Читать книгу Noras großer Traum - Christin Busch - Страница 9
6
ОглавлениеNora lehnte den Kopf an das Fenster und sah hinaus. Die kleine Passagiermaschine dröhnte, so dass sie das Vibrieren der Scheibe deutlich wahrnahm. Nachdenklich betrachtete sie die weite Landschaft unter sich. Sie hatten die Blue Mountains schon eine Weile hinter sich gelassen und überflogen New South Wales. Es war kaum zu glauben, was sie in diesem Land bereits alles gesehen hatte. Dennoch genoss sie gerade das Gefühl, dass ihre Reise noch nicht zu Ende war. Mit Spannung sah sie nun ihrem Aufenthalt in Cameron Downs entgegen, wo sie die dortige Base der Flying Doctors kennen lernen würden.
Martin Sanders saß neben ihr und beobachtete sie lächelnd. Er mochte Nora. Obwohl er ganz zu Anfang Bedenken gehabt hatte, als er von ihrer gemeinsamen Australien-Reportage erfuhr. Zum einen verfügte sie über wenig Auslandserfahrung, schließlich hatte sie beruflich einige Jahre wegen ihrer Kinder pausiert, zum anderen, und das hatte ihn am meisten gestört, war sie die Ehefrau des Marketingleiters von Johann & Sohn, dem Verlag, bei dem er angestellt war. Schnell nach ihrem Treffen war jedoch klar gewesen, dass Nora sehr sympathisch war, frei von jeder Arroganz, fachlich interessiert, und – das wiederum hatte ihn auf ihrer bisherigen Reise am meisten beeindruckt – sie hatte die Fähigkeit, Menschen das Gefühl zu geben, wichtig zu sein. Wann immer sie mit anderen Leuten zusammentrafen, besonders in der räumlichen Enge des Indian Pacific war es ihm aufgefallen, hatte sie das unter Beweis stellen können. Sie hörte zu, stellte Fragen, war mitfühlend und humorvoll, dabei aber nie aufdringlich oder neugierig im negativen Sinne. Die Zeit, die sie gemeinsam in Australien unterwegs gewesen waren, hatte Spaß gemacht, und das berufliche Miteinander konnte man auch als Erfolg versprechend bezeichnen. Er lächelte erneut, als er jetzt ihr ernstes Gesicht bemerkte, das von großen grünbraunen Augen beherrscht wurde, die momentan sorgenvoll vor sich hin blickten.
»Was ist los, Nora? Machst du dir Sorgen?«
Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf, so dass ihr eine Strähne ihres goldbraunen Haars ins Gesicht fiel. Sie strich sie zur Seite. »Nein, nein. Ich bin einfach nur ein wenig nervös.«
Er streckte sich, so weit der Sitz dies zuließ. »Das brauchst du nicht. Ich bin doch schon fast überall gewesen. Glaub mir, es gibt auf der ganzen Welt nette und aufgeschlossene Menschen.«
Er grinste spitzbübisch. »Und wenn wir Glück haben, gibt’s die auch in Cameron Downs.«
Nora seufzte. »Na, hoffentlich hast du Recht.«
Als sie einige Zeit später das Cameron Hotel von Carol und Sam Winton betraten, war an der Bar noch nicht viel los. Carol lächelte die Neuankömmlinge freundlich an. »Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«
Nora und Martin stellten ihre Reisetaschen ab, wobei Martin sich vorsichtig über seine Kameras beugte, um sicherzugehen, dass niemand darauf treten konnte. Nora fand Carol schon sympathisch.
»Ich bin Nora Bergmann, und das hier«, sie wies auf ihren Kollegen, »ist Martin Sanders. Es müssten für uns zwei Zimmer reserviert sein.«
»Ah, ja! Sie sind sicher die Journalisten, die über uns hier im Outback und unseren Ärztedienst berichten wollen, stimmt’s?« Sie strahlte und schob Nora das Gästebuch über den Tresen zu.
»Wenn Sie sich bitte eintragen würden. Ich bin übrigens Carol Winton. Mein Mann Sam und ich führen das Cameron. Hoffentlich fühlen Sie sich wohl bei uns. Wir werden hierzu unser Bestes tun.« Sie sah zu einem Tisch in der Nähe. »Phil, kommt doch mal rüber.« Zu Nora gewandt sagte sie: »Ich möchte Ihnen gleich jemanden vorstellen.«
Phil erhob sich und kam mit Kim Michaels zur Bar. »Hallo!« Carol wies auf ihre Gäste. »Phil, das sind Nora Bergmann und Martin Sanders, die Journalisten, die über das Leben im Outback berichten wollen. Und das hier ist Phil McGavin, der Pilot unseres Ärztedienstes.«
Phil lächelte. »Freut mich, Sie kennen zu lernen. Nennen Sie mich bitte Phil.«
»Gerne. Dann sagen Sie aber auch Nora.«
»Und ich bin Martin.«
Nachdem sie sich auch mit Kim Michaels bekannt gemacht hatten, nahm Carol die Schlüssel vom Haken.
»So, ich zeige Ihnen jetzt Ihre Zimmer. Sie sind doch bestimmt müde von der Reise, und wir sollten Sie nicht so überfallen. Kommen Sie bitte mit.«
Am nächsten Morgen betraten Nora und Martin die Zentrale und sahen sich suchend um. Lisa hatte sie als Erste bemerkt und ging freundlich lächelnd auf sie zu.
»Hallo, Sie sind bestimmt unsere Gäste aus Deutschland, Mrs. Bergmann und Mr. Sanders, habe ich Recht? Ich bin Lisa Jarrett«, sie blickte an ihrer Schwesterntracht hinunter, »und wie Sie sehen, bin ich Schwester hier beim RFDS.«
Nora lächelte zurück. »Hallo, Mrs. Jarrett. Wie nett, Sie zu treffen. Aber bitte nennen Sie mich Nora.«
Martin strahlte Lisa entwaffnend an. »O ja, und ich bin Martin. Ich freue mich schon auf die Arbeit hier.«
»Na, dann kommen Sie bitte mit, mein Mann erwartet Sie bereits.«
Bill saß hinter seinem Schreibtisch und erhob sich, als Lisa die Besucher ankündigte. Auch er war gespannt gewesen, mit wem sie es in den nächsten Tagen zu tun haben würden. Er ging den beiden Gästen entgegen.
»Guten Morgen, ich bin Bill Jarrett.« Er schüttelte Nora und Martin die Hand.
Nora lächelte ihn offen an. »Dr. Jarrett, wie schön, Sie kennen zu lernen. Wir freuen uns schon sehr auf die Zusammenarbeit mit ihnen.«
Sie setzten sich, und Bill erläuterte ihnen das System des Hying Doctor Service, das Zusammenwirken von Klinik und Funkzentrale sowie den Ablauf der wöchentlichen Kliniktouren, bei denen Sprechstunden auf abgelegenen Farmen oder kleinen Krankenstationen im Outback abgehalten wurden.
Die beiden hörten aufmerksam zu, stellten dann und wann Fragen, und Nora machte sich Notizen. Schließlich blickte Bill von einem zum anderen.
»So, das wäre im Grunde erst einmal das Wesentliche. Wir sollten jetzt überlegen, wie Ihre nächsten Tage aussehen könnten. Haben Sie da schon bestimmte Vorstellungen?«
Nora sah von ihrem Notizbuch auf. »Das überlassen wir ganz Ihnen, Dr. Jarrett. Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass wir Sie bei Ihrer Arbeit begleiten dürfen«, sie sah ihn entschieden an, »aber wir möchten in keiner Weise Ihre Routine stören oder die sonstigen Planungen beeinträchtigen. Wo es passt, freuen wir uns, wenn wir dabei sein dürfen. Wo wir stören, bleiben wir weg. Also Sie entscheiden das einfach, okay?«
Bill grinste beide an. »Okay! Ich denke, man kann jetzt schon davon ausgehen, dass die Zusammenarbeit mit Ihnen nicht allzu kompliziert werden dürfte.« Er blätterte in seinen Unterlagen. »Dann lassen Sie mich mal sehen. Ich schlage vor, Sie verbringen den heutigen Tag bei uns im Krankenhaus, und dann könnten Sie morgen ...«
Es klopfte kurz an der Tür, und sein Kollege steckte den Kopf herein.
»Oh, hallo! Ich wusste nicht, dass du schon Besuch hast, Bill. Dann komme ich später wieder.«
Er wollte sich schon abwenden, doch Bill rief ihn zurück. »Tom, komm doch bitte herein. Dann kann ich dich auch gleich vorstellen.« Tom trat ein. Bill wies kurz auf ihn und sah zu den Journalisten. »Dies ist Dr. Morrison. Und das, Tom, sind unsere Gäste aus Deutschland, Mrs. Nora Bergmann und Mr. Martin Sanders.«
Tom reichte beiden die Hand. Sein Blick blieb etwas länger an Nora hängen, die ihm ausgesprochen gut gefiel. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft war sie etwas befangen, denn auch er hatte eine Wirkung auf sie, die sie zunächst gar nicht recht einordnen konnte. Um es zu überspielen, lächelte sie ihn freundlich an.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Dr. Morrison.«
Tom erwiderte ihr Lächeln. »Ganz meinerseits, Mrs. Bergmann.«
Er sah zu Martin. »Mr. Sanders. Hoffentlich hatten Sie eine angenehme Reise.«
Bill hatte sich wieder seinen Unterlagen zugewandt.
»Tom, nimm dir einen Stuhl, und setz dich bitte zu uns. Wir besprechen gerade die Planung der nächsten Tage. Vielleicht kannst du dabei helfen.« Er blickte wieder auf. »Oder hast du etwas Dringendes zu tun?«
Tom stellte einen weiteren Stuhl an den Schreibtisch seines Kollegen und nahm Platz. »Nein, nein, das hat Zeit. Also, worum geht es?«
In der nachfolgenden Besprechung einigten sie sich darauf, dass Nora und Martin den Tag in der Klinik verbringen würden. Morgen sollten sie dann Lisa und Tom auf ihrer Kliniktour zur Farm der Spencers begleiten und den darauf folgenden Tag bei Greg Wilson in der Funkzentrale zubringen, um dort auch einen Eindruck über das Funknetz und die Verbindungen zu den Farmen im Outback zu bekommen. Schließlich sah Nora von Tom zu Bill.
»Ich freue mich wirklich sehr, dass Sie uns erlauben, Sie bei Ihrer Arbeit zu begleiten.« Sie blickte kurz zu Martin, der ihr grinsend zustimmte, dann fuhr sie fort: »Ich versichere Ihnen, dass wir uns nach Kräften bemühen werden, nicht zu stören oder im Weg zu stehen.« Verlegen machte sie eine Pause. »Als kleines Dankeschön für Ihre Freundlichkeit möchten wir Sie und Ihr Team heute Abend gerne zum Essen einladen.« Fragend sah sie die beiden Ärzte an.
Tom nickte lächelnd, während Bill einen Bleistift aus der Hand legte und sagte:
»Wir kommen gern. Ich werde den anderen auf jeden Fall Bescheid geben.«
Der Tag in der Klinik verlief interessant. Nora und Martin beobachteten unaufdringlich die Ärzte und Schwestern des Ärztedienstes bei der Arbeit. Wenn ersichtlich war, dass keine akute Notsituation vorlag, baten sie die jeweilige Schwester, sich bei dem Patienten zu erkundigen, ob er mit ein paar Fragen oder einem Foto einverstanden wäre. Das waren die meisten dann auch, so dass Nora sich einiges notieren konnte und Martin zu ersten Fotos aus dem Klinikalltag kam. Als sie abends gemeinsam zum Hotel gingen, um sich für das Abendessen frisch zu machen und ihre Sachen zu verstauen, grinste Martin Nora von der Seite an.
»Na?«
»Was, na?«
Sie war müde und freute sich auf eine kleine Ruhepause vor dem Abendessen.
Er hängte sich seine Kameratasche über die Schulter.
»Ich meine: Na? Bist du mit dem Tag zufrieden?«
»Ja, ich denke, wir können beide zufrieden sein, oder? Es läuft doch alles richtig gut. Wenn es so weitergeht, werden wir die beste Reportage über Australiens Outback und die Flying Doctors abliefern, die es je gegeben hat, Mr. Sanders.«
Er legte einen Arm um ihre Schultern und stimmte ihr zu. »Genau, Mrs. Bergmann.«
Nachdem sie sich erfrischt und umgezogen hatten, wollten sich die beiden auf dem Flur treffen, um gemeinsam hinunterzugehen. Nora wartete auf Martin und lehnte sich gegen die Wand. Ihre Finger spielten mit dem Zimmerschlüssel.
Sie war froh darüber, Martin an ihrer Seite zu haben. Er war ein stets gut gelaunter und ausgeglichener Kollege, mit dem sie gerne zusammenarbeitete. Obwohl sie ihn noch nicht lange kannte, schätzte sie ihn bereits wie einen richtig guten Freund. Bei ihrer ersten Begegnung hätte sie das nicht sofort für möglich gehalten. Sein Äußeres ließ ein wenig auf einen erfolgsgewohnten Frauenhelden schließen – braungebrannt, dunkle Locken, dunkle Augen, lässiges Auftreten eines weit gereisten Fotografen. Schnell hatte sie jedoch erkannt, dass er zwar über ein gesundes Selbstvertrauen und ein schier unerschöpfliches Maß an Humor verfügte, daneben aber ruhig und professionell arbeiten konnte und anderen jederzeit hilfsbereit zur Seite stand. Auch die Sorge nach seinem Sturz und die gemeinsam durchgestandene Hilfsaktion hatten sie einander näher gebracht und sie feststellen lassen, dass sie ein gutes Team bildeten.
Als sich Martins Tür öffnete, sah sie auf. Wie immer grinste er sie fröhlich an. Dann blickte er an ihrem hellen Sommerkleid hinunter, bis zu den dazu passenden Sandalen. Sie wurde nervös.
»Was ist denn? Bin ich falsch angezogen? Sag schon! Dann kann ich mich noch schnell umziehen. Martin!«
Dieser strahlte sie an. »Du siehst einfach klasse aus, Nora. Ich habe mich nur gefragt, wer heute Abend noch einen Blick an mich verschwenden wird.«
Sie hakte sich bei ihm ein und lächelte erleichtert. »Na, wer schon? Alle Damen werden wie immer verrückt nach dir sein, das weißt du doch.« Dann wurde sie ernst und blieb stehen. »Ich bin froh, Martin, dass du dabei bist. Es macht Spaß, mit dir zu arbeiten.«
Nun war auch er ernst geworden und sah sie an.
»Das Kompliment kann ich gleich zurückgeben. Ich arbeite auch sehr gern mit dir, und ... Nora, du bist eine tolle Frau.« Sie schluckte. »Gut, dass es hier so dunkel ist. Ich glaube, ich bin gerade rot geworden.«
Er lachte. »Los, komm jetzt. Wir haben heute Gäste.«
Der Abend verlief unkompliziert und angenehm. Martin half Nora über deren anfängliche Verlegenheit hinweg, ohne dass es die anderen groß mitbekamen. Nora liebte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen, also hatte Martin ganz locker angefangen über ihre bisherigen Erfahrungen in Australien zu sprechen. Munter erzählte er gerade von ihrer Reise im Indian Pacific und den Menschen, die sie dort getroffen hatten. Immer wieder hob er lustige Episoden hervor, in deren Verlauf er Nora mit Fragen zum Weitererzählen animierte, so dass sie schließlich gemeinsam berichteten.
Nach einiger Zeit konnte Nora für sich feststellen, dass sie alle am Tisch mochte. Neu hinzugekommen waren noch Dr. Jason Lewis, offensichtlich der jüngste unter den Ärzten, ein ruhiger, freundlicher Mann mit einem verschmitzten Lächeln, und Greg Wilson, der Funker, ein Mann mittleren Alters, der sicherlich auch sehr resolut sein konnte, das Herz aber wohl auf dem rechten Fleck hatte. Während Martin gerade wieder alle mit einer witzigen Geschichte unterhielt, ließ Nora einen Moment ihre Gedanken abschweifen. Sie drehte versonnen den Fuß ihres Weinglases und beobachtete, wie sich das Licht in ihrem dunklen Rotwein spiegelte. Sie fühlte sich glücklich und zufrieden.
Es erschien ihr fast ein wenig unglaublich, wie nett sie aufgenommen worden waren und wie reibungslos ihr Auftrag hier lief. Die Menschen, die ihr bislang begegnet waren, hatten ausnahmslos einen interessanten und freundlichen Eindruck auf sie gemacht, und Australien gefiel ihr sehr.
Sie riss sich aus ihren Gedanken und sah auf. Tom schaute sie an, und ihre Blicke trafen sich. Er schien sie beobachtet zu haben, denn ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Ein wenig verlegen lächelte Nora zurück, wandte dann aber den Blick ab und bemühte sich, wieder der Unterhaltung der anderen zu folgen. Martin war gerade die Frage gestellt worden, was ihm an Australien bislang am besten gefallen und ob er sich freiwillig für die Reise gemeldet habe. Er sah zu Nora.
»Na, Nora, was hat uns bislang besonders gefallen? Die Kängurus? Und: Sind wir freiwillig hier?«
Nora stellte ihr Glas vor sich hin und drehte es wieder ein wenig. »Also, mir hat schon sehr viel hier in Australien gefallen. Es war immer mein großer Wunsch, hierher zu kommen, insofern bin zumindest ich absolut freiwillig hier.« Sie zwinkerte Martin zu, bevor sie fortfuhr. »Lassen Sie mich kurz überlegen. Zuerst der Norden, dieser unglaublich schöne Kakadu National Park, im Westen Perth, die irgendwie einsame Großstadt am Indischen Ozean, dann die Fahrt durchs Landesinnere – teilweise nichts außer einem endlosen Horizont. Kurz vor Sydney die Blue Mountains und dann Sydney selbst. Eine tolle Stadt, quirlig, lebendig und trotzdem durch die vielen Grünflächen auch schön und erholsam. Eigentlich fällt es mir schwer, mich festzulegen, aber ich glaube, am meisten haben mir die Sonnenaufgänge gefallen, die ich aus meinem Abteil im Indian Pacific beobachten konnte. Sie machten mir diese scheinbar nicht enden wollende Weite deutlich, die die Bewohner des Outback vielleicht manchmal kaum mehr ertragen können, weil sich hier der Wunsch nach Gesellschaft regt, weil es schwer sein kann, nicht mal eben um die Ecke einkaufen oder mit dem Nachbarn reden zu können, der mitunter fünfhundert Kilometer entfernt wohnt – aber für jemanden wie mich aus dem dicht besiedelten Europa ist diese Weite einfach unvorstellbar schön.« Aus ihren Augen leuchtete Begeisterung. »Alle Menschen, die uns dort begegnet sind, waren freundlich und aufgeschlossen, vielleicht gerade weil sie hier so viel Raum zum Leben haben. Auch wenn sie dort draußen sehr hart arbeiten müssen, sind die Beziehungen untereinander wichtig, obwohl man weit auseinander wohnt. Nachbarn sind dort Freunde und manchmal sogar lebenswichtig. Menschen sind nicht so einfach austauschbar, wie es eben in vielen Städten, die ich kennen gelernt habe, der Fall ist. Die Weite dieses Landes hier verpflichtet die Leute praktisch, sich miteinander Mühe zu geben und einander zu helfen.« Sie unterbrach sich, weil sie bemerkte, dass zwar alle interessiert, aber ernst zuhörten. Sie hatte nicht beabsichtigt, die Fröhlichkeit der Runde zu beeinträchtigen, also hob sie ihr Glas und lächelte den anderen zu.
»Auf Ihr Land! Wir freuen uns darauf, mehr davon zu sehen.« Als alle einen Schluck genommen hatten, sagte Martin: »Ja, ich kann meiner Kollegin nur zustimmen, ich wäre aber sicher nicht in der Lage gewesen, es so auszudrücken, wie sie es getan hat. Also, Nora, nur gut, dass du dich endlich einmal von deinen Kindern losreißen konntest.«
Lisa, die ihr gegenübersaß und deren ganzer Stolz ihre beiden Söhne waren, die zur Zeit ein Internat in Sydney besuchten, beugte sich interessiert vor.
»Ach, Sie haben Kinder, Nora? Erzählen Sie doch.«
Während Martin den oberen Kreis der Tafel unterhielt, berichtete Nora jetzt Lisa und Bill sowie Kim und Greg von ihren Kindern und dem Leben in Deutschland.
»Niklas ist zehn Jahre alt, und seine Schwester Marie ist im letzten Monat sieben geworden.« Sie lächelte vor sich hin. »Martin hat Recht, bis jetzt habe ich es noch nie fertig bekommen, sie allein zu lassen. Aber nun sind sie schon größer, und außerdem haben meine Eltern sich bereit erklärt, während meiner Reise bei uns zu wohnen und auf meine Schätze zu achten.«
Die Unterhaltung verlief angeregt und ungezwungen. Als man schließlich aufbrach, waren alle müde geworden, doch Nora freute sich schon auf den nächsten Tag. Nun, da sie das ganze Team kennen gelernt hatte, brauchte sie sicher nicht mehr nervös zu werden. Müde, aber sehr zufrieden stieg sie neben Martin die Treppe hoch. »Na?«
Er gähnte. »Das war doch ein schöner Abend, oder?«
Sie hakte sich bei ihm ein. »Ja. Und du bist ein fabelhafter Gastgeber gewesen.« Sie waren an ihrer Zimmertür angekommen. Er gab ihr einen brüderlichen Kuss auf die Stirn. »Schlaf schön, bis morgen. Du warst übrigens auch toll.«
»Schlaf auch gut, Martin.«