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Der Arzt beugte sich über das etwa sechsjährige Mädchen, um die eben vorgenommene Naht am Haaransatz noch einmal zu kontrollieren. Zufrieden nickte er der Mutter zu, die besorgt neben ihm im Behandlungszimmer stand.

»Keine Angst, Mrs. McKenzie, es wird gut verheilen. Und die Narbe wird später kaum zu sehen sein.« Er strich dem Kind über den Kopf und nickte nun der Schwester zu, die daraufhin eine flache Schublade mit Spielzeugfiguren aufzog und der Kleinen zulächelte.

»Sieh mal, Laura, du darfst dir etwas aussuchen, weil du so tapfer warst.« Während das Mädchen verschiedene Tiere begutachtete, war die Mutter dem Arzt zum Schreibtisch gefolgt.

»Dr. Morrison, wie schaut es aus, kann Laura schon mit nach Hause?« Sie nahm vor dem Schreibtisch Platz und blickte ihn erwartungsvoll an. Die Anspannung hatte offenbar noch nicht nachgelassen. Der Schreck über den Unfall ihrer Tochter schien ihr noch in den Knochen zu stecken, denn sie sah müde und mitgenommen aus. Der Arzt drehte einen Stift in der Hand und blickte auf.

»Ich würde Laura gerne einen oder zwei Tage hier in der Klinik behalten.« Als er bemerkte, dass sie zusammenzuckte, hob er beschwichtigend die Hände. »Keine Angst, es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Der Sturz vom Scheunendach war schließlich keine Kleinigkeit, und Sie sagten mir, sie sei kurz bewusstlos gewesen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat sie nur eine Gehirnerschütterung. Um jedoch Schlimmeres völlig ausschließen zu können, möchte ich in der Klinik noch eine Röntgenaufnahme machen und sie zur Beobachtung dabehalten.«

Die Mutter der Kleinen nickte zögernd. Sie fühlte sich schuldig, wie immer, wenn irgendetwas mit den Kindern nicht glatt lief. Draußen auf der Farm war sie von frühmorgens bis spätabends im Einsatz. Neben all den Arbeiten, die für sie dort anfielen, kümmerte sie sich auch sorgfältig darum, dass ihre Kinder immer pünktlich und vorbereitet am Funkunterricht, der »School of the Air«, teilnahmen. Bitter stellte sie für sich fest, dass all ihre Bemühungen offensichtlich nicht ausreichten. Hätte sie nicht verhindern müssen, dass ihre Tochter auf das Scheunendach kletterte? Mit gesenktem Kopf betrachtete sie ihre Hände im Schoß und drehte mechanisch ihren Ehering.

Dem Arzt war ihre Niedergeschlagenheit nicht entgangen. Er arbeitete schon einige Jahre hier und hatte oft erleben müssen, dass sich die Menschen draußen auf den Farmen überforderten und zu viel von sich verlangten. Es gab aber meistens keinen Ausweg, denn wer – wenn nicht sie – sollte die ganze Arbeit, die anfiel, denn sonst erledigen? Die klimatischen Bedingungen in diesem Land machten es den Farmern nicht immer einfach; Missernten durch Dürre brachten sie nicht selten in finanzielle Schwierigkeiten. Nicht alle Farmerfamilien konnten sich Hilfskräfte leisten, und so stießen sie dann häufig an ihre eigenen Grenzen.

Er war aufgestanden, langsam um den Schreibtisch herumgegangen und hatte sich vor ihr auf die Tischkante gesetzt. »Mrs. McKenzie, Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Solche Dinge passieren früher oder später den meisten Kindern, ob es sich nun um ein Klettergerüst auf einem Spielplatz in der Stadt handelt oder um ein Scheunendach auf dem Land. Wir sollten jetzt einfach nur froh sein, dass es so glimpflich abgelaufen ist. Ich schätze, in zwei Tagen können Sie mit ihr nach Hause.«

Unsicher sah sie den Arzt an und zwang sich zu einem Lächeln. »Danke, Dr. Morrison. Ich werde meinem Mann Bescheid geben und mir ein Zimmer nehmen, damit ich bei Laura bleiben kann.« Die junge Schwester, die sich mit der Kleinen und den Spielzeugtieren beschäftigt hatte, zwinkerte dem Mädchen zu. »Sag mal, bist du schon einmal in einem Bett spazieren gefahren worden?« Laura sah sie gespannt an und schüttelte dann ganz langsam den Kopf. Die Schwester schob ein schmales Krankenhausbett in die Mitte des Raumes und setzte sich darauf. Sie deutete neben sich. »Na komm, probier’s auch mal.« Die Kleine kletterte ebenfalls auf das Bett und lächelte erwartungsvoll. Die Schwester hatte sich wieder erhoben und stand nun vor ihr. »Weißt du was? Wenn du dich jetzt lang ausstreckst, fahre ich dich ein wenig herum und zeige dir alles, und deine Mama kommt auch mit. Ist das ein Vorschlag?«

Lächelnd ging Mrs. McKenzie zu ihrer Tochter und stellte sich neben das Bett. »Das sollten wir uns nicht entgehen lassen, was, mein Schatz?«

Der Arzt sprach noch kurz mit der Schwester, bevor er sich zu seiner Patientin umwandte. »Also, Laura, wir sehen uns nachher auf der Station. Bis später.«

Allein in seinem Büro, war er vor dem Fenster stehen geblieben und sah hinaus. Eine Fahne flatterte im Wind, und auf einer ovalen Grünfläche bemühten sich gerade zwei Rasensprenger darum, der Sonne ein Stück Rasen abzutrotzen. Es war ein ruhiger Tag, und so konnte er es sich erlauben, einen Moment seinen Gedanken nachzuhängen. Wie immer, wenn er Kinder behandelt hatte, war er innerlich betroffen und fühlte sich an seine kurze Ehe mit Sarah erinnert.

Als sie sich in Sydney kennen gelernt hatten, war er gerade dabei gewesen, seine Facharztausbildung abzuschließen, während sie ihr Studium der Pharmazie beendete. Im Freundeskreis galten sie schnell als Traumpaar. Die langbeinige, dunkelhaarige Schönheit Sarah entstammte einer alteingesessenen und erfolgreichen Familie, die sich ebenfalls von dem jungen, aufstrebenden Mediziner angetan gezeigt hatte. Die Zukunft lag rosig vor ihnen. Vielleicht war immer alles zu glatt gelaufen, dachte jetzt Dr. Tom Morrison. Es hatte keinerlei Probleme zwischen ihnen gegeben, bis er sich beim Royal Flying Doctor Service of Australia beworben hatte. Nun schien Sarah zum ersten Mal unzufrieden. »Was willst du denn da draußen? Du könntest hier doch so viel mehr erreichen.«

Gedankenverloren kratzte Tom sich am Ohr. Er hätte schon damals erkennen müssen, wie wenig sie zueinander passten und dass sie besser nicht geheiratet hätten. Widerstrebend war Sarah ihm nach Cameron Downs ans Krankenhaus gefolgt, wo sie als Apothekerin ebenfalls eine Stelle bekam. Während er schnell Freude an seinen neuen Aufgaben, den Menschen und der Arbeitsweise des fliegenden Ärztedienstes fand und seine Liebe für das Land entdeckte, vermisste seine Frau das Stadtleben und den alten Freundeskreis. Da sie sich nicht glücklich fühlte, strahlte sie eine kühle Unnahbarkeit aus, die in niemandem den Wunsch aufkommen ließ, die Freizeit mit ihr zu verbringen. Als sie dann noch unerwartet schnell schwanger geworden war, hatte Tom sich unbändig gefreut, während sie völlig außer sich gewesen war und ihm Vorwürfe gemacht hatte, dass er sie mit einem Kind hier im Niemandsland ans Haus fesseln wollte. Auch in den darauf folgenden Monaten war es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen gekommen. Er hatte geglaubt, sie werde sich hier schon einleben, und umgekehrt hatte sie angenommen, er werde schon einsehen, wie viel besser es ihnen in Sydney gegangen war. Ihre Lebensauffassungen drifteten immer weiter auseinander, bis zu dem schrecklichen Tag, an dem sie sein Kind verloren hatte. Tom rieb sich die Schläfen, aber die Erinnerung ließ sich nicht einfach wegwischen, sie erschien glasklar vor seinem inneren Auge.

Es hatte Streit gegeben, er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, worum es gegangen war. Sie hatte sich die Autoschlüssel gegriffen und war mit dem Wagen davongebraust. Er hatte sich zunächst keine Sorgen gemacht. Es war schon öfter vorgekommen, dass sie zum Fluss hinunterfuhr, um sich nach einem Streit zu beruhigen, dort die Füße zu vertreten und einen klaren Kopf zu bekommen. Sie musste die Kurve zu scharf genommen haben, und da sie sich in ihrer Wut und Eile nicht angeschnallt hatte, war sie hinausgeschleudert worden. Der Besitzer der örtlichen Werkstatt hatte sie gefunden und sofort die Klinik angefunkt. Von dort war er benachrichtigt worden. Er erinnerte sich noch ganz genau an die Angstgefühle, die in ihm aufgestiegen waren. Seine Hände waren eiskalt und klamm gewesen, als er in seinem Wagen den Motor angemacht hatte. Er hatte eine unbändige Wut auf sich selbst verspürt, dass er es zu dieser Auseinandersetzung hatte kommen lassen. Als er dann im Krankenhaus war, hatte ihn sein Freund und Kollege Dr. William Jarrett schon so merkwürdig angesehen. Er kannte diesen Blick, wollte ihn aber nicht wahrhaben und fragte atemlos: »Wie geht es Sarah? Wie schwer sind die Verletzungen, Bill?«

Bill hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. »Tom, bleib ruhig. Sarah wird überleben. Sie hat eine Gehirnerschütterung und einen komplizierten Armbruch. Ich bin schon auf dem Weg zum OP, wir müssen gleich operieren.« Er machte eine Pause, in der er sich umständlich die Manschetten seines Hemdes aufknöpfte.

Tom sah ihn gespannt an. »Und das Baby?«

Bill hatte ernst und bedauernd den Kopf geschüttelt.

»Sie hat es eben verloren. Tom, es tut mir so Leid, wir konnten nichts mehr für ihn tun. Es war einfach zu früh.«

Wortlos hatte Tom sich umgedreht und war langsam den Gang hinuntergegangen, bis er am Ende vor einem Fenster stehen geblieben war. Er hatte seine Stirn gegen das kühle Glas gelehnt und die Augen geschlossen. Sein Kind – sein Sohn – war tot, weil seine Eltern sich unbedingt hatten streiten müssen. Ihm war übel geworden, und er hatte sich mit den Händen auf der Fensterbank abgestützt und mit gesenktem Kopf auf die Schattierungen des Marmors gestarrt, als wollte er sich jede Einzelheit einprägen. Lisa Jarrett war leise herangekommen und hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt.

»Tom? Sarah fragt nach dir. Möchtest du sie vor der Operation nicht noch einmal kurz sehen?« Sie wartete ab, und als keine Reaktion von ihm kam, fuhr sie fort: »Tom, sie braucht dich jetzt besonders.«

Er hatte den Kopf gehoben und nach draußen geschaut. Sein Herz hatte schneller geschlagen. Als er sich zu Lisa umwandte, konnte sie die Bitterkeit in seinen Augen erkennen.

»Sarah braucht niemanden.« Er hatte eine Pause gemacht, bevor er hinzufügte: »Nicht einmal das Baby.«

Lisa hatte nach seiner Hand gegriffen und ihn ernst angesehen. »Komm schon, Tom. Das ist ja nicht dein Ernst. Du bist unendlich enttäuscht, und das ist auch dein gutes Recht. Aber du bist auch verheiratet, und deine Frau braucht dich jetzt. Sie hat das Baby genauso verloren wie du.«

Langsam hatte sich sein Blick von einer Grünpflanze gelöst, die in einem viel zu kleinen Topf vor sich hin kümmerte. Es hatte wohl noch niemand Zeit gefunden, sie umzutopfen. Etwas in Tom war zerbrochen. Er drehte sich wieder zu Lisa um und schaute ihr ins Gesicht. »Sie hat unser Kind nie gewollt, Lisa.« Diese hatte ihn betroffen angesehen. Ihr war für den Moment nichts mehr eingefallen, was sie darauf hätte erwidern können. Also hatte er sich abgewandt und war langsam zum Operationsraum gegangen. Innerlich aufgewühlt und verzweifelt, vermochte er sich nicht im Geringsten vorzustellen, wie er seiner Frau jetzt eine Hilfe sein könnte. Natürlich war er froh, dass sie nicht schwer verletzt worden war, aber der Verlust des Kindes hatte ihn so getroffen, wie er es selbst nicht für möglich gehalten hätte. Er hatte sich unsagbar auf das Baby gefreut, auf sein erstes Kind.

Als er vor dem OP-Bereich angekommen war, hatte er sich mechanisch einen Kittel übergestreift und die Tür aufgestoßen. Der Anästhesist stand schon bereit, während Bill sich im Nebenraum noch die Hände bis zu den Ellbogen schrubbte. Sarah blickte ihm unglücklich entgegen. Trotz der komischen OP-Haube und des großen Pflasters auf der Stirn sah sie schön aus. Als er bei ihr angelangt war, schaute sie ihn aus großen Augen forschend an. »Tom, du glaubst doch nicht etwa, ich hätte es absichtlich getan?« Der Gedanke war ihm zwar kurz durch den Kopf geschossen, aber er hatte ihn als abwegig beiseite geschoben. Er strich ihr über die Wange und schüttelte stumm den Kopf. Plötzlich stand Verzweiflung in ihren Augen. Sie spürte, dass Tom seelisch aus dem Gleichgewicht geraten war; er war sonst nie um eine Antwort verlegen. »Bitte glaub nicht, dass ich es nicht gewollt habe, Tom. Ich habe mir dieses Kind mit dir gewünscht, nur wäre ich lieber in Sydney schwanger geworden als hier in Cameron Downs. Ich habe mich hier doch nie zu Hause gefühlt.« Ihre Augen wanderten von der OP-Beleuchtung zum Beatmungsgerät. »Tom, was passiert jetzt mit mir? Wirst du dabei sein?«

Er hatte ihre Hand in seine genommen. »Mach dir keine Sorgen, Sarah. Bill wird eine Ausschabung vornehmen müssen, und hinterher bringt er noch deinen Arm in Ordnung.« Er hatte ihr in die Augen gesehen. »Ich bleibe bei dir, okay?« Sie hatte genickt, und das OP-Team war bereit gewesen.

Danach war es zwischen ihnen nie wieder so wie zuvor geworden. Sie gingen vorsichtiger miteinander um, es hatte sich aber eine kühle Distanz eingeschlichen. Nie wieder stritten sie so leidenschaftlich wie früher, doch sie liebten sich auch nie mehr mit der früheren Leidenschaft. Tom hatte gespürt, dass es auch an ihm lag. Er war nicht mehr bereit gewesen, sein Leben wie bisher fortzusetzen. In ihm hatte sich eine Unruhe breit gemacht, die ihn nach Veränderungen suchen ließ. Eines Tages, als er in der Mittagspause eine medizinische Zeitschrift durchblätterte, las er den Aufruf eines Hilfskomitees, das dringend noch Ärzte für einen Einsatz in Äthiopien suchte. Nachdenklich hatte er einen Schluck Kaffee genommen und auf die Anzeige gestarrt. Etwas in seinem Inneren hatte sich sofort angesprochen gefühlt. War das die Chance, nach der er suchte? Konnte er dort vielleicht die eigenen Probleme vergessen? Er hatte gegrübelt, ob Sarah ihm noch einmal folgen würde. Er hoffte es, denn er wünschte sich einen neuen Anfang mit ihr und spürte, dass ihnen dieser hier nicht gelingen würde.

Dann war alles sehr schnell gegangen. Auf seine Anfrage hin hatte das Hilfskomitee sofort reagiert und ihm Unterlagen zugesandt, die er eingehend studierte. Er musste feststellen, dass Äthiopien zu den ärmsten Ländern der Erde gehörte und durch den lang anhaltenden Bürgerkrieg wirtschaftlich zerrüttet wurde. Hinzu kam die übergroße Dürre, die mehrfach zu Hungerkatastrophen führte. Weiterhin belastet wurde diese ohnehin schon schwierige Situation durch Flüchtlinge aus den ebenfalls vom Krieg bedrohten Nachbarländern Somalia und dem Sudan. Fassungslos hatte er sich über die Not der hungernden Menschen, aber auch über die Handlungsmöglichkeiten der Ärzte dort informiert. Wenn er es recht bedachte, war in seinem Leben vieles glatt verlaufen, und irgendwie hatte er nun das Gefühl, sich jetzt sowohl persönlich als auch sein medizinisches Können für Menschen einsetzen zu müssen, die es im Leben wesentlich schlechter getroffen hatten als er. Auch war er sich sicher, dass man ihn für einen solchen Einsatz ohne bürokratisches Hin und Her aus seinem Vertrag mit dem Royal Flying Doctor Service freigeben würde. Als er Sarah seine Pläne darlegte, war sie bleich geworden. Sie fuhr nicht wütend auf, so wie sie es früher getan hätte. Ruhig sah sie ihn an.

»Dir ist doch klar, dass dies das Ende unserer Ehe ist, nicht, Tom?«

Er hatte sich über den Couchtisch gebeugt und nach ihrer Hand gegriffen. »Bitte, Sarah, hör es dir doch erst einmal an. Ich glaube, es könnte für uns beide eine echte Chance sein. Wir würden gemeinsam für Menschen kämpfen, die leiden, denen es schlechter geht als uns.«

Sie hatte seine Hand weggeschoben und ihn trotzig angesehen. »Weißt du, Tom, ich finde, wir sollten erst einmal für uns kämpfen, für unsere Ehe.« Als er den Kopf schüttelte, hielt sie kurz inne, fuhr dann aber fort: »Ich glaube, das genau ist dein Problem. du wirst immer nach neuen Herausforderungen suchen, vielleicht, weil du nur dann deine eigenen Probleme vergessen kannst oder dich ihnen nicht stellen musst.« Sie sah ihm jetzt direkt in die Augen. »Was käme denn nach Cameron Downs und Äthiopien? Der Himalaja?« Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein resignierter Ausdruck, als sie seine Enttäuschung bemerkte. »Nein, Tom. Es tut mir Leid, aber ich kann und will dich nicht begleiten.«

Er fuhr auf und wurde heftig. »Bitte, Sarah! Gib uns doch noch diese eine Chance. Wir sind verheiratet, da läuft man doch nicht einfach auseinander. Wir haben gerade unser Kind verloren, dieses Erlebnis hätte jedes Paar irgendwie aus der Bahn geworfen. Aber ich weiß, dass dies hier für uns ein Neuanfang werden könnte. Bitte komm mit mir. Lass es uns dort versuchen.« Eindringlich hatte er sie angesehen, doch sie schüttelte den Kopf.

»Weißt du was, Tom? Wenn es dir wirklich ernst mit einem Neuanfang wäre, hättest du ja vorher mit mir darüber sprechen können. Du hättest mich fragen können, was ich davon halte, anstatt mir jetzt und hier die Pistole auf die Brust zu setzen, denn du hast dich doch schon längst entschieden.« Sie unterbrach sich und warf mit einer energischen Geste ihre langen dunklen Haare zurück, bevor sie fortfuhr: »Ich bin ein eigenständiger Mensch. Auch ich bin gut ausgebildet und qualifiziert – nicht nur das nette Anhängsel von Dr. Morrison. Wenn du mich wirklich lieben würdest, hättest du schon lange bemerkt, wie unglücklich ich hier bin. Und wenn es dir ernst mit dem Fortbestand unserer Ehe wäre, wüsstest du, dass ich nirgends lieber leben würde als in Sydney. Dort waren wir übrigens beide einmal sehr glücklich.« Traurig, aber bestimmt hatte sie dann noch gesagt: »Ich bin nun mal keine Florence Nightingale oder Mutter Teresa. Ich bin weder für das Leben hier geschaffen noch für ein Hungergebiet in Afrika. Das mag vielleicht arrogant klingen, Tom, aber nicht jeder kann so etwas ertragen. Und man darf es auch nicht von jedem fordern.«

Erschüttert hatte er ihr zugehört. Sie schien schon öfter mit dem Gedanken gespielt zu haben, ihre Beziehung zu beenden. Das hatte er bei ihren Worten gespürt. Mit gesenktem Kopf überlegte er, bevor er sie wieder ansah und leise sagte: »Und wenn ich nicht nach Afrika ginge? Wenn ich hier bliebe?«

Sarah schien sich nun ebenfalls nicht sehr wohl in ihrer Haut zu fühlen. Sie war wütend darüber, dass er seine Entscheidung ohne sie getroffen hatte, aber sie wollte nun auch wieder nicht, dass er ihretwegen auf etwas verzichtete, was ihm offensichtlich so wichtig war, nur in dem Bemühen, halbherzig ihre Ehe aufrechtzuerhalten. Auch sie hatte sich den Verlauf ihrer Beziehung, die einmal so viel versprechend begonnen hatte, anders vorgestellt. Zögernd legte sie nun eine Hand auf seinen Arm.

»Ach, Tom, was soll das jetzt noch? Im Grunde wissen wir es doch beide schon länger, oder? Dass es zu Ende ist.«

Er hatte auf seine Füße gestarrt und nach einer Weile genickt. Mit einem Scheitern seiner Ehe nach so kurzer Zeit hatte er nicht gerechnet. Er empfand diese Tatsache als persönliches Versagen, als eine private Bankrotterklärung. Er war aufgestanden und hatte sich einen Drink genehmigt, bevor er sich zu ihr umdrehte und niedergeschlagen fragte: »Was wirst du jetzt tun?«

Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und schlug die langen Beine übereinander. »Komm schon, Tom, mach keine Katastrophe daraus. So etwas passiert anderen Leuten auch. Es wäre schön, wenn wir einfach friedlich auseinander gehen könnten.« Abwartend hatte sie einer Reaktion von ihm entgegengesehen, doch als er nur stumm sein Glas in den Händen drehte, hatte sie schließlich weitergesprochen. »Es wird dich kaum überraschen. Ich gehe nach Sydney zurück. Wenn du einverstanden bist, werde ich dort auch die Scheidung einreichen.« Als er immer noch nicht reagierte, hatte sie den Kopf schräg gelegt und ihn fragend angesehen. Diese Geste hatte er früher so an ihr geliebt, jetzt schmerzte sie ihn, in Verbindung mit den Worten, die ihr so glatt über die Lippen kamen. Ihr schien das Ganze nicht besonders viel auszumachen. »Tom?«

Er riss sich zusammen. Wenn sie nicht unter dem Ende ihrer Beziehung litt, wollte er ihr auch nicht die Genugtuung gönnen zu sehen, wie sehr es ihn traf. Er hatte sich wieder im Griff, als er aufsah und ruhig antwortete: »Ich bin einverstanden. Wahrscheinlich hast du Recht.«

Sie schien erleichtert zu sein. »Gut, dann packe ich in den nächsten zwei Tagen alles zusammen und nehme am Samstag die Mittagsmaschine nach Sydney. Besser, wir bringen es schnell hinter uns.«

Einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen. Tom kam dieser Schlussstrich unter seiner Ehe merkwürdig vor, so kühl und überlegt wie ein präzise gesetzter Schnitt bei einer Operation. Ihm schoss ein Begriff aus dem medizinischen Alltag durch den Kopf: Klinisch tot! Bitter dachte er, dass es wohl keine treffendere Bezeichnung dafür geben konnte.

Er schrak zusammen, als Sarah sich vorbeugte und ihm in die Augen sah. »Ich habe mir auch nicht gewünscht, dass es so weit mit uns kommt, Tom. Aber wir können wohl beide nicht aus unserer Haut. Das müssen wir akzeptieren.« Er hatte langsam genickt.

Drei Tage später waren sie auseinander gegangen. In Cameron Downs hatte es natürlich Gerede gegeben, und er war froh über die Aussicht gewesen, den Ort bald verlassen zu können. Sicher würde es ihm gut tun, sich in nächster Zeit nicht mehr mit eigenen Problemen beschäftigen zu müssen. Lisa und Bill Jarrett waren wie die meisten anderen auch zunächst enttäuscht über seinen Entschluss gewesen, von hier fortzugehen. Schnell hatten sie jedoch erkannt, dass er diesen Wechsel jetzt brauchte. Und so war er, nur wenige Wochen später, nach einem freundlichen Abschied nach Afrika aufgebrochen.

In seinen kühnsten Träumen hatte er nicht mit diesem Ausmaß an Hunger, Krankheit, Leid und kriegerischen Auseinandersetzungen in den grenzüberschreitenden Gebieten gerechnet. Tatsächlich kam er kaum zur Besinnung, arbeitete beinahe rund um die Uhr und kämpfte verbissen gegen den größten Feind eines jeden Arztes, den Tod. Und doch hatte er ihn in seinen beiden Jahren in Äthiopien tausendfach hinnehmen müssen. Jedes einzelne Mal hatte ihn das Gefühl der Ohnmacht getroffen. Er litt darunter, so hart wie noch nie zuvor in seinem Leben zu arbeiten, und doch so wenig tun zu können. Er hatte den unbändigen Wunsch, etwas für diese Menschen zu erreichen, etwas zu verbessern. Es erschien ihm einfach unfassbar, dass sich, nur einige Flugstunden entfernt, Menschen mit dem Gedanken beschäftigten, ob sie mittags Nudeln oder doch lieber Kartoffeln zubereiten sollten. Es kam ihm schlichtweg grotesk vor.

Jedes Mal, wenn er eines der fast verhungerten Kinder zur Behandlung auf den Arm nahm, musste er gegen die Fassungslosigkeit ankämpfen, die sich in ihm breit zu machen drohte. Auch wenn er schon Bilder dieser Kinder gesehen hatte, war es etwas völlig anderes, diese bis auf die Knochen abgemagerten Àrmchen zu berühren, die riesigen Augen in den seltsam erwachsenen Gesichtern zu sehen, die keine Freude oder Fröhlichkeit kennen gelernt zu haben schienen. Immer wenn er eines dieser ihm anvertrauten Kinder verlor, hatte er das Gefühl, versagt zu haben. Es gelang ihm nicht, wie vielen seiner Kollegen, abzuschalten. Auch wehrte er sich dagegen, abzustumpfen. Er magerte selbst ab, denn er mochte sich nicht satt essen, solange die Menschen um ihn herum verhungerten oder aufgrund ihrer Schwäche an den einfachsten Infektionen starben. Er arbeitete, kämpfte und litt unsagbar. Nach zweiundzwanzig Monaten spürte er, dass er die Grenze dessen, was er ertragen konnte, erreicht hatte. Als er weitere zwei Monate später nach Australien zurückkehrte, wusste er nicht, wohin. Er fühlte sich physisch und psychisch nicht in der Lage, irgendwo einfach seinen Dienst anzutreten. Er hatte gegen Albträume und furchtbare Erinnerungen zu kämpfen und das Gefühl, sich in seiner Heimat nicht mehr zurechtzufinden. Selbst den Gedanken an Cameron Downs, wo er sich vor dem Scheitern seiner Ehe zu Hause gefühlt hatte, verwarf er wieder. Er hätte den alten Freunden so nicht begegnen mögen, ihre Fragen nicht beantworten wollen. Sie würden nicht begreifen können, was er erlebt hatte. Alles, was er im Moment von sich geben würde, müsste – angesichts ihrer unbekümmerten Wohlstandsgesellschaft – irgendwie vorwurfsvoll klingen. Er war einfach noch nicht so weit. Er spürte, dass er sich selbst irgendwo in Afrika aus den Augen verloren hatte. Seine Empfindungen gingen sogar so weit, dass er sich die Frage stellte, ob er nicht das Recht verloren hatte, jemals wieder als Arzt tätig sein zu dürfen. Er tat das, wofür er sich in seinem bisherigen Leben noch nie die Zeit genommen hatte. Er suchte die Einsamkeit und machte sich auf die Reise durch das Land. Tom zuckte zusammen, als jemand an die Tür seines Büros klopfte. Als er sich umwandte, sah ihm sein Freund und Kollege Dr. William Jarrett lächelnd entgegen und wedelte mit einigen Röntgenaufnahmen in der Luft, während er das Licht anknipste und die Bilder in der dafür vorgesehenen Klemmschiene befestigte. Tom hatte Schwierigkeiten, sich von den Erinnerungen loszureißen. Bill hatte die Brille aus der Brusttasche genommen, sie aufgesetzt und studierte nun eingehend die Röntgenaufnahmen. Tom ging zu ihm und warf ebenfalls einen Blick darauf.

»Ach, sind das schon die Bilder der kleinen Laura McKenzie? Das ging aber schnell. Wie sieht es aus?«

Bill trat beiseite. »Schau selbst. Ich meine, sie hat Glück gehabt. Einige Tage Ruhe, und sie ist wieder wie neu.«

Tom hatte sich ebenfalls einen Eindruck verschafft und nickte nun. »Du hast Recht. Schön. Die Mutter hat sich schon große Sorgen gemacht. Ich gehe sofort rüber und sage ihr Bescheid.«

»Okay, Tom, wir sehen uns dann morgen. Ich habe gleich Dienstschluss.« Er schmunzelte und strich sich über den gepflegten Vollbart, bevor er hinzufügte: »Und meine Lisa auch.«

Tom sah auf die Uhr und nickte ihm zu. »Na, da wünsche ich euch beiden aber einen schönen Abend. Bis morgen.«

Auf dem Weg zur Kinderstation streiften seine Gedanken noch einmal die Vergangenheit. Als er den blanken Krankenhausflur entlangging, den sauberen, sterilen Geruch wahrnahm, die bunten Fensterbilder, die in einem leichten Lufthauch hin und her schwangen, und er seinen Blick über die zur Verfügung stehenden Geräte wandern ließ, fühlte er den Unterschied, der zwischen seinem Alltag hier und dem Leben in Äthiopien lag, fast körperlich. Er verspürte aber keineswegs Erleichterung. Immer noch war die Erinnerung an das Erlebte so stark, dass sie in der Lage war, in ihm ein schlechtes Gewissen hervorzurufen, das Gefühl, zumindest dort als Arzt versagt zu haben. Müde fuhr er sich mit den Händen über die Augen und zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, bevor er Lauras Krankenzimmer betrat. Ihre Mutter saß an ihrem Bett und war dabei, ihr eine Geschichte vorzulesen. Sie verstummte, als der Arzt sich einen Stuhl heranzog und Platz nahm. Lauras kleine Hände lagen auf der Bettdecke und hielten die beiden Tierfiguren fest, die sie vorhin geschenkt bekommen hatte. Tom bemerkte den beunruhigten Blick der Mutter und zwinkerte ihr schnell zu.

»Keine Sorge, Mrs. McKenzie, es ist alles in Ordnung. Die Röntgenaufnahmen bestätigen nur eine Gehirnerschütterung, was nicht etwa heißen soll, dass es sich um eine Kleinigkeit handelt, aber ich denke, zwei Tage hier zur Beobachtung reichen aus. Wenn dann weiterhin alles okay ist, kann sie sich auch zu Hause in ihrem eigenen Bett wieder vollständig erholen.« Er lächelte der Kleinen aufmunternd zu und bemerkte, dass sie müde war. Auch sah er die Anspannung im Gesicht ihrer Mutter und stand auf. »Mrs. McKenzie, Sie sollten sich jetzt ein wenig ausruhen. Schauen Sie, Laura ist schläfrig geworden. Und wie heißt es so schön: Schlaf ist die beste Medizin. Ich glaube, Ihnen würde etwas Ruhe ebenfalls gut tun.« Als er ihr Zögern bemerkte, fügte er hinzu: »Gehen Sie ruhig. Wenn es Sie beruhigt, bleibe ich noch ein wenig bei Ihrer Tochter. Es ist im Moment nicht sehr hektisch bei uns, also kann ich die Zeit erübrigen.«

Die Mutter war aufgestanden und beugte sich über Laura, um ihr einen Kuss zu geben. Sie strich ihr den Pony aus den Augen und sprach leise mit ihr, um sie nicht wieder munter werden zu lassen. »Schlaf jetzt, meine Kleine. Morgen früh bin ich wieder hier, versprochen.« Sie drehte sich zu dem Arzt um, der neben sie getreten war, um ihren Platz am Bett zu übernehmen. »Ich danke Ihnen, Dr. Morrison.« Sie stockte, als würde sie nach den passenden Worten suchen. »In Situationen wie heute, als mein Kind so leblos dalag und ich dann schließlich das Motorengeräusch ihres Flugzeugs hörte, wurde mir wieder einmal bewusst, wie abhängig wir da draußen von Ihnen sind.« Sie verstummte. Als sie Toms ernsten Gesichtsausdruck bemerkte, griff sie verlegen nach ihrer Tasche und sah ihn noch einmal an. »Nochmals danke, Dr. Morrison, dass Sie so rasch da waren. Bis morgen.«

»Auf Wiedersehen, Mrs. McKenzie.« Er schaute ihr nach, als sie leise den Raum verließ. Nachdenklich blieb sein Blick anschließend auf dem Gesicht seiner kleinen Patientin hängen, der nun die Augen zufielen. Langsam lehnte er sich auf dem Stuhl zurück und legte den Kopf in den Nacken. Unter der Zimmerdecke hing ein Mobile, dessen Clownfiguren sich leicht im Kreis drehten. Müde rieb er sich die Augen. Er hatte heute so viel nachgedacht wie schon lange nicht mehr, und er wollte jetzt einfach nicht mehr denken. Trotzdem konnte er nicht verhindern, das zu tun, was er immer tun musste, wenn er Kinder behandelte, nämlich nachzurechnen, wie alt sein Sohn jetzt wäre. Erschrocken stellte er fest, dass er das gleiche Alter hätte wie die kleine Laura. Wütend auf sich selbst, fragte er sich, wann er endlich damit aufhören könnte und die Vergangenheit vergessen würde. Er fuhr unwillkürlich zusammen, als Kim, die junge Schwester von vorhin, das Zimmer betrat. Schnell erfasste sie die Situation und wollte sich leise zurückziehen, doch Tom winkte sie heran. Er war froh über die Unterbrechung. Er hasste es, seinen Erinnerungen derart wehrlos ausgesetzt zu sein, und zog es vor, sich mit Arbeit abzulenken. Leise sprach er sie an.

»Ach, Kim, kannst du dich ein wenig zu ihr setzen? Die Kleine ist gerade eingeschlafen; nur so lange, bis sie fest schläft, ja? Ich habe es ihrer Mutter versprochen.«

Kim nahm seufzend Platz und nickte. »Okay, meine Füße danken dir für die Pause, aber wenn du wüsstest, was ich noch zu tun habe.«

Er grinste sie an. »Du schaffst das schon. Danke.«

Tom verließ das Zimmer, froh darüber, seinen quälenden Gedanken entkommen zu sein, denn auf dem Gang suchte schon eine Schwester nach ihm, da es mit einem weiteren Patienten Probleme gab.

Noras großer Traum

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