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Schwungvoll warf Nora Bergmann die Schaufel in die frische Blumenerde und richtete sich auf. Sie pustete sich eine gelockte goldbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ den Blick durch den hübschen Garten schweifen. Missmutig betrachtete sie den Korb mit Blumenzwiebeln, der neben ihr auf dem Boden stand. Für wen pflanzte sie die eigentlich? Wütend stand sie auf, zog sich die Arbeitshandschuhe aus und warf sich in einen Gartensessel. Was war nur mit ihr los? Sie stand doch auf der Sonnenseite des Lebens: Sie hatte einen tollen Mann, zwei Kinder, die sich prächtig entwickelten, ein Haus mit Garten vor den Toren Hamburgs. Warum hatte sie in letzter Zeit nur ständig das Gefühl, das Leben liefe an ihr vorbei? Fast gleichzeitig mit dem Aufkommen ihrer inneren Unzufriedenheit schämte sie sich für diese Überlegungen; schließlich ging es ihr doch gut. Sie sah auf. Kuno, ihr großer Hirtenhund, war leise herangekommen und hatte seinen Kopf auf ihre Knie gelegt. Er schien zu spüren, dass sie traurig war, denn er stupste sie auffordernd und sah aus großen braunen Augen zu ihr hoch. Sie lächelte und nahm seinen Kopf in beide Hände. »Na, Kuno? Wenigstens du bist noch der Alte! Dein Frauchen spinnt nämlich ...« Ihre Finger spielten mit den seidenweichen Ohren des Hundes, während ihre Gedanken in die Vergangenheit wanderten. Wie glücklich waren sie und ihr Mann Max gewesen, als sie, frisch verheiratet, ihr Haus geplant und entworfen hatten und meinten, mit Riesenschritten ihrem absoluten Glück immer näher zu kommen. Sie waren vollkommen von sich und ihrer Zukunft überzeugt gewesen.

Nora dachte noch weiter zurück. Kurz vor dem Abitur hatten sie sich kennen gelernt, ineinander verliebt und waren zusammengeblieben. Beide hatten studiert, gute Ausbildungen hinter sich gebracht und konnten erste berufliche Erfolge vorweisen.

Natürlich war bei ihnen als glücklichem jungem Paar auch der Wunsch nach Kindern aufgetaucht. Und als sich Niklas vor neun Jahren angekündigt hatte, waren sie vor Freude ganz aus dem Häuschen gewesen. Nach seiner Geburt blieb Nora zu Hause und genoss es, jeden einzelnen Entwicklungsschritt ihres Sohnes mitzuerleben. Drei Jahre nach ihm brachte sie ihre Tochter Marie zur Welt, und die Bilderbuchfamilie war komplett. Nora hatte in den ersten Jahren alle Hände voll zu tun gehabt. Es war ein schönes Gefühl, ihren beiden Kindern alles an Liebe, Sicherheit und Geborgenheit geben zu können, was nur möglich war. Max war ebenfalls stolz auf seine Familie, stieg beruflich in dieser Zeit jedoch die Karriereleiter weiter hinauf und war deshalb wenig zu Hause. Nora strich gedankenverloren über Kunos Kopf. Wann hatte es eigentlich angefangen, dass leise Zweifel an ihrem Leben aufgekommen waren? Voller Trauer dachte sie an ihre Freundin Sophie. Sie hatten sich so gut verstanden. Ihr Tod hatte in Nora ein geradezu unaussprechliches Entsetzen ausgelöst, eine Lücke hinterlassen, die sich seitdem nie wieder geschlossen hatte. Nach außen hin war sie ihrer Familie, vor allem Sophies Mann Alexander und seinem Sohn Patrick, zwar die absolut zuverlässige und besonnen handelnde Freundin gewesen, aber innerlich hatte sie sich nur zusammennehmen können, weil sie ihre eigenen Kinder und Patrick vor weiterem Kummer hatte bewahren wollen. Kurz darauf war Alexander mit Patrick aus Hamburg weggezogen, um mit ihm in der Nähe seiner Eltern neu anzufangen.

Nora sah ihn noch einmal bei sich in der Küche sitzen; die Kinder waren in der Schule und Max im Büro. Sie hatte Kaffee eingeschenkt und sich zu ihm an den Tisch gesetzt. Nach einer Weile des Schweigens hatte er zu ihr aufgesehen. »Nora, du warst ihre beste Freundin. Sag mir: War sie glücklich?« Sie hatte ihn erschüttert angeschaut und gerade zu einer Antwort angesetzt, als er sagte: »Nein, bitte lass dir Zeit! Ich möchte eine ehrliche Antwort. Seit sie den Unfall hatte und aus meinem Leben verschwunden ist, beschäftigen mich alle möglichen Fragen, ganz besonders diese.« Er machte eine Pause und starrte auf das Milchkännchen. »Weißt du, alles in meinem Leben war selbstverständlich. Alles lief wunderbar, ich hatte nie einen Grund, mir ernsthafte Gedanken darüber zu machen. Selbst nicht an diesem Morgen. Ich ... ich habe nichts von dem Unglück gespürt, das auf uns zukam, davon, dass ich sie nicht lebend wiedersehen würde. Ich gab ihr wie immer eilig einen Abschiedskuss, strich Patrick übers Haar und bin gegangen.«

Er hatte den Kopf auf die Arme gelegt und haltlos angefangen zu weinen. Sie war zu ihm gegangen und hatte ihn in die Arme genommen. Obwohl auch ihr Tränen über die Wangen liefen, hatte sie versucht, ihn zu trösten.

»Alex, Sophie war absolut glücklich mit dir und Patrick. Mit ihrem Leben hier. Sie hat dich und Patrick so geliebt. Und sie und ich, wir haben uns über Gott und die Welt unterhalten können und viel Spaß dabei gehabt. Und ich bin mir sicher, dass sie sich genau in diesem Augenblick wünschen würde, dass wir durchhalten. Für die Kinder. Wenn Patrick dich jetzt auch noch als Halt verliert, wird er womöglich zerbrechen. Er braucht dich ganz besonders und, Alex, er bleibt dir noch von Sophie.« Er hatte sich mit beiden Handrücken die Tränen weggewischt und sich plötzlich entschlossen wieder aufgesetzt.

»Nora, ich werde mit Patrick von hier wegziehen.«

Sie hatte ihn erschrocken angesehen. »Nein! Bitte, Alex, das kannst du nicht machen ! Und was ist mit Patrick und Niklas? Die beiden hängen aneinander wie Brüder.«

Alexander hatte ihre Hand in seine genommen. »Nora, ihr bleibt unsere besten Freunde. Und ich bin so dankbar, dass du gerade jetzt immer für uns da warst.« Er schluckte. »Aber ich kann nicht hier bleiben! Alles, jede Ecke, jeder Winkel, alles erinnert mich an sie.«

Kuno stupste Nora mit der Schnauze, da sie – völlig in ihre Erinnerungen versunken – aufgehört hatte ihn zu streicheln. Mechanisch begann sie wieder ihm den seidigen Kopf zu kraulen. Sie seufzte. Seit diesem Unfall hatte sich alles verändert, auch sie selbst, das spürte sie. Aber sie hätte nicht sagen können, inwiefern. Grübelnd betrachteten ihre großen grünbraunen Augen die Blätter an den Bäumen, ohne sie jedoch wirklich wahrzunehmen. Sie hatte für sich selbst die Erkenntnis gewonnen, wie vergänglich, wie zerbrechlich alles war, das Glück, die Gesundheit, ja, das Leben an sich. Ein einziger Moment konnte darüber entscheiden, ob alles so weiterging wie bisher oder ob sich alles veränderte. Aber niemand schien sich daran zu stören, alle machten einfach weiter wie immer. Jeder war mit seinem eigenen kleinen Dasein beschäftigt. Wenn man von einem Unglück hörte, war man erschrocken und sagte: »Ach, wie schrecklich! Die armen Leute.« Und schon kümmerte man sich wieder nur um seinen eigenen Kram, seine eigenen Probleme. Nora bestürzte diese Erkenntnis, ohne sagen zu können, warum. Schließlich wäre es auch keine Lösung, ständig im Leid oder im Unglück anderer Menschen mit zu versinken. Aber sie hatte begonnen vieles in ihrem bisherigen Leben in Frage zu stellen, vor allem das unablässige Streben nach Wohlstand, so genanntem bürgerlichem Ansehen und ständigem beruflichen Vorankommen. Sie erkannte, dass sie und Max sich – vielleicht auch wegen dieser Ziele – nicht mehr so nahe waren wie früher. Sie hatten gar keine Zeit mehr, tief gehende Gespräche miteinander zu führen, voneinander zu erfahren, was den anderen beschäftigte. Der Alltag, den sie sich selbst gewählt hatten, hatte sie vor seinen Karren gespannt und ließ sie nicht mehr los. Nora war sehr traurig gewesen, als sie das alles erkannte. Aber schlimmer noch hatte sie die Tatsache empfunden, dass Max sie nicht zu verstehen schien. Er begriff einfach nicht, was innerlich in ihr vorging, wenn sie versuchte ihm zu erklären, dass sie sich voneinander entfernten, dass jeder von ihnen zu fest im Alltag steckte. Er schaute sie dann meist zwinkernd an, nahm ihre Hand und sagte: »Aber wir haben es doch schön.« Dann umfasste sein stolzer Blick den herrlichen Garten, das große, geschmackvoll eingerichtete Haus, in dem Kinder lärmten, und er fügte leicht ironisch hinzu: »Es könnte schlimmer sein, findest du nicht?« Natürlich hatte er damit Recht, aber es traf Nora, dass er ihr damit das Gefühl vermittelte, sie nicht ernst zu nehmen oder die Gedanken, die sie beschäftigten, als »Problemchen« abzutun. Sie fühlte sich darin bestätigt, dass sie ihre frühere Nähe, ihr Verständnis füreinander, verloren hatten und sich auseinander entwickelten. Er wollte gar nicht, dass sich irgendetwas änderte. Warum auch? Es funktionierte ja alles prächtig. Kinder, Hund, Garten und Haus waren ihre Aufgabe, er kam beruflich voran, machte Karriere und sorgte für das Einkommen der Familie. Obwohl sie mit den Kindern viel um die Ohren hatte, fühlte sie sich mit der Zeit immer einsamer. Die anderen Frauen und Mütter, mit denen sie zusammentraf, wenn sie die Kinder vom Sport oder Musikunterricht abholte, schienen sich mit ihrem Leben völlig zu arrangieren, redeten über Schulausflüge, Fremdsprachenunterricht oder die Wäscheberge. Die Berufstätigen unter ihnen kamen meistens abgehetzt, aber selbstbewusst daher und vergaßen selten zu erwähnen, dass sie dringende Termine hätten, dass ihr Leben aber hervorragend funktioniere, besonders seit die Kinder selber Aufgaben übernähmen, morgens allein aus dem Haus gingen und mittags ins leere Haus zurückkehrten. Man müsse ihnen diese Selbstständigkeit einfach nur zutrauen. Nora konnte sich weder mit der einen noch mit der anderen Seite so richtig anfreunden. Sie hatte sich ihre Kinder sehr gewünscht und wollte sich auch um sie kümmern. Sie hätte es gar nicht ertragen, sie sich selbst oder einer Tagesmutter zu überlassen. Sie genoss das Gefühl, die wichtigste Bezugsperson in ihrem Leben zu sein und darüber Bescheid zu wissen, wenn die beiden etwas bedrückte. Dennoch fehlte ihr was. Das war nicht unbedingt die Berufstätigkeit. Als Mutter hätte sie doch nur eine Teilzeitbeschäftigung ausüben können, was ihrem Anspruch an eine echte, eine wichtige Aufgabe nicht hätte gerecht werden können. Sie vermisste den Umgang mit gleichgesinnten Erwachsenen, interessante Gespräche, lebendige Diskussionen – so wie sie sie mit Sophie geführt hatte. Sie fehlte ihr so.

Aus ihrer inneren Einsamkeit heraus hatte sie begonnen sich selbst Themen zu suchen, die sie interessierten. Abends stand ihr viel Zeit zur Verfügung, wenn die Kinder schliefen. Max kam meistens spät nach Hause. Tagsüber war er in seiner Funktion als Marketingleiter bei Johann & Sohn, einem großen Verlag in Hamburg, viel in Besprechungen, so dass er immer am Abend seinen Papierkram erledigte, wenn es im Verlag ruhiger wurde. Nachdem Nora so ziemlich alle Bücher über Kinderpsychologie und -erziehung gelesen hatte, war ihr zufällig einmal ein Bericht über die Gründung des Royal Flying Doctor Service in Australien in die Hände gefallen. Voller Interesse las sie von John Flynn, dem presbyterianischen Geistlichen und Arzt, der 1912 in Oodnadatta in Südaustralien ein kleines, von Schwestern versorgtes Krankenhaus eingerichtet hatte, das ein so großer Erfolg wurde, dass er gebeten wurde, weitere Krankenhäuser zu bauen. Um jedoch den viel zu hohen Bau- und Betriebskosten aus dem Weg zu gehen, beschloss er, die Idee eines jungen Medizinstudenten namens Clifford Peel umzusetzen, die weit verstreuten Farmen mit einem ärztlichen Flugdienst zu versorgen. Peel fiel vor der Verwirklichung seines Einfalls als Kampfflieger im Ersten Weltkrieg. Erst 1928 hatte Flynn die erforderlichen Geldmittel durch Spenden aufgetrieben und mithilfe von Piloten und Technikern ein Funknetz aufgebaut, das die einsamen Farmen miteinander verband. Der Flying Doctor Service wurde auf Anhieb ein Erfolg und schnell erweitert, obwohl er bis zum heutigen Tag auf Spendengelder angewiesen ist. Nora war fasziniert davon, dass ein Land so groß sein konnte und dass die Menschen dort zum Teil so weit auseinander wohnten, dass es der Einführung eines fliegenden Ärztedienstes bedurfte, um die abgelegenen Farmen medizinisch zu versorgen. Ihre Neugier war geweckt, und sie interessierte sich brennend für alles, was mit diesem Kontinent zu tun hatte – die Geschichte Australiens, die Aborigines, ihre Kultur, ihre Kunst. Mit Bestürzung las sie über die Unterdrückung, Folter und fast vollzogene Ausrottung der Ureinwohner, dann registrierte sie teilweise einen langsamen Wandel im Bewusstsein der weißen Australier, den Weg einer allmählichen Umkehr, der aber noch lange nicht abgeschlossen schien. Als Nora die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2000 in Sydney am Bildschirm verfolgte, kämpfte sie mit den Tränen, als Kathy Freeman, eine junge australische Sportlerin vom Stamm der Aborigines, das olympische Feuer im Stadion entzündete.

Aber niemand teilte Noras Ergriffenheit, die Faszination, die dieses Land auf sie ausübte. Immer wieder versuchte sie an den Wochenenden Max davon zu erzählen. Er hörte auch zu, schien zu erkennen, wie tief ihr Interesse ging, war aber einfach nicht fähig, die gleiche echte Begeisterung zu entwickeln. Meist endeten die Gespräche mit Sätzen wie: »Schatz, da fliegen wir hin, wenn die Kinder größer sind. Versprochen!«, oder er zwinkerte Niklas und Marie am Frühstückstisch zu und sagte: »Meine Güte, was die Mama alles weiß! Ist das nicht toll?«

Nora hörte auf davon zu erzählen, was sie innerlich beschäftigte. Sie lebte weiter ihr Leben und floh, wann immer sie Zeit fand, in ihre Bücher über Australien. Neben der Einzigartigkeit der Landschaft des australischen Kontinents fesselte sie vor allem die alte Kultur der Aborigines. Es gefiel ihr, sich mit der Traumzeit zu beschäftigen, die den Mittelpunkt des religiösen und spirituellen Lebens dieses Volkes darstellt. Diese Traumzeit beschreibt die Schöpfungsgeschichte der Erde und aller Lebewesen. Nora verstand jetzt, dass sie aber nicht das Träumen im eigentlichen Sinne meinte, sondern eher eine Wirklichkeit jenseits der irdischen Realität, da sich die Traumzeit auf eine Zeitspanne bezieht, die noch vor dem menschlichen Erinnerungsvermögen liegt. Nora gefiel besonders die bildhafte Sprache dieser Traumzeitbeschreibungen, in denen die übernatürlichen Ahnenwesen wie die Regenbogenschlange, die Blitzgeister, die Wagilag-Schwestern oder der Tingari ihre schöpferische Wanderung über die Erde aufgenommen hatten und entlang ihrer Wanderwege, den Traumpfaden, Leben erschufen. Sie legten auch die Gesetze des sozialen und religiösen Verhaltens fest, wobei es sich hier nicht unbedingt um starre Regeln handelte, sondern vielmehr um einen ideologischen Rahmen, der den Menschen ein harmonisches Gleichgewicht mit dem Universum ermöglichen sollte. Als sich die Ahnenwesen wieder in den Himmel oder in die Erde zurückzogen, hinterließen sie den Menschen ihre Schöpfungslieder, eine Art Lebensgesang, der allen Schöpfungen einen Namen gab. Diese »Songlines« – gesungene Traumpfade – überzogen die ganze Erde. Mit dem Erbe der Schöpfungslieder hatten die Menschen nun die Verantwortung für die Schöpfung übernommen – und für ihren andauernden Schutz und ihre Erneuerung. Es beeindruckte Nora, dass die Aborigines das Land, auf dem sie lebten, nicht als Besitz im europäischen Sinne verstanden, sondern als Teil ihres Wesens betrachteten. Auf diese Weise wurde die Verantwortung für den Schutz ihrer heiligen Stätten zum Mittelpunkt ihres geistigen Lebens. Nora begriff vor diesem Hintergrund erst, was für eine Katastrophe es für diese Menschen gewesen sein musste, als die ersten Siedler mit Billigung der englischen Krone das Land unter dem Namen »Terra Nullius« – »Niemandsland« – an sich nahmen. Sie beschäftigte sich lange damit, nachzuvollziehen, wie die Aborigines im Einklang mit der Natur gelebt, nicht nach Neuerungen oder Eigentum gestrebt hatten, aber altbewährte Traditionen aufrechterhielten und über geistige und mentale Fähigkeiten verfügten, die weit über das normale Verständnis und das von Technik beherrschte Know-how der Europäer hinausgingen, welche weder die einzigartige, über vierzigtausend Jahre alte Kultur noch diese besonderen Fähigkeiten erkannten und zu schätzen wussten, sondern sie meist einfach als »unzivilisiert« abtaten.

Die Bücher Traumfänger und Traumreisende von Marlo Morgan, die mit den Angehörigen eines Aborigines-Stammes mehrere Monate im australischen Busch unterwegs gewesen war, hatte Nora sogar ein paarmal gelesen – aus dem Wunsch heraus, mehr zu verstehen –, und oft nahm sie sie, wenn sie meinte, ihrem Leben würde etwas fehlen, wieder zur Hand und las einzelne Passagen, die sie innerlich berührt hatten, erneut und zog, so eigenartig ihr das manchmal selbst vorkam, eine tiefe innere Kraft daraus. Die Weisheiten dieses Volkes waren so klar und einfach und übten dennoch fast so etwas wie Magie auf Nora aus. Immer häufiger jedoch spürte sie Traurigkeit in sich, weil niemand aus ihrer Welt auch nur einen Funken Bereitschaft zeigte, sich für diese andere Welt zu öffnen, aus der man ihrer Meinung nach so viel lernen konnte. Auch sie wäre gar nicht bereit gewesen, so ursprünglich zu leben wie dieses Volk, aber sie bemühte sich, den tiefen Sinn und die große Weisheit in sich aufzunehmen, und versuchte einiges davon in ihre Welt zu übertragen.

Ihre Überlegungen führten sie aber auch in eine Nachdenklichkeit, die ihr vor Augen hielt, dass sie mit ihrem Leben so, wie es war, nicht nur glücklich war. An diesem Punkt angelangt, kämpfte sie stets mit dem Gefühl aufkommender Undankbarkeit, denn schließlich hatte sie es doch gut. Sie und ihr Mann hatten sich zwar früh gebunden, aber aus Liebe geheiratet, ihre Kinder aus Liebe bekommen und alles für das Glück ihrer Familie getan. Dennoch fühlte sie sich mittlerweile in ihrer schönen Welt gefangen. Sie und Max sprachen zwar oft davon, wie schön es sei, dass sie ihre Kinder jung bekommen hatten und sie so später, wenn diese auf eigenen Füßen stehen würden, noch jung seien, um gemeinsam die Welt zu entdecken. Aber manchmal verspürte Nora so etwas wie Beklemmungen, wenn sie daran dachte, dass dies noch zehn bis fünfzehn Jahre dauern konnte. Sie saß einfach fest in ihrer Welt. Voller Trauer wanderten ihre Gedanken wieder zu Sophie. Auch sie hatte noch so viel mit ihrem Leben vorgehabt. Warum verschob man immer alles auf später? Stets gab es Dinge, die anscheinend wichtiger waren, als zu leben, miteinander zu reden, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Da fiel ihr ein Zitat von John Lennon ein: »Leben ist das, was dir widerfährt, während du damit beschäftigt bist, anderweitig Pläne zu schmieden.«

Nora lebte bewusst. Sie nahm die schönen Dinge des Lebens immer wahr. Sie freute sich über einen strahlend blauen Himmel im Herbst, der das bunte Laub an den Bäumen besonders leuchten ließ, sie nahm jeden Vogel wahr, der in ihrem Garten sang, sie kannte alle Vogelarten und wusste, wo die einzelnen brüteten. Schon als ihre Kinder noch im Kinderwagen saßen, hatte sie begonnen ihnen Tiere und Pflanzen zu zeigen und zu erklären. Sie hatte sie auf die ersten Knospen im Frühjahr aufmerksam gemacht, auf eine besonders schöne Wolke am Himmel oder sie hochgehoben, damit sie von ihrem Arm aus in einem Vogelnest die gerade geschlüpften Jungvögel betrachten konnten. Sie fühlte Glück fast körperlich, wenn ihre Kinder übermütig lachten, wenn sie in die wunderschöne Klarheit ihrer Augen sehen oder einfach nur feststellen konnte, wie gesund und glücklich sie waren. Aber vielleicht spürte sie gerade weil sie über die Fähigkeit verfügte, dies alles so bewusst wahrzunehmen, in genau dem gleichen Maß auch das Ungute, die Ignoranz, die Intoleranz, den Neid oder die Gleichgültigkeit in der Welt. Sie litt darunter, ihren Kindern immer wieder erklären zu müssen, warum sich manche Menschen so und nicht anders benahmen, warum manche Kinder andere Kinder oder Tiere quälten oder beschimpften. Sie fühlte sich in ihrer Erziehung oft mit dem Rücken an die Wand gedrängt, wenn Niklas oder Marie sie dann mit wachem Blick musterten und sagten: »Aber Mama, ich denke, man soll anderen nicht wehtun oder gemein sein. Warum machen das denn so viele? Wissen die das nicht? Warum gibt es denn Krieg? Können sich die Erwachsenen nicht auch einfach wieder vertragen wie Patrick und ich, wenn wir uns gestritten haben? Warum hungern die Menschen in Afrika? Hier gibt es doch genug. Können wir denen nicht einfach etwas von unserem Essen schicken?« Es fiel ihr unsagbar schwer, ihren Kindern vorsichtig vermitteln zu müssen, dass es nicht immer eine zufriedenstellende Lösung für alles geben konnte, dass man sich manchmal mit dem Schlechten in der Welt abfinden musste. Selbst Max, mit dem sie oft versucht hatte darüber zu sprechen, sagte meistens: »Schatz, du machst dir viel zu viele Gedanken. Ich glaube nicht, dass sich andere so den Kopf zerbrechen. Schalt doch einfach mal ab!« Es gelang Nora aber nicht, und sie hatte immer häufiger das Gefühl, anders zu sein – oder womöglich den Verstand zu verlieren. Manchmal empfand sie den Gedanken an den Tod nicht mehr als erschreckend, sondern sogar als tröstlich. Aber sie hätte nicht einmal freiwillig aus dem Leben gehen können, denn wer würde dann darauf achten, dass ihren Kindern der menschliche Weg gezeigt wurde, den sie sich so für sie wünschte?

Nora riss sich aus diesen Gedanken und drückte ihren Hund noch einmal an sich. »Dein Frauchen wird wohl doch langsam verrückt, Kuno. Aber vorher kriegst du noch etwas zu fressen. Komm mit!« Sie war aufgestanden, um hineinzugehen, musste jedoch aufpassen, nicht über den freudig um sie herumspringenden Kuno zu stolpern, der das Wort »fressen« offenbar ganz genau verstanden hatte. In der Küche befahl Nora dem Hund, sich zu setzen, und schob Hundefutter mit einem Löffel aus der Dose in den Fressnapf. Erst als der Napf auf seinem Platz stand, wandte sie sich um und sah in Kunos erwartungsvolle Augen. Auf ihr Kommando kam er so eilig herangeprescht, dass er fast auf dem gefliesten Küchenboden ausrutschte. Mit einem Anflug von Galgenhumor strich sie ihm schmunzelnd über den Rücken und sagte »Vielleicht sollte ich dir etwas über die Welt erzählen oder über Australien und die Aborigines? Was, Kuno? Du würdest sicher zuhören – und wahrscheinlich mehr verstehen als mancher andere.«

Seufzend wusch sie sich die Hände, machte sich dann daran, die Spülmaschine auszuräumen, den Tisch zu decken und das Essen vorzubereiten, bevor sie die Kinder vom Sport und Reiten abholen musste. Sie freute sich auf ein gemeinsames Abendessen, denn auch Max wollte heute Abend einmal früh zu Hause sein. Er hatte dafür keinen besonderen Grund genannt, aber sie nahm an, dass ihn seiner Familie gegenüber das schlechte Gewissen plagte, weil er praktisch immer erst aus dem Büro kam, wenn die Kinder schon schliefen. Nora lächelte. Manchmal schien ihm eben doch aufzufallen, dass sein Nachwuchs fast ohne ihn groß wurde.

Noras großer Traum

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