Читать книгу STATI UNITI D'EUROPA: AUSPICIO, INCUBO, UTOPIA? VEREINIGTE STAATEN VON EUROPA: WUNSCHBILD, ALPTRAUM, UTOPIE? - Christiane Liermann - Страница 4

Оглавление

Vorwort

In den Zeiten der globalen Pandemie haben die Europäer gelernt, so glaube ich, die Planungsgewißheit, die (nicht weniger als die Kontingenzerfahrung) ein wichtiger Teil ihres kulturellen Erbes ist, zu relativieren und bescheidener zu werden. Das neue (wiedergewonnene?), quasi metaphysische Bewusstsein, dass buchstäblich von einem Tag auf den anderen Alles anders kommen kann, als wir es gewohnt waren, lässt uns die Vorläufigkeit politischer Diagnosen stärker als zuvor spüren. Im Sinne dieser neuen Behutsamkeit, des Herantastens an politische Befindlichkeiten, die sehr fluide und mehr denn je stimmungsabhängig zu sein scheinen, läuft jeder Versuch einer Standortbestimmung Gefahr, schon morgen überholt zu sein. Aber gerade Europa bedarf der Standortbestimmung, der Selbstvergewisserung, immer aufs Neue, im permanenten Austausch unter den Europäern. Es mag schrecklich eurozentrisch klingen, aber mir scheint, dass wenige politische Gebilde im globalen Maßstab so sehr um ihre „Identität“ ringen wie Europa.

Lässt sich die Union der Europäer als „Vereinigte Staaten“ bezeichnen? Stellen die USA, an die man bei dieser Bezeichnung, seit sie in der Welt ist, selbstverständlich denkt und denken soll, das Modell dar, welches die Europäer zur Imitation einlädt oder eher abschreckt?

Das vorliegende Buch beschreibt viele verschiedene Facetten des europäischen Einigungsprozesses und enthält zahlreiche Deutungen dieses Wegs, so dass es vermessen wäre, hier ein Resümee der Beiträge zu versuchen. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich gleichwohl ausmachen: Das Schlagwort von den „Vereinigten Staaten von Europa“ ist der Versuch, die Europäische Union irgendwie mit Hilfe halbwegs vertrauter Modelle zu definieren, sei es ablehnend, sei es zustimmend.

Aber hier offenbaren sich auch gleich die Hauptprobleme: Welche politischen und kulturellen Vorstellungen verbindet man eigentlich mit den Vereinigten Staaten von Amerika, wenn man sie zum Vorbildmodell für Europa oder zur Abschreckung nimmt? Wenn, wie zuletzt, immer wieder der Hamilton-Moment angerufen wird, so liegt der Akzent offenbar auf Fragen des Bundeshaushalts einer imaginierten Föderationszentrale im Verhältnis zur mehr oder weniger großen Fiskalautonomie der einzelnen Bundesstaaten.

In der Pandemieerschütterung lag der Akzent aber woanders: auf der „Solidarität“, welche die in einer Union verbundenen Mitglieder einander schuldeten. Weiter gefragt: Taugen die USA als Modell für Europa, wenn von der „Identität“ des europäischen Gemeinwesens (Voraussetzung von Solidarität), von gemeinsamen Traditionen, vom gemeinsamen Rechtsverständnis die Rede ist?

Ich glaube nicht.

Jedenfalls so lange nicht, wie es keine öffentliche europäische Diskussion darüber gibt, was überhaupt mit solchen hochpolitischen, leicht instrumentalisierbaren Leitbegriffen wie „Solidarität“, „Identität“ oder „Souveränität“ oder eben „United States“ gemeint ist. Natürlich lässt sich dabei kein Konsens produzieren; aber vielleicht lässt sich die Sensibilität dafür fördern, dass Diversität der Ansichten hierzu eine europäische Stärke ist und keine Unterminierung Europas. Auch wenn es heute angesichts mächtiger Angleichungspolitiken manchmal anders erscheinen mag: Aber der europäischen Tradition sind Homogenitätsdoktrinen eigentlich eher fremd. Daher sollten die Europäer, glaube ich, auch weniger Phobien gegen ein Europa der zwei (oder mehr) Geschwindigkeiten hegen - wobei das natürlich eine politisch ungeschickte Ausdrucksweise ist (denn wer will schon freiwillig zu einer langsamen Gruppe gehören?). Mir wäre es sympathischer, auf ein Europa der „bewussten Diversität“ hinzuwirken.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes, so scheint mir, stützen meine Skepsis hinsichtlich der Implikationen des Programms „Vereinigte Staaten von Europa“. Die Europäer sind als Union etwas Neues, „sui generis“, etwas Mutiges, so wie es die USA 1776 waren, als sie ganz bewusst alle alteuropäischen Vorbilder abgeschüttelt und sich der Last der politischen Traditionen entledigt haben. Historisch-genetisch argumentiert: die USA sind eine Gegen-Gründung. Das ist ihr spirit. Ihre Ideologie entlehnten sie der griechisch-römischen Antike, aber sie wollten keine koloniale Fortschreibung Europas sein. Gegen wen oder was wollte sich eigentlich die EU gründen?

Wenn überhaupt, dann sollte meines Erachtens die Analogie bezüglich des Gründungsstolzes betont werden: Wir schaffen für uns etwas zuvor nie Dagewesenes. Von daher halte ich auch die (viel zu schnell und oberflächlich ad acta gelegte) Ablehnung der „europäischen Verfassung“ durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 für ein wichtiges, aber unterschätztes Signal, dass die europäischen Souveräne etwas anderes wollen als das schon Bekannte.

Es gibt auf Youtube großartige Lehrvideos von jungen „Dozenten“ zum Für und Wider einer Vorstellung von Europa in der Gestalt von „Vereinigten Staaten“. Sie zeigen, dass die Formel der „Vereinigten Staaten von Europa“ zu stark „vorbelastet“ und traditionsbehaftet ist, um die innovative, absolut einmalige Qualität der EU zum Ausdruck zu bringen, und sie zeigen auch, wie ich finde vorbildlich, dass es bei allen kulturellen, aber eben auch bei den politischen Integrationsentscheidungen immer um den Abgleich von Anschauungen, Narrativen, von gegenseitigem „Story-telling“ gehen muss.

Ein markantes Beispiel der letzten Zeit war das italienische „Story-telling“ zu der Bemerkung der Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde im März 2020, es sei nicht Aufgabe der EZB, der Zinsdifferenz zwischen Bundesanleihen und italienischen Staatsanleihen entgegenzuwirken. Während sich ihre Feststellung für deutsche Ohren als völlig neutrale Aufgabenbeschreibung anhörte, wurde ihre Bemerkung von den italienischen Medien als böser Angriff auf Italien präsentiert.1 Die Medien in den verschiedenen europäischen Staaten schienen über komplett unterschiedliche Sachverhalte zu berichten, so groß war die Distanz.

Einer der prominentesten italienischen Kommentatoren zu europäischen Fragen (Sergio Fabbrini, in der Wirtschaftstageszeitung Il Sole24Ore) hat daran erinnert, dass ein ur-europäisches Problem der Spagat zwischen Eliten-Diskurs und „volkstümlichen“ (bitte um Pardon für den antiquierten Ausdruck!) Europa-Erzählungen ist, zwischen denjenigen, die die europäischen Mechanismen konstruieren und verstehen (das ist die „politische Deutungskultur“, nach Karl Rohe), und denjenigen, für die die politische Partizipation in einem überschaubaren, konkreten Raum entsteht, dessen Sprache man spricht („Soziokultur“). Die USA haben eine gemeinsame Sprache, die Europäer nicht. Aber Parlament heißt „parlare“: Der Souverän benötigt das Medium der Sprache zur politischen Willensbildung. Vielleicht eignet sich eher die Confoederatio Helvetica als Modell für die Europäer?

Im vorliegenden Band nennt Manuel Müller drei klassische Narrative zur Legitimation - nicht Europas wohlgemerkt, welches keine Legitimation benötigt!, sondern der Europäischen Union: das „Friedensnarrativ“; das „Wohlstandsnarrativ“ und das „Selbstbehauptungsnarrativ“. Vielleicht kommen sich die Europäer ein Stückchen näher, wenn sie Wege und Instrumente erfinden, einander ihre nationalen (und regionalen und lokalen) Geschichten besser zu erzählen; wenn sie sich Mühe geben, den Partnern die Traditionen und das „Rationale“ ihrer eigenen Einstellungen und Werturteile zu vermitteln, damit man sich darüber tatsächlich auf Augenhöhe austauschen kann.

Christiane Liermann Traniello

< Eine Ausnahme in: https://www.ilfattoquotidiano.it/2020/03/20/christine-lagarde-ha-torto-o-ragione-sullo-spread/5742306/

STATI UNITI D'EUROPA: AUSPICIO, INCUBO, UTOPIA? VEREINIGTE STAATEN VON EUROPA: WUNSCHBILD, ALPTRAUM, UTOPIE?

Подняться наверх