Читать книгу Im Spiegel meiner Seele - Christina Enders - Страница 5

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Tage vergingen, die sie nicht richtig wahrnahm. Sie ging nur ab und zu zur Toilette, trank was und knabberte an irgendwelche Reste, die sie im Vorratsschrank zu liegen hatte. Allmählich verschwand sie und sie empfand es für einen wahren Segen nichts mehr fühlen zu müssen. Doch irgendwann war auch die letzte Schokolade aufgegessen und sie musste sich mal wieder etwas mehr bewegen, sich vielleicht mal wieder duschen, vor allem aber ihrer Vorräte auffüllen. Aber nicht heute, dachte sie und schob sich tiefer unter die Decke. So verging ein weiterer Tag. Am nächsten Morgen stieg sie aus ihrem Bett und stolperte über ihre leere Weinflasche und im Spiegel sah sie, was für eine bedauernswerte Person sie abgab. Reiß dich endlich zusammen, hauchte sie es sich selbst zu und ging als Erstes unter die Dusche und war danach wieder ein Stückchen mehr Mensch. Sie ging nach unten und sah, dass ihr Anrufbeantworter aufblinkte. Sie hörte die Nachricht ab. Es war wieder ihre Mutter.

«Schatz, denkst du an meinen Schal, du weißt, wie wichtig er mir ist. By.»

Du mich auch, dachte sie. Schaute kurz zu den Mülltonnen, die schon entleert wurden. Sorry, aber der Schal ist futsch, ging ihr ein ehrliches Lächeln über den Lippen und es fühlte sich richtig gut an.

Sie griff nach ihren Autoschlüssel und ging nach draußen. Für einen Moment stach die Sonne in ihren Augen und empfand es fast unerträglich, dass sie überhaupt noch so hell strahlen konnte. Sie setzte sich in ihr Auto, holte als erstes ihre Sonnenbrille aus dem Handschuhfach. Setzte sie auf. Schon besser, dachte sie und startete den Motor und fuhr in den Supermarkt eine Ortschaft weiter, weil sie keine Lust hatte, mit irgendjemand über ihre Situation zu reden. Ihr Sinn war mehr nach Anonymität, was in den kleinen Ortschaften kaum möglich war. Noch immer ziemlich planlos und auch etwas ziellos schleifte sie sich durch die Gänge, ertappte sich dabei, die Frühstücksflocken einzukaufen, die ihr Sohn immer mochte, stellte sie aber sofort wieder zurück. Packte alles, was sie brauchte in den Wagen und ging an die Kasse und floh zurück zu ihrem Auto. Blieb einen Moment unbewegt sitzen und fuhr los. Zu Hause angekommen stellte sie ihr Auto ab, stieg aus und grüßte ihre Nachbarin, die gerade ihren Briefkasten entleerte. Doch bevor diese ein Wort verlieren konnte, schnappte Sjena ihren Einkauf und verschwand in ihrem Hausinnern und räumte geschäftig ihre Sachen weg. Ging anschließend mit einer XXL-Dose Schokoeis auf ihr Sofa. Tippte sich durch die Programme und blieb bei einem Spielfilm stehen, der sie zum Nachdenken anregte. «Ein Tag und eine Nacht» hieß der Film. Eine Frau, die Mitte 30-ig erst ihren Job verloren hatte, ein Mann hatte, der sie mit der besten Freundin betrog. Zu allen übel war es seine Wohnung und landete so auch noch auf die Straße, allein mit ihrem Koffer. Auf dem Konto hatte sie kaum 300 Dollar und ein paar Cent im Portemonnaie. Was für ein lausiges Gefühl, nichts zu haben und nichts zu sein. Aus dieser Laune heraus, beschloss sie, Schluss mit dem Leben zu machen, verbrauchte den letzten Dollar auf ihrem Konto, kleidet sich schick ein und buchte sich eines der teuersten Suiten in der Stadt. Als die Sonne am Aufgehen war, stand sie auf dem Dach eines Luxushotels und wollte sich im Höhepunkt ihres Lebens fallen lassen. Nun bei der Protagonistin ging es gehörig schief, sie wurde zu früh entdeckt und verliebte sich letztlich in ihren Lebensretter und segelte mit ihm anschließend in den Sonnenuntergang. Das war der schwülstige Teil des Filmes, der ihn irgendwie ruinierte. Im wahren Leben sah das sicherlich anders aus … aber die Idee war gut. Den Höhepunkt des Lebens anstreben, was für ein befreiender, berauschender Gedanke. Keine unterdrückten Wünsche, kein Zwang, um dann einfach loszulassen, vom Leben. Sie lächelte, ein guter Plan, der ihr die Farbe auf ihrem Gesicht gedeihen ließ. Machte den Fernseher aus und räumte auf, um zeitig ins Bett zugehen. Feilte aber gedanklich an der Idee, vom Leben loszulassen. Schlief darüber hinaus ein. Am nächsten Morgen wachte sie auf und hatte einen Plan.

Zunächst musste sie dafür sorgen, dass auf dem Friedhof alles gerichtet war, musste die Gräber bepflanzen. Die Anteile ihres Mannes verkaufen, das Haus hier konnte sie Sam überlassen. Sollte Briefe an ihre Mutter und Freunde schreiben. Aber ihr Ableben sollte nicht hier stattfinden, sondern an einem Ort, an den sie sich treiben ließ. Sie würde sich einfach in einen Zug setzen, den Zug die Richtung bestimmen lassen und abwarten. Was für eine verrückte Idee, aber eine, die ihr das Lächeln zurückbrachte. Ihr den Mut gaben, sich aufzuraffen, um ihr Leben wieder anzupacken.

Als Erstes fuhr sie zur Gärtnerei, kaufte zwei schöne Rosenstöcke. Ihre Wahl war auf eine weiße, klein blühende und eine gelbe, schön duftende Rose gefallen. Zusätzlich kaufte sie noch einen weiß grünen Efeu und kleine blaue Glockenblumen, die ein wunderschöner Bodendecker abgeben würde. Der Mann in der Gärtnerei hatte ihr garantiert, dass es alles langlebige und frostresistent Blumen waren, die wenig Pflege brauchten. Sie ließ alles ins Auto verladen, bezahlte und fuhr anschließend nach Hause, packte alles auf ihr Fahrrad um, holte noch eine Schaufel und Handschuhe aus dem Haus und fuhr zum Friedhof. Die Sonne, gab erste warme Sonnenstrahlen ab und verlieh so ihrer Blässe einen leicht rosigen Teint. Das Bewegen in der freien Natur tat ihr gut.

Mit drückenden Herzen betrat sie den Friedhof. Sie war von ihrem Fahrrad abgestiegen und lief langsam zu den Gräbern. Als sie vor den beiden Gräbern stand, wo ihr Mann und ihr Sohn vor etwas mehr als einer Woche beerdigt wurden, zog sich alles in ihr zusammen, die Trauer in ihrem Herzen wollte sie zerreißen. Es hatte aber auch etwas Tröstliches hier zu sein, ganz nah bei ihren Lieben. Tief durchatmend stellte sie ihr Fahrrad ab und räumte zunächst alle verblühten Blumenkränze und Gestecke weg und pflanzte anschließend die Rosen, den Efeu und die Glockenblumen ein. Gab allen etwas Wasser und schaute mit einem Kloß im Hals auf die Grabstätten. Sie sahen anders, wie die Gräber neben an aus, aber für sie waren sie so genau richtig.

Sie atmete tief. Bald sind wir wieder vereint, dachte sie mit einem Hauch Wehmut.

Sie wollte gerade den Rückzug antreten, da trat ihre Nachbarin an sie heran. Ihre Nachbarin, die sie schon kannte, als sie noch ein Kind war. Immer wenn ihre Mutter wieder mal anderes zu tun hatte, saß sie an ihren Küchentisch und aß ihren Auflauf aus Hühnchen und Kartoffelbrei.

«Sjena geht es Ihnen gut? Ich wollte Sie schon gestern ansprechen, doch Sie waren so schnell zurück im Haus verschwunden.»

Sjena schaute auf und lächelte «Oh, Mrs Grandel.»

«Ich habe Sie hier pflanzen sehen und ich dachte mir, vielleicht haben Sie ja Lust mal zu mir zum Essen zu kommen, ich machen einen Auflauf, wenn Sie den noch mögen, …»

«Das haben Sie nicht vergessen …,» lächelte Sjena etwas.

«Nein, Ihre Mutter hat sie oft allein gelassen …»

«Ich weiß, ist eine Menge Zeit seitdem vergangen. Meine Grandma ist verstorben und wir sind dann irgendwann weggezogen und das Haus stand sehr lange leer. Aber ich wusste immer, dass ich hierher zurückkommen würde. Meine Mom konnte das irgendwie nie verstehen, hätte den alten Kasten lieber verkauft, doch das konnte sie nicht, weil, meine Großmutter mir das Haus überschrieben hatte, einem Kind, das hat sie glaube ich nie verwunden. Deswegen sind wir auch von hier weg. Sie hat den Schlüssel herumgedreht und das Haus hat sie danach nicht mehr interessiert. Also wartete es so lange auf mich, bis ich groß genug war, es zu beziehen.»

«Ihre Grandma wusste wohl, dass das Haus ihr einziges Zuhause sein wird. Wir hatten immer ein gutes, freundschaftliches Verhältnis und ich weiß noch, dass sie sich oft über deine Mutter geärgert hat.»

«Stimmt, ich kann mich nur vage daran erinnern, dass die beiden sich oft gestritten haben. Dann wurde sie krank und meine Mutter gab sie in ein Heim, wo sie dann gestorben ist. So viele Erinnerungen habe ich zwar nicht mehr daran, aber es stimmt auch, dass es sich wie ein Heimkommen angefühlt hat, als ich hier, mein erstes Bein über die Schwelle getreten habe. War aber auch ein hartes Stück Arbeit, es wieder instand zu setzen, es musste von Grund auf saniert werden. Der jahrelange Leerstand hatte grobe Spuren hinterlassen, doch es hat sich gelohnt, wir haben uns da immer sehr wohlgefühlt.»

«Wenn man eine Familie hat, braucht man ein Nest zum Wohlfühlen.»

«Ja, das stimmt, aber plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war.»

«Der Schmerz sitzt noch sehr tief, das ist normal, als mein Mann vor 3 Jahren verstarb, konnte ich es auch lange nicht begreifen. Zumal auch er vital und gesund war. Wenn sie uns von heute auf morgen genommen werden, ist es besonders schwer. Ich war auch gerade bei ihm, habe darüber nachgedacht das Haus zu verkaufen und zu meinen Kindern zu ziehen. Doch hier bin ich nun mal zu Hause und meine Kinder haben eh keine Zeit für mich. Meine Enkel sind schon fast groß, doch wirklich kennen tu ich sie nicht. Was wirklich schade ist.»

«Oh, das tut mir leid, ich … Sorry, ich war wohl auch immer zu beschäftigt, um mal über den Gartenzaun zu schauen.» Lächelte Sjena entschuldigend.

«Nein, schon gut, ich bin es gewohnt, allein zu sein, aber vielleicht … als ich sie hier sah, vielleicht mögen sie ja mal zum Essen kommen …»

«Hühnchen Auflauf mit Kartoffelbrei, wie früher?»

«Wenn Sie den noch mögen?»

Sjena atmete tief, gab sich einen Ruck und nickte. Sie sagte zu. Schwelgen wir ein wenig in alte Zeiten, dachte Sjena.

Sie gingen gemeinsam nach Hause und verabredeten sich für den nächsten Tag. Mrs Grandel lächelte sie an. Es war ihr eine Freude.

Sjena ging in ihr Haus, sie holte ihr Smartphone aus der Tasche und ging sich die Hände waschen. Als sie zurückkam, schaute sie auf ihrem Display und sah, dass Sebastian sie angerufen hatte. Sebastian Behrens war Bens Partner, gemeinsam führten sie ihr Kreativbüro. Er wollte sicherlich nur wissen, wie es jetzt, wo Ben nicht mehr da war, weiter ging. Sie wollte eigentlich nicht darüber nachdenken, doch für ihr Vorhaben sollte alles geregelt sein, also rief sie Sebastian zurück.

«Sjena, wie geht es dir, schön, dass du gleich zurückgerufen hast.»

«Ja, was gibt es denn so Dringendes?»

«Weißt du schon, was du mit den Anteilen deines Mannes machen möchtest? Ich habe gehört, du hast deine Zusammenarbeit mit Leon aufgekündigt.»

«Stimmt … Hast du Angst, ich könnte dir jetzt auf die Pelle rücken?»

«Nein, du wärst sicherlich auch ein Gewinn für die Agentur.»

«So findest du.»

«Du nicht?»

«Ich weiß nicht, ich bin kein Produkt-Designer.»

«Vielleicht willst du nur stille Teilhaberin sein.»

«Dann müsstest du mich nicht auf einmal auszahlen und ich könnte mich einfach zurücklehnen und der Dinge harren.»

«Vielleicht sollten wir das bei einem angenehmen Essen klären. Was hältst du von Freitag 12 Uhr.»

«Ja, natürlich, ich notiere es mir. Dann bis Freitag.» Sie legte auf und kam ins Studieren. Sebastian war im Grunde ein großes Schlitzohr, der bestimmt versuchen würde, sie zu übervorteilen. Ben hatte immer gesagt, er ist genial in seine Ideen und schätze seine Kreativität. Doch er war auch immer etwas verschlagen. Diese Verschlagenheit hatte ihn auch so manch Auftrag eingebracht, also sollte sie vorsichtig sein, wenn sie mit ihm redete.

Im Spiegel meiner Seele

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