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Nervös und aufgeregt hatte Nora sich von ihren Kindern und ihrem Mann am Hamburger Flughafen verabschiedet, bevor sie mit Martin Sanders ihre Reise antrat und zunächst für einen Nachmittagsflug nach Frankfurt eincheckte. Mit einem Magenkribbeln wandte sie sich noch ein letztes Mal um, um ihrer Familie zuzuwinken. Auch wenn sie glaubte, aus Vorfreude auf Australien innerlich platzen zu müssen, tat ihr dieser Moment des Abschieds von den wichtigsten Menschen in ihrem Leben für mehrere Wochen ungeheuer weh. Einen kurzen Moment lang stellte sie sich die Frage, ob sie das Ganze nicht doch noch bleiben lassen sollte. Beim Anblick ihrer fröhlich winkenden Kinder, die sie noch lachend aufforderten, doch ein Känguru für sie mitzubringen, riss sie sich aus ihren Zweifeln und folgte ihrem Kollegen. Insgeheim plagten sie, was Martin Sanders’ Berufserfahrung anging, außerdem so etwas wie Minderwertigkeitskomplexe, und obendrein wollte sie vor ihm nicht unprofessionell erscheinen. Auf dem Flug nach Frankfurt war sie deshalb sehr bemüht, ihre innere Nervosität abzulegen und einen gelassenen Eindruck zu erwecken. Martin jedoch war keineswegs entgangen, wie schwer es ihr fiel, den Abschied von ihrer Familie wegzustecken. Nach einer Weile des Schweigens lächelte er sie freundlich an. »Alles klar? Es ist sicher nicht so einfach, die Familie für ein paar Wochen in so weiter Entfernung zu wissen, nicht?«

Sie versuchte ihre Stimme möglichst normal und ruhig klingen zu lassen.

»Ja, Sie haben Recht, aber augenblicklich kann ich kaum sagen, welcher Gedanke mich mehr beunruhigt, der Abschied von der Familie oder ab Frankfurt einen Flug von etwa dreiundzwanzig Stunden vor mir zu haben.«

Er lachte und legte kurz den Kopf zurück. »Sie werden sehen, wir beide schaffen das schon.«

Die Flugbegleiter kamen mit dem Getränkewagen den engen Gang entlang, und Martin sah seine Kollegin nachdenklich an. »Wie wär’s, trinken Sie ein Glas Sekt mit mir? Auf unseren gemeinsamen Auftrag?«

Nora zögerte nur kurz. Sie fragte sich ein wenig unbehaglich, wie sich der Alkohol mit ihrer Aufregung und Anspannung mischen würde, wollte Martin Sanders aber keinen Korb geben. Also nickte sie. »Ja, gern.«

Wie selbstverständlich nahm er die beiden Piccolos entgegen, bezahlte, schenkte den perlenden Sekt in die Gläser ein, von denen er ihr eines reichte, und sagte: »Wären Sie einverstanden, wenn wir das förmliche Sie beiseite legen? Wir werden so viele gemeinsame Kilometer hinter uns bringen, dass ich mir das Du einfach besser vorstellen kann.«

Nora lächelte ihm nun freundlich zu und nickte erneut. »Gern.« Während Martin dann von seinem ersten Auftrag in Australien erzählte, hörte Nora interessiert zu und entspannte sich ein wenig. Ehe sie sich’s versah, befanden sie sich schon wieder im Landeanflug auf Frankfurt, wo es am Abend nach Singapur und von dort aus in den äußersten Norden Australiens, nach Darwin, gehen sollte. Der hektische Frankfurter Flughafen empfing sie mit trübem Nieselregen, und so verbrachten sie die Zeit bis zum Anschlussflug mit einem kleinen Bummel durch den Flughafen, einer kurzen Pause an einer der Saftbars und begaben sich dann zum Boarding ans Qantas-Gate. Allein der Anblick des Kängurus auf dem Logo der Fluggesellschaft ließ Noras Herz schon wieder höher schlagen, und als es einige Zeit später endlich so weit war und der riesige Jumbo sich um 21.40 Uhr Frankfurter Zeit in den Abendhimmel erhob, betrachtete Nora die immer kleiner werdenden Lichter unter sich mit der Gewissheit, dass sie nun bald wirklich den Kontinent, von dem sie schon so lange träumte, kennen lernen durfte. Erleichtert konnte sie feststellen, dass die Sitze der Business-Class durchaus Bequemlichkeit und Beinfreiheit versprachen. Dankbar dachte sie an den Hamburger Verlag, der ihnen diesen Luxus gegönnt hatte. Die Erinnerung an die normale Bestuhlung in den Urlaubsfliegern, die sie sonst gewohnt war, hatte sie vor diesem Flug ans andere Ende der Welt einige Male mit panikartigen Gefühlen kämpfen lassen.

Der angenehme Beginn ihrer langen Reise mit Martin hatte sich auch in den nächsten Stunden fortgesetzt. Angeregte Gespräche wechselten mit ruhigen Lesepausen und einigen Nickerchen ab. Überrascht nahmen sie nach einem neunstündigen Flug zur Kenntnis, dass ein Zwischenstopp in Bangkok angekündigt wurde. Nach der Landung jedoch genossen sie die Zeit, sich in Ruhe die Beine zu vertreten, während die Maschine betankt und gesäubert wurde, bevor sie eine gute Stunde später wieder nach Singapur abhob. Dort nutzten sie den vierstündigen Aufenthalt für einen kleinen Einkaufsbummel. Nora genoss es inzwischen, Martin an ihrer Seite zu haben, der sich stets gut auszukennen schien. Als schließlich die letzte lange Etappe ihrer Reise begann, tröstete Nora sich nach einer mehr oder minder schlaflosen Nacht mit dem Gedanken, dass sie nach der nächsten Landung endlich australischen Boden betreten würde.

Am frühen Morgen war es dann so weit. Doch ziemlich erledigt und mit ehrlichem Respekt vor jenen Leuten, die mal eben für ein verlängertes Wochenende nach »down under« flogen, betrat Nora mit Martin den Flughafen in Darwin. Obwohl sie sehr müde war und sich nach einer Dusche sehnte, konnte sie es nicht fassen, endlich am Ziel zu sein. Ungläubig schaute sie sich um, während sie hinter Martin herging. Erleichtert nahmen sie einige Zeit später ihr vollständiges Gepäck entgegen und fuhren mit einem Taxi zum Hotel, wo sie glücklicherweise gleich ihre Zimmer beziehen konnten und vereinbarten, sich nach einer Ruhepause erst am frühen Nachmittag zu treffen.

Nora war froh, die Ruhe und angenehme Kühle des klimatisierten Zimmers genießen zu können. Nachdem sie geduscht und ihren Wecker gestellt hatte, stand sie noch einen Augenblick am Fenster und nahm die Aussicht bewusst in sich auf, bevor sie sich endlich zufrieden auf ihrem Bett ausstreckte.

Als sie später einen ersten Spaziergang durch die Stadt unternahmen, machte Darwin mit seiner ausgesprochen modernen Architektur einen sehr fortschrittlichen und etwas nüchternen Eindruck auf Nora und Martin; was sie aber vor dem geschichtlichen Hintergrund dieser etwa Achtzigtausend-Einwohner-Stadt nicht weiter verwunderte, war sie doch zweimal nahezu völlig zerstört worden. Das erste Mal durch japanische Bomber 1942 und das zweite Mal am Heiligen Abend 1974 durch den Wirbelsturm Tracy, der mit annähernd zweihundertachtzig Kilometern pro Stunde über die Stadt hinwegbrauste und von elftausendzweihundert Gebäuden nur vierhundert nicht zerstörte. Nora hatte mehr als anerkennend gelesen, dass sich die Bewohner bereits in den Tagen nach dem Sturm T-Shirts mit der Aufschrift »What a night with Tracy!« angezogen und ungerührt darangemacht hatten, ihre Häuser neu aufzubauen.

Nachdem sie sich ein wenig umgesehen und etwas gegessen hatten, nahmen sie ein Taxi, um sich im Northern Land Council beraten und die Erlaubnis geben zu lassen, in den nächsten Tagen das Land der Aborigines durchqueren zu dürfen, um den einzigartigen Kakadu National Park kennen zu lernen. Sie waren erleichtert, dass ihnen dies ohne große Schwierigkeiten gelang, und kümmerten sich anschließend um einen geländegängigen Mietwagen, mit dem sie am nächsten Morgen die Fahrt zu diesem mit zwanzigtausend Quadratkilometern größten Nationalpark Australiens hinter sich bringen wollten. Beide waren froh, dass die Formalitäten für ihren Ausflug nun geklärt waren, und unternahmen noch einen Ausflug in den Botanic Garden, der sie mit seiner ungeheuren exotischen Blütenpracht und einer geradezu erstaunlichen Anzahl an Palmen beeindruckte. Am Abend gingen sie früh schlafen, um für die bevorstehende Fahrt fit zu sein. Nora steckten noch der lange Flug und die Zeitverschiebung in den Knochen, so dass sie es erneut genoss, sich dieses Mal für eine ganze Nacht in ihrem Bett ausstrecken zu können. Am nächsten Morgen starteten sie nach einem ausgiebigen Frühstück. Nora fühlte sich inzwischen ausgeruht und war voller Vorfreude. Sie hatte in Deutschland so viel über diesen Nationalpark gelesen, dass sie es kaum erwarten konnte, dort anzukommen. Martin grinste sie von der Seite an.

»So etwa zweihundertfünfzig Kilometer liegen jetzt noch vor uns. Na, dann wollen wir mal hoffen, dass wir dort auch viele Kakadus sehen.«

Nora lachte. Auf seine fragend hochgezogenen Augenbrauen erklärte sie ihm: »Der Kakadu National Park heißt nicht nach den Vögeln so, sondern nach der Sprache Gagudju, das ist die Sprache des Stammes, der in diesem Gebiet beheimatet war.«

Martin lächelte ihr nun belustigt zu. »Du scheinst deine Hausaufgaben gemacht zu haben, im Gegensatz zu mir. Lass doch mal hören, was du noch so über den Park weißt. Sicher verkürzt uns das die Fahrtzeit. «

Nora schüttelte ein wenig den Kopf. »Ach, weißt du, ich will dich hier doch nicht belehren.« Sie machte eine kleine Pause und sah aus dem Fenster. »Es ist nur so, dass ich mich schon seit langer Zeit sehr für dieses Land interessiere, ganz besonders auch für die Ureinwohner. Darum freue ich mich auch so auf den Kakadu Park.«

Martin sah sie aufmerksam an. »Ich dachte, der Park sei ein Tierparadies.«

»Das ist er auch, aber er ist ebenfalls berühmt für die Kultur der Ureinwohner. Nirgendwo sonst in Australien finden sich mehr Felsmalereien der Aborigines als dort. Besonders eindrucksvoll sollen die Zeichnungen im Röntgenstil sein, der die Knochen und anatomischen Einzelheiten der dargestellten Tiere wie auf einem Röntgenbild wiedergibt.« Sie überlegte kurz. »Hast du dir denn schon Gedanken gemacht, was wir uns dort so ansehen wollen?«

Martin nickte. »Im Grunde würde man sicher Wochen brauchen, um alles kennen zu lernen. Da wir die aber nun einmal nicht haben, dachte ich, es wäre bestimmt nicht verkehrt, zunächst im Besucherzentrum vorbeizuschauen. Soweit ich weiß, kann man sich dort ausführlich informieren und sogar beraten lassen. Vielleicht sollten wir auch so eine geführte Ranger-Tour mitmachen, was meinst du? Da erfährt man bestimmt einiges über die australische Wildnis.«

Nora sah nachdenklich vor sich hin. »Wahrscheinlich hast du Recht. Der Park ist so riesig, dass man allein wohl den Überblick verlieren würde.«

Martin grinste nun erneut vor sich hin. »Apropos Überblick, wir sollten unbedingt so einen Rundflug über den Park mitmachen. Für mich die Gelegenheit für Luftaufnahmen.«

Nora lächelte zustimmend und sah sich um. Sie hatten mittlerweile den Stuart Highway verlassen und befuhren nun schon eine ganze Weile den Arnhem-Highway, der sie durch ureigenes Aborigines-Gebiet zum Kakadu National Park führen würde. Etwa auf halber Strecke hatten sie sich abgewechselt, so dass Nora am Steuer saß, als sie schließlich Jabiru erreichten, das Krokodil-Land des Parks. Auch der größte Fluss nannte sich Alligator River. Sie freuten sich auf das Gagudju Crocodile Hotel, in dem für sie zwei Zimmer reserviert waren. Es hatte die Form eines Krokodils, wobei der Swimmingpool den Bauch darstellte. Es herrschte hier trotz der Tatsache, dass es sich um ein Hotel der gehobeneren Klasse handelte, ein wenig Safari-Atmosphäre, und Nora verspürte bereits wieder ein gespanntes Kribbeln im Magen, als sie an die bevorstehenden Ausflüge dachte. Sie wollten auch nur ihr Gepäck ablegen und sich ein wenig frisch machen, bevor es ins Bowali-Besucherzentrum gehen sollte.

Hier war es ihnen dann am Nachmittag möglich, sich einen ersten ausführlichen Überblick zu verschaffen und den Eintrittspreis zu bezahlen. Dia- und Videodarbietungen zeigten bereits im Vorfeld die Höhepunkte dieses Parks. Sie erfuhren, dass er zu den wichtigsten Feuchtgebieten der Erde gehörte und mit seinen immensen Überschwemmungsflächen ein einzigartiges Rückzugsgebiet für Zug- und Wasservögel bot. Neben der biologischen wurde tatsächlich auch die von Nora zuvor erwähnte kulturelle Bedeutung des Kakadu National Parks hervorgehoben. Beide schienen das Geheimnis des Parks auszumachen und hatten schließlich dazu geführt, dass er von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen worden war. Zufrieden schmiedeten Nora und Martin beim Abendessen Pläne für die kommenden Tage.

Als sie in den frühen Morgenstunden an einer Bootstour teilnahmen und auf dem Fluss durch die beeindruckende Lagunenlandschaft von Yellow Waters glitten, fand Nora keine Worte für ihre Empfindungen beim Anblick dieses Paradieses für unzählige Wasservögel. Der Morgendunst lag über dem Wasser und vermischte sich mit dem Rotorange der aufgehenden Sonne. Sprachlos staunend beobachtete sie scheinbar Millionen unterschiedlicher Vögel, die mit flatternden Flügeln aufflogen oder kreischend ihr Stammrevier verteidigten. Sie konnte Gänse, Kraniche, Pelikane, Reiher, Enten und Schwarzkopfstörche ausmachen, während am Himmel Seeadler und andere Raubvögel kreisten. Zwischen unglaublich großen Seerosen an verschiedenen Flussarmen und in den Uferregionen entdeckte sie schließlich auch die gefährlichen und zum Teil sehr großen Salzwasserkrokodile, die sich augenscheinlich im trägen Wasser wohl zu fühlen schienen.

Während Martins Kamera unablässig surrte und er offenbar konzentriert bei der Arbeit war, nahm Nora die fast schon unwirkliche Stimmung dieses Tagesanbruchs andächtig in sich auf. Sie meinte nie etwas annähernd Vollkommeneres in der Natur gesehen zu haben als diese scheinbar unberührte Landschaft. Als sie später im Wagen saßen, fuhren sie einige Zeit schweigend, und Nora empfand so etwas wie Dankbarkeit Martin gegenüber, der ein Gespür für diese besondere Stimmung zu haben schien. Das eben Erlebte noch genau vor Augen, klappte sie ihr Notizbuch auf und machte sich daran, ihre Eindrücke festzuhalten. Wenig später folgten sie kurz vor Jabiru einer abzweigenden Zufahrtsstraße nach Ubirr, wo sie sich die berühmten Felsmalereien der Ureinwohner ansehen wollten. Als Martin den Wagen anhielt, hatte Nora ihre Aufzeichnungen schon wieder eingesteckt. Er griff nach seiner Kamera, die auf dem Rücksitz lag, und lächelte ihr zu. »Alles klar? Wollen wir los?«

»Aber ja! Ich freue mich schon.« Etwas zögernd machte sie eine Pause. »Sicher komme ich dir ein wenig unprofessionell vor, nicht? Aber ich muss zugeben, dass mich das hier alles ein wenig überwältigt.« Sie sah nun aus dem Fenster. »Es erscheint mir so unwirklich, so unglaublich riesig ... so fremd und trotzdem unheimlich anziehend.« Verlegen schaute sie Martin an und zog schließlich eine Grimasse. »Ich wirke wahrscheinlich ziemlich bescheuert, nicht?«

Martin legte eine Hand auf ihren Arm und lachte leise, bevor er wieder ernst wurde und sie ansah. »Nein, Nora. Wirklich nicht. Es ist doch einfach unglaublich schön hier! Warum sollte man das nicht zugeben, hm?« Er zwinkerte ihr zu. »Na, komm, jetzt geht’s zur Aborigines-Kultur.«

Gemeinsam erkundeten sie den etwa einen Kilometer langen Rundweg, der sie rasch erkennen ließ, dass sie sich hier an einer der bedeutendsten Kunststätten des Parks befanden. Staunend stand Nora vor den Malereien und versuchte sich klarzumachen, dass sie tatsächlich hier war. Sie hatte die Kunst der Aborigines schon in so vielen Büchern betrachtet, dass sie ihr nun seltsam vertraut vorkam. Dennoch spürte sie, dass die Wirkung, die diese zum Teil über zwanzigtausend Jahre alten Darstellungen hier auf sie hatten, eine völlig andere war. Sie fühlte sich diesem Stück Zeitgeschichte auf einmal so nah, dass sie kaum den Bück abwenden mochte. Eigenartig berührt, begriff sie plötzlich die enge persönliche Beziehung, die die Ureinwohner zu ihrem Land und ihren Traditionen gehabt haben mussten. Sie erkannte, dass die Malereien nicht nur der Ehrung ihrer Ahnenwesen dienten, sondern auch der Mitteilung und Kommunikation untereinander. Nora gefielen besonders die warmen Töne der Naturfarben. Sie kletterten auf den Felsen herum, die von Büschen, Bäumen und Gräsern umgeben waren und die Aussicht auf weitere Felsplateaus in einiger Entfernung freigaben. In einem Felsspalt entdeckte Nora eine wunderschöne Blume mit großen grünen Blättern, aus deren Mitte eine zartrosafarbene Blüte emporrankte. Nora freute sich daran. Irgendwie schien diese Blume nur auf sie gewartet zu haben. Selbst Martin, der sich auf einem Felsen niedergelassen hatte und in einige Erläuterungen über diese Kunst vertieft war, schien beeindruckt.

Als Nora zu ihm hinaufkletterte und sich neben ihn setzte, hatte sie immer noch Schwierigkeiten, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Sie sah zu den höher liegenden Felsen hinauf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Die Temperaturen mussten mittlerweile dreißig Grad Celsius überschritten haben, und da sie im Morgengrauen aufgestanden waren, konnte sie auch ein Gähnen nicht unterdrücken. Martin faltete den Informationszettel zusammen und schaute sie an. »Müde?«

Sie nickte. »Ja, irgendwie schon. Aber trotzdem mag man ans Ausruhen gar nicht denken. Es gibt so viel zu sehen.« Sie mochte ihm ihre tief gehenden Empfindungen und ihr Interesse an dieser uralten Kultur nicht näher beschreiben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er das verstehen würde. Er hatte schon so viele Länder bereist, dass sie ein solches Interesse bei ihm nicht vermutete.

Er blickte nun ebenfalls zu den Felsen hinauf. »Ja, du hast Recht. Man fühlt sich ziemlich klein und unbedeutend hier, nicht?«

Überrascht sah sie ihn an. Er schmunzelte, als er ihren Blick wahrnahm. Bereits in der kurzen Zeit, die sie gemeinsam unterwegs waren, hatte er feststellen können, dass sich ihre Gefühle fast immer deutlich in ihrem Gesicht spiegelten. Er empfand das als ausgesprochen sympathisch. Sie nickte jetzt. Sie saßen noch eine Weile schweigend nebeneinander, bevor Martin sie fragend ansah.

»Einverstanden, lass uns zurückgehen.«

Martin griff nach seinen Sachen und stand auf. Bereits nach den ersten beiden Schritten rutschte er mit dem Absatz am Felsen ab und strauchelte. Seine Arme ruderten hilflos in der Luft, während auch der zweite Fuß keinen Halt mehr fand. Der Riemen seiner Kameratasche war ihm von der Schulter geglitten, und die Tasche fiel den Felsen hinab. Sekunden nach ihr stürzte er seitlich etwa dreieinhalb Meter hinunter. Obwohl er nicht sehr tief gefallen war, krümmte er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zwischen Gräsern und Steinen. Nora hatte einen erschrockenen Schrei ausgestoßen und war schnell hinuntergeklettert. Entsetzt stellte sie fest, dass sich sein T-Shirt an der linken Schulter blutrot färbte. Er musste sich an den schärferen seitlichen Felskanten ziemliche Schnittwunden zugezogen haben. Sie überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Er hatte sich aufgerichtet und grinste ihr mit zusammengebissenen Zähnen zu.

»Na? Wer von uns beiden ist hier wohl der Unprofessionelle?« Er hielt den Arm der verletzten Schulter an sich gedrückt und schaute sie besorgt an. »Nora, siehst du mal nach, ob meine Kamera was abbekommen hat?«

Sie blickte ihn entgeistert an. Der Blutfleck auf seinem T-Shirt hatte sich mittlerweile bis zur Hüfte ausgebreitet, und der Stoff klebte auf seiner Haut. Wütend zeigte sie ihm einen Vogel. »Sag mal, du bist wohl nicht bei Trost, jetzt an die Kamera zu denken! Du bist verletzt! Weißt du, ob wir Verbandszeug im Wagen haben?« Sie deutete nun auf sein T-Shirt. »Ich fürchte, wenn du so zum Auto läufst, ziehst du eine Blutspur hinter dir her. Wir müssen schnell ins Hotel zurück, da gibt es sicher einen Arzt.«

Martins Blick war ihrem Hinweis gefolgt. Ihm schien erst jetzt aufzufallen, dass er stark blutete. Als er sein klebriges T-Shirt wahrnahm, wurde er bleich und stöhnte. Offensichtlich konnte er den Anblick nicht gut ertragen. Nora nahm die Kameratasche und ihren Pullover, den sie sich, als es wärmer geworden war, um die Hüften gebunden hatte, und befahl Martin, sich auf die gesunde Körperseite zu legen. Sie schob ihm die Tasche und den Pullover unter den Kopf und sah sich um. Ausgerechnet jetzt konnte sie niemanden hier entdecken. Wahrscheinlich mieden alle die Mittagshitze im Park, was ja an sich vernünftig war. Sie legte die Wasserflasche neben ihn und beugte sich über ihn.

»Du bleibst hier bitte so liegen, Martin. Ich laufe zum Wagen und sehe nach, ob wir Verbandszeug haben. Ich bin gleich zurück.« Sie hatte sich schon aufgerichtet, als ihr noch etwas einfiel. »Wo hast du die Schlüssel?«

Er griff mit der unverletzten rechten Hand in seine Hosentasche und reichte ihr die Autoschlüssel. Besorgt blickte sie ihn an. Er sah bleich und abwesend aus. Sie hoffte sehr, dass er nicht ohnmächtig werden würde. Schnell lief sie zum Parkplatz und durchsuchte hektisch den Kofferraum. Nervös glaubte sie sich daran zu erinnern, dass ein Erste-Hilfe-Kasten in Australien nicht zur vorgeschriebenen Ausstattung eines Fahrzeugs gehörte. Grenzenlos erleichtert entdeckte sie schließlich ein Fach in der Seitenverkleidung, das ein Verbandskästchen enthielt. Sie griff danach und zwang sich, noch rasch etwas zu trinken, bevor sie den Weg in der Sonne würde zurücklaufen müssen. Die tropische Luftfeuchtigkeit kam ihr zu dieser Tageszeit unerträglich vor. Schweißüberströmt erreichte sie wenig später Martin, der sich etwas beruhigt zu haben schien. Er wollte sich aufsetzen, als sie sich neben ihn kniete, doch sie schüttelte den Kopf.

»Nein, bleib bitte liegen.« Sie öffnete das Notfallkästchen und wühlte darin.

»O Mann, Nora, ich komme mir so blöd vor. Das Ganze ist bestimmt nicht sehr schlimm. Ich hasse nur das klebrige Gefühl dieses blutigen T-Shirts, verstehst du?«

Nora sah auf. »Gut, dann zieh es vorsichtig aus. Ich helfe dir. So komme ich auch besser an die Wunde.« Sie konnte erkennen, wie er die Zähne zusammenbeißen musste, als er sich nun langsam aufsetzte. Vorsichtig half sie ihm, erst den gesunden Arm und den Kopf daraus zu befreien, bevor sie es sacht über der verletzten Schulter wegzog. Sie erkannte sofort, dass er sicherlich würde genäht werden müssen. Auch ihr fiel der Anblick der großen gezackten Fleischwunde nicht leicht, aber sie riss sich zusammen und überlegte fieberhaft, was jetzt am besten zu tun wäre. Sie hatte bereits drei große Kompressen, die noch eingeschweißt waren, aus dem Kasten genommen und hielt nun noch ein winziges Fläschchen Jodtinktur in der Hand. Bestimmt wäre es gut, die Wunde zu desinfizieren. Sie erinnerte sich jedoch noch an einen Vorfall aus ihrer Kindheit. Einer ihrer Spielkameraden hatte sich bei einem Sprung aus einem Apfelbaum eine tiefe Wunde zugezogen, als er an einem Ast hängen geblieben war. Nachdem sein Vater danach Jod auf die Wunde geträufelt hatte, war er ohnmächtig geworden. Nora konnte es nicht riskieren, dass Martin hier das Bewusstsein verlor. Ohne Hilfe würde es ihr nicht gelingen, ihn zum Auto zurückzubringen. Und ihr widerstrebte die Vorstellung, ihn allein zurückzulassen, um Hilfe zu holen. Entschlossen legte sie das Fläschchen in den Kasten zurück, griff nach ihrer Handtasche und nahm ein Erfrischungstuch aus der eingeschweißten Verpackung, um sich erst die Hände zu säubern, bevor sie Martins Wunde versorgte. Anschließend langte sie nach der Wasserflasche.

»Krieg jetzt keinen Schreck, Martin. Ich lasse ein wenig Wasser über die Wunde laufen, damit ich überhaupt erkennen kann, wo ich die Kompressen anlegen muss, okay?«

Er nickte und sog scharf die Luft ein, als das kühle Wasser über die brennende Wunde lief. Nora tupfte vorsichtig mit einer Kompresse, deren Verpackung sie mit den Zähnen aufgerissen hatte, um die Wunde herum, aus der unablässig Blut sickerte. Schließlich öffnete sie die beiden anderen Kompressen und drückte sie fest auf die blutende Verletzung. Martin hielt mit Mühe einen Schmerzensschrei zurück, während Nora ihn aufforderte, ihr die drei Verbandrollen aus dem Kasten zu reichen. Eine davon drückte sie ebenfalls auf die Kompressen und versuchte mit den anderen eine Art Druckverband anzulegen, was ihr einigermaßen gelang. Als sie fertig war, griff sie erneut nach ihrer Handtasche und holte zwei Aspirin aus dem Seitenfach. »Hier, Martin, nimm die ein, und trink ordentlich nach!« Besorgt sah sie ihm zu, wie er die Tabletten hinunterschluckte und etwas trank. Immer noch blass im Gesicht, versuchte er trotzdem zu grinsen. »O Mann, so was Blödes ist mir schon lange nicht mehr passiert.« Er betrachtete den von Nora angelegten Verband, der unter der Achsel und über den Brustkorb verlief. »So ein Zirkus! Ich werde im Hotel Aufsehen erregen, als wäre ich von einem Krokodil angegriffen worden. Ich sehe schon die Überschrift: Dummer Tourist wollte Saltie streicheln«

Nora lachte. Sie war erleichtert, dass Martin bereits wieder Witze machte. Während sie ihre Sachen zusammenpackte, lächelte sie ihm zu. »Das wird deine Chancen in der Damenwelt ungemein erhöhen. Wenn du Wert darauf legst, wird von mir niemand erfahren, dass es kein Krokodil war.«

Er lachte und verzog gleich darauf das Gesicht vor Schmerzen. Sie hatte sich mittlerweile die Kameratasche und ihre Handtasche umgehängt und den Verbandskasten in der Hand. Besorgt beugte sie sich zu ihm hinunter.

»Glaubst du, du schaffst es zum Wagen, wenn du dich auf mich stützt?« Sie reichte ihm die freie Hand, an der er sich nun mit zusammengebissenen Zähnen hochzog.

»Ja klar. Ich kann auch allein gehen.« Doch Nora war an seine unverletzte Körperseite getreten und umfasste automatisch seine Hüfte, um ihn zu stützen. Also legte er einen Arm um ihre Schultern, und gemeinsam folgten sie dem Weg zum Parkplatz. Am Auto angekommen, sah sie ihn fragend an. Auch auf seiner Stirn standen Schweißperlen.

»Willst du dich lieber hinten reinlegen oder sitzen?«

Er schüttelte angestrengt den Kopf und versuchte krampfhaft unbekümmert zu wirken. »Nein, nein, ich setze mich neben dich, sonst glauben sie im Hotel noch, ich brauche einen Gnadenschuss, wenn sie mich von der Ladefläche kippen müssen.«

Nora grinste kopfschüttelnd und öffnete die Beifahrertür, um ihm hineinzuhelfen. Besorgt registrierte sie, dass der Verband an der Schulter bereits wieder durchgeblutet war. Sie hoffte sehr, dass es mit dem einfachen Nähen der Wunde getan sein würde und Martin nicht ins Krankenhaus transportiert werden müsste. Nachdem sie die Rückenlehne zurückgestellt und Martin angeschnallt hatte, warf sie ihr Handgepäck auf den Rücksitz, nahm auf dem Fahrersitz Platz und ließ den Motor an. Während sie sich nun selbst anschnallte, warf sie ihm noch einen besorgten Seitenblick zu. Er saß in halb liegender Position neben ihr. Sein Kopf lag auf der Nackenstütze, und die Augen waren geschlossen. Er schien froh zu sein, dass er das Auto erreicht hatte, was ihr sein erleichterter Seufzer verriet.

Als sie am Hotel ankamen, war Martin erschöpft eingenickt. Nora stieg aus und lief zur Rezeption, wo sie einem freundlichen Angestellten die Situation schilderte. Sein zunächst geschäftsmäßiges Lächeln wich rasch einer überlegten Hilfsbereitschaft. Er griff nach dem Telefon und informierte den Hotelarzt, bevor er mit einem Kollegen Nora zum Auto folgte. Als die beiden Männer Martin stützten, lächelte er ihr schief zu.

»Kommt jetzt mein Auftritt, Nora?«

Sie lächelte ebenfalls. »Keine Sorge, ich verrate nichts.«

Hinter seinem Rücken wurde sie ernst. Er tat ihr grenzenlos Leid. Sie hatte bemerkt, wie sehr er sich zusammennehmen musste, und die Vorstellung, dass man gleich seine Verletzung mit Nadel und Faden zusammennähen würde, trug nicht gerade zu ihrer Entspannung bei. Kurz darauf fanden sie sich in einem angenehm klimatisierten Behandlungsraum wieder und warteten auf den Arzt. Martin saß auf einer Liege. Er hatte sich erneut geweigert, sich hinzulegen. Bittend sah er Nora an.

»Holst du mir bitte ein Hemd, wenn die mich hier zusammenflicken? Ich will auf keinen Fall noch einmal so lädiert und bandagiert durch die Hotelhalle geschleift werden.«

Sie nickte, doch bevor sie etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür, und der Arzt trat mit seiner Assistentin ein. Freundlich lächelnd begrüßte er die beiden und ließ sich von Martin schildern, was passiert war. Nachdem er sich dann anschickte, mit der Behandlung zu beginnen, beugte Nora sich vor. Sie fühlte instinktiv, dass Martin es nicht gut finden würde, wenn sie hier bliebe. Außerdem war sie selbst keineswegs erpicht darauf, beim Nähen der Wunde zuzuschauen.

»Martin, ich gehe jetzt und hole dir ein Hemd. Brauchst du sonst noch etwas?«

»Danke, Nora.«

Sie wandte sich an den Arzt und fragte, wann sie ihren Kollegen abholen könne. Er hatte inzwischen den Verband entfernt und betrachtete aufmerksam die Wunde. Schließlich nannte er ihr eine Uhrzeit am Nachmittag. Man wollte Martin einige Zeit zur Beobachtung dort lassen und ihm eine Infusion geben. Sie nickte ihm noch einmal zu.

»Bis dann, Martin. Mach’s gut.«

In ihrem Zimmer warf sie die Taschen auf einen Sessel und ging ins Bad. Während sie sich die Hände wusch, blickte sie in den Spiegel. Sie fühlte sich nicht nur mitgenommen, sie sah auch so aus. Auf Grund der hohen Luftfeuchtigkeit umrahmte ihr Haar nun in wüsten Locken ihr erhitztes Gesicht. Ihr T-Shirt war verschwitzt und durch Martins Behandlung fleckig geworden. Sie schnitt sich selbst eine Grimasse und beschloss, zu duschen und sich umzuziehen. Sie hatte schließlich fast drei Stunden Zeit, bis sie Martin abholen konnte. In einen Bademantel gewickelt, warf sie sich wenig später erfrischt aufs Bett und schloss müde die brennenden Augen. Sie war viel zu nervös und besorgt, um schlafen zu können, aber sie wollte ein wenig die frische Kühle ihres Zimmers genießen und versuchen Ordnung in das Durcheinander ihrer Gedanken zu bringen. Sie empfand diesen Tag – seit seinem Beginn im Morgengrauen mit der Bootstour – als eine einzige Aneinanderreihung von unwirklichen Erlebnissen. Es kam ihr geradezu abenteuerlich vor, was an einem einzigen Tag alles geschehen konnte. Ohne dass sie es beabsichtigte, wurde sie plötzlich wieder an den Tod von Sophie erinnert. Sekundenbruchteile hatten an jenem Tag darüber entschieden, dass ihr Leben zu Ende ging und sich das Leben aller, die sie liebten, für immer veränderte. Traurig stellte Nora fest, wie sehr sie ihre Freundin auch jetzt noch vermisste. Schließlich verdrängte sie diese Gedanken und griff nach dem Telefon, um zu Hause anzurufen. Irgendwie brauchte sie die Gewissheit, dass es ihrem Mann und den Kindern gut ging.

Als sie später sauber und umgezogen mit einem Hemd von Martin in der Hand auf dem Weg zum Behandlungszimmer war, fühlte sie sich deutlich besser. Schließlich lebte er und würde ihrer Einschätzung nach auch keine bleibenden Schäden davontragen. Leise klopfte sie an die Tür, die sie nach Aufforderung öffnete. Martin grinste ihr entgegen. Er sah nicht mehr so blass und erschöpft aus und lag frisch verbunden auf der gesunden Körperseite auf der Liege. Die Schwester befreite ihn gerade von der eben durchgelaufenen Infusion, als aus dem Nebenzimmer der Arzt hereinkam. Er steckte eine kleine silberne Brille in seine Brusttasche, nickte Nora zu und blieb vor der Liege stehen.

»Na, Mr. Sanders, wie fühlen Sie sich jetzt?« Zu Nora gewandt bemerkte er: »Die Verletzung an der Schulter war eine Herausforderung. Echte Millimeterarbeit. Aber ich glaube, wir haben das richtig gut hinbekommen.«

Martin hatte sich langsam aufgesetzt, und Nora half ihm in sein Hemd. Der Arzt war inzwischen vor einem Schrank mit Medikamenten stehen geblieben und nahm nach kurzer Suche zwei Schachteln heraus, die er Martin reichte.

»So, Mr. Sanders, die Kapseln sind ein Antibiotikum. Nehmen Sie sie bitte dreimal täglich ein, bis die Schachtel aufgebraucht ist. Die kleineren Tabletten hier nehmen Sie nur bei Bedarf gegen Schmerzen.«

Martin nickte. »Alles klar. Haben Sie vielen Dank.«

Der Arzt lächelte und schüttelte ihm die Hand. »Keine Ursache. Ach, fast hätte ich es vergessen. In etwa zehn Tagen müssen die Fäden gezogen werden. Denken Sie daran, dann zu einem Arzt zu gehen.«

»Nun, das dürfte nicht schwer sein«, erwiderte Martin grinsend.

»Wir werden dann mitten in unserer Reportage über den Royal Flying Doctor Service in Cameron Downs stecken. Es sollte mich wundern, wenn sich dort nicht ein Arzt findet.«

Die nächsten Tage mussten auf Grund von Martins Verletzung etwas ruhiger gestaltet werden. Trotzdem konnten sie sich noch einiges im Park ansehen, und Nora fragte sich, wann dieses Land aufhören würde, die vorangegangenen Eindrücke immer noch ein weiteres Mal zu übertreffen. Am letzten Tag fuhren sie zum Flugplatz, um sich den National Park zum Abschied noch einmal aus der Luft anzusehen. Martin hatte sich dieses Ereignis nicht nehmen lassen wollen und versicherte Nora, dass er, wenn er sich vorsichtig bewege, schon gar keine Schmerzen mehr habe. Mit fünf weiteren Passagieren an Bord überflog die Cessna diese einzigartige Landschaft, die vom uralten Sandsteinplateau und bizarren Felsformationen über Mangrovensümpfe und Flussarme, endlose Eukalyptuswälder bis hin zu den bekannten Wasserfällen alles zu bieten schien, was man sich vorstellen konnte. Nora erkannte, dass sich allein für diesen Besuch im Norden Australiens ihre Reise schon gelohnt hatte. Zufrieden lächelnd stieg Martin nach ihr aus dem Flugzeug und schlenderte in seinen neuen australischen Stiefeln auf sie zu. Erleichtert darüber, dass es ihm so offensichtlich besser ging, konnte Nora ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

»Na, Crocodile Dundee?«

Er lachte. »Mach dich nur lustig!«

Sie sah ihn an. »Nein, im Ernst, weißt du, dass der Film hier im Park gedreht wurde?«

Er schüttelte den Kopf. »Das wusste ich tatsächlich nicht.« Martin streckte sich nun vorsichtig und hängte sich seine Fotoausrüstung über die gesunde Schulter. »Jedenfalls werde ich Superfotos für unsere Dokumentation beisteuern können.« Er grinste nun wieder breit. »Du wirst dich also mit dem Text ordentlich anstrengen müssen.«

Zurück in Darwin, konnte Nora bei einem Schaufensterbummel, den sie einmal ohne Martin unternommen hatte, nicht widerstehen und kaufte für ihn ein T-Shirt, das sie ihm am Abend im Hotel eingepackt überreichte. Er musterte das kleine Päckchen misstrauisch, nachdem er ihre diebische Freude bemerkt hatte. »Was ist das? Fliegt mir da gleich etwas um die Ohren? Oder warum freust du dich so?«

»Nein, mach es ruhig auf. Ich hab sofort an dich gedacht, als ich es entdeckte.«

Immer noch ein wenig zögernd packte Martin aus – und hielt schließlich ein zerbissenes, blutbeflecktes T-Shirt in der Hand, auf dessen Brustseite die Aufschrift prangte: »Crocodile Wrestling Team Darwin«. Er stutzte nur einen Moment, bevor er in ihr Gelächter einstimmte.

Von Darwin aus führte sie ihre Reise nach Perth, die moderne Großstadt am Indischen Ozean. Nora bedauerte, dass sie nur wenige Stunden zur Verfügung hatten, bevor sie den berühmten Zug Indian Pacific besteigen mussten, der sie in einer mehrtägigen Fahrt quer durch den Kontinent nach Sydney an den Pazifischen Ozean bringen würde. Ehe sie sich’s versahen, standen sie vor dem silbern glänzenden Zug. Die ungewohnte Umgebung des Zugs und das Entdecken ihres winzigen Schlafwagenabteils erfüllte Nora mit Spannung. Nie wurde es ihr langweilig, den Blick auf die sich im Fahren ständig verändernde und rasch vorbeigleitende Landschaft zu richten. Kaum etwas würde sie in Australien nachhaltiger beeindrucken als die Nullarbor Plain, die der Zug durchquerte. Eine völlig baumlose Ebene schier grenzenlosen Ausmaßes. Die schnurgeraden Eisenbahngleise führten über eine nahezu unermessliche Strecke von einem Horizont zum anderen, so dass man nicht wirklich daran glaubte, ihn je erreichen zu können. Darüber spannte sich ein strahlend blauer Himmel, und nur die Klimaanlage des Zugs ließ alle vergessen, dass einem draußen die Hitze eines Backofens entgegenschlagen würde. Nora empfand ein Gefühl der Freiheit, weil sie sich – ohne familiäre Verpflichtungen – ganz ihren Reiseeindrücken hingeben und ungezwungen die Bekanntschaft vieler Mitreisender machen konnte. Über die gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten war dies ganz selbstverständlich möglich. Die Sonnenaufgänge und -Untergänge verschlugen ihr jedoch jedes Mal die Sprache. In dieser Zeit war sie am liebsten allein und wusste, dass sich das einzigartige Farbenspiel in ihr Gedächtnis graben würde. Niemand sollte ihr diese Erinnerungen je wieder nehmen können.

Das Eintauchen in die quirlige Lebendigkeit Sydneys am Ende der Zugreise kam Nora zunächst irgendwie merkwürdig vor. Nach viertausenddreihundertfünfzig Kilometern quer durch die Weite des australischen Kontinents stand sie plötzlich neben Martin in der Central Station von Sydney und schaute sich um. Um sie herum pulsierte das Leben. Menschen hasteten vorüber, andere schienen Zeit zu haben und bummelten langsam zu ihrem nächsten Termin, wieder andere saßen an der Seite in roten Sitzecken und warteten offensichtlich auf ihre Anschlusszüge. Von der rund gewölbten Decke der Bahnhofshalle hingen Werbeplakate und australische Flaggen herab. Ein wenig verwirrt war Nora Martin nach draußen zu einem Taxistand gefolgt. Schon die erste Fahrt mit dem Taxi durch Sydney machte ihnen klar, dass sie in den zwei zur Verfügung stehenden Tagen nur einen Bruchteil dieser Metropole würden kennen lernen können. So war es auch, und Nora bedauerte das Gefühl, beim Entdecken dieser Stadt einem unterschwellig ständig vorhandenen Zeitdruck ausgesetzt gewesen zu sein, dieses noch nicht gesehen oder jenes noch nicht besichtigt zu haben. Besonders gefallen hatte ihr jedoch der Besuch im Taronga Park Zoo, den sie mit der Fähre erreichten. Nora hatte gelesen, dass das Wort »Taronga« in der Sprache der Aborigines »Schöner Blick« bedeutete, und tatsächlich lag der Zoo inmitten unberührten Buschlands und bot neben mehr als fünftausend Tieren einen einzigartig schönen Ausblick auf die Skyline von Sydney.

Noras großer Traum

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