein Leben als normalgewichtige Frau abzuschreiben, und bereit, mich auf ein ewiges Singledasein einzustellen, am besten gleich im Kloster. Obwohl: Nur Wasser und trocken Brot?

Doch dann passierte es: Ich machte erste Erfahrungen mit Diäten und entdeckte, dass es noch etwas anderes als Fressen oder Hungern gab. Von nun an verfolgte ich mein Ziel, endlich schlank zu werden, immer verbissener. Keine Diät war vor mir sicher. Und damit wurde es nicht nur tragisch, sondern auch teuer und noch ungesünder.

Wenn mich jemand sucht - ich bin im Kühlschrank!

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