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Die Erfindung der Stile und der Geschichte

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Zwar wird bereits seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s die Untergliederung der Geschichte in aufeinander folgende, klar abgrenzbare Epochen kritisch hinterfragt, doch bildet gleichwohl die Erfindung der Geschichte und – als Ableitung davon, der Stile – die Grundlage der historistischen Architektur des 19. Jh. und damit als Negativfolie auch der Moderne. Dass die Weltenläufe chronologisch und kausal als ‚Geschichte‘ zu fassen sind, ist erst ein Deutungsansatz der späten Neuzeit. Zwar gab es davor bereits Chroniken, Genealogien, Biographien und erzählende Mythen, doch waren diese in hohem Maße unabhängig voneinander und beruhten auf unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie historische Abfolgen zu verstehen seien – etwa als Nacheinander von Anekdoten oder als göttliches Wirken. Erst in der Mitte des 18. Jh.s werden diese ‚Einzelgeschichten’ zu dem sog. Kollektivsingular ‚der Geschichte‘ gebündelt, dabei kritisch geprüft und wissenschaftlich untersucht. Ein beobachtendes Subjekt deutet und interpretiert Geschichte mit einem ausgefeilten Instrumentarium, mit dem etwa eine gefälschte von einer echten Urkunde unterschieden werden kann, und somit eine ‚wahre‘, ‚richtige‘ Rekonstruktion historischer Abläufe zu ermitteln ist. Prinzipiell liegen hierbei komplexe, aber rational zu ermittelnde kausale Begründungsmuster zugrunde, um das Voranschreiten der Geschichte zu erklären. Zunehmend wird Geschichte als eine absolute, für sich selbst existierende Kategorie begriffen, was sich auch heute noch in Wendungen wie „die Geschichte wird zeigen“ oder „die Geschichte verlief“ ausdrückt. Das bedeutete vor allem, dass die Geschichte nicht mehr an Herrscherfiguren oder göttliches Wirken gebunden war, sondern einen komplexen, von Menschen produzierten Gesamtzusammenhang darstellte. Hierbei kann man vielerlei Einzelaspekte isoliert fokussieren und in eine Entwicklungsperspektive stellen: die Geschichte der Kunst, die Geschichte der Architektur oder die Geschichte einzelner Völker, Nationen oder Regionen. Geschichte soll nach der Auffassung des 19. Jh.s auch moralisch und politisch wirken, Anleitungen für gutes und richtiges Handeln bieten. Die Annahme eines gemeinsamen, weit zurückreichenden historischen Schicksals stellt denn auch eine wichtige Bedingung zur Ausbildung von Nationalstaaten im 19. Jh. dar. Dies wiederum macht verständlich, warum die Geschichtswissenschaften in dieser Zeit eine zentrale Rolle innerhalb der universitär vermittelten Geisteswissenschaften spielen: Es ist die Epoche des Historismus |▶ 4, 5, 12, 13, 18|. Dieser Optimismus ändert sich zwar gegen Ende des 19. Jh.s, als sich herausstellt, dass Geschichte kaum direkte Anweisungen für das Heute geben kann und auch ihre Erforschung ein mühevolles, ‚verstaubtes’ Gewerbe ohne konkreten Bezug zur Gegenwart sein kann. Seit den sechziger Jahren des 20. Jh.s werden auch zunehmend die Gültigkeiten von ‚großen Erzählungen’ (z.B. des Marxismus) in Frage gestellt und Geschichte als eine individuell erdachte Konstruktion, Fiktion oder Simulation begriffen |▶ 48|. Trotzdem vermittelt die Geschichte auch heute noch die grundlegende Erkenntnis, in einem unendlich komplexen und prinzipiell kausalen, also nicht etwa göttlich vorbestimmten, System zu leben. In diesem Zusammenhang spielt für die Architekturgeschichte auch der Begriff des Stils eine zentrale Rolle. Aus stylus, dem Handgriffel, abzuleiten, bedeutete Stil ursprünglich eine bestimmte persönliche Ausdrucksweise oder Redeebene, seit dem 16. Jh. auch regional unterschiedlich zu fassende, in sich vergleichbare künstlerische Idiome. Später, und bis heute, bezieht man den Begriff auch auf Bekleidung, Einrichtungsensembles, Konsumgegenstände, Gastronomietraditionen und Geschmackskulturen. Als seit dem 18. Jh. die Bedeutung der Geschichte wie auch die Kenntnis historischer Architektur zunimmt, dient Stil vor allem auch zur Bezeichnung bestimmter Epochen, in denen die äußeren Merkmale der Bauten insgesamt jeweils vergleichbar erscheinen. So entsteht, teilweise kontrovers und mit unterschiedlichen Benennungen und national unterschiedlich diskutiert, eine Kunst- und Architekturgeschichte, die sich lückenlos in eine Abfolge von Stilen einteilen lässt. Im Deutschen am geläufigsten sind Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus. Diese Grobeinteilungen können auch nach Früh-, Hoch- und Spätzeiten, Herrschernamen oder Regionen differenziert werden (‚Frühgotik’, ‚Hochbarock’, ‚Louis XV.‘). Entscheidend dafür, dass die Stile im 19. Jh. als Zeichensystem der Architektur so wichtig wurden, war aber die Vorstellung, dass sie für jede Epoche spezifisch seien und überdies die damaligen Mentalitäten und sozialen Gegebenheiten vollständig zum Ausdruck brächten. Überspitzt gesagt, sei Nordfrankreich im 12. Jh. einheitlich durch die Frühgotik geprägt, und dies verkörpere die aufstrebende französische Monarchie, die deutsche Renaissance war angeblich der typische Stil des Bürgertums, und das antike Bauen Griechenlands zeuge von der Geburt der Zivilisation. Somit standen vielfältige Bezugnahmen zur Verfügung, die auch gezielt miteinander kombiniert werden konnten. Die Prämisse jedoch, dass Stil immer ein notwendiger Ausdruck einer einheitlichen Epoche gewesen sei, legte um 1900 auch den Keim zu einer fundamentalen Kritik am architektonischen Historismus und an der Gegenwart. Denn wenn alle historischen Epochen sich deutlich und einheitlich in ihren jeweiligen Stilen vermittelt hatten, wo blieb dann der eigene, aktuelle Stil? Dieser musste um jeden Preis gefunden werden und rechtfertigte, dem Historismus seit ca. 1900 eine radikale Absage zu erteilen |▶ 19, 20, 27, 28|. In einem Zeitalter, das massiv durch neue Technologien und ihre industrielle Umsetzung geprägt war, trat nun vielfach Baumaterial und Bautechnik als das neue Paradigma einer zeitgemäßen Architektur in Erscheinung.

WBG Architekturgeschichte – Die Moderne (1800 bis heute)

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