Читать книгу Alles aus den Fugen - Christina Hupfer - Страница 10

Kapitel 9

Оглавление

Kira

Wo hab ich denn nur...? So durcheinander war sie schon lange nicht mehr gewesen, aber auch nicht so unruhig, so lebendig. Sie musste sich langsam zusammenreißen, denn sie wollte ihre Aufgabenblätter unbedingt heute noch abschicken. Ihr Studium war ihr doch wichtig. Aber am liebsten würde sie statt über Syntax und Semantik nachzudenken, den nächsten Bus nehmen, um sich zu überzeugen ob in der Gartenanlage alles in Ordnung war. Ihr Herz pochte beim Gedanken an Jeph. So hatte es nicht mal geschlagen als sie gestern im Sanitätswagen neben Michael saß. Und der sah eindeutig vorzeigbarer aus. Immerhin hatte ihr die ganze Aktion heute Nacht einen wunderbar tiefen Schlaf beschert.

Schon auf der Fahrt nach Hause hatte sie den größten Teil der Seifenoper verpasst, die ein junges Paar in voller Lautstärke im Bus aufführte. Dabei hätte es sie brennend interessiert, was sie noch an unflätigem Vokabular zu bieten hatten! Sie war erst wieder aufgewacht als ihr Handy aufdringlich zu klingeln begann.

„Mama“, hatte sie geseufzt und betreten aufs Display gestarrt. Was sollte sie nur sagen? Ganz sicher nichts darüber, was sie heute getrieben hatte. „Hallo Mama?“

„Kira, mein Spatz, endlich komme ich dazu, dich anzurufen. Du hast bestimmt schon gewartet! Es ist unglaublich viel los hier in München, und wahnsinnig anstrengend. Die meisten vom Kurs sind ganz in Ordnung, und wir haben heute schon eine Einführung bekommen. Was soll ich denn noch alles über Buchhaltung und Büro-Strategie lernen? Ich arbeite doch nur halbtags und habe keinen Einfluss auf irgendwelche Abläufe. Aber morgen Abend gehe ich noch zu einem Vortrag, der wirklich was für mich ist. Stell dir vor, die Liga der Heilpraktiker tagt auch in unserem Hotel! Und ich hab eine sehr nette Frau kennen gelernt, die nimmt mich mit. Hört sich unglaublich interessant an. Es geht um...“

Oh je, noch einem Versuch mit neuen Medikamenten bin ich jetzt wirklich nicht gewachsen, dachte Kira und bemühte sich weiter zuzuhören.

„...bin jetzt stehend ko! Bei dir alles in Ordnung? Wie geht es dir? Was ist denn das für ein Krach?“

„Oh... Äh... Fernsehen. Bin eingeschlafen.“ Sie bedeckte das Telefon mit ihrer Jacke, um die Geräusche zu dämpfen. „Ich bin auch furchtbar müde. Gehe gleich ins Bett.“

„Vergiss deine Tabletten nicht. Und nimm zur Sicherheit noch ein paar Globuli. Am besten die Nummer sieben.“

Durch das gesamte Telefonnetz hätte zu hören sein müssen wie ihr Herz kurz aussetzte. Sie hatte den ganzen Tag keine einzige Tablette geschluckt! Dafür hatte sie einen Fremden aufgelesen, der in eine Mordgeschichte verwickelt war und sich jetzt in der Gartenhütte der Nachbarin einnistete. Und fremd war er. Was wusste sie schon über ihn?

„...hol dir bitte nichts mehr vom Chinesen. Dieses Virus... Hallo Kira, bist du noch dran?“

„Oh, ja, nichts vom Chinesen holen. Versprochen.“ Sie hatte sich durch das Gespräch gekämpft und es geschafft, ihre heutigen Erlebnisse für sich zu behalten. Sie wusste, ihre Mutter hätte bei ihren Workshops sonst keine ruhige Minute mehr, würde alles stehen und liegen lassen und innerhalb der nächsten Stunden auf der Matte stehen. Nein, es ist wirklich besser ich sage nichts, redete sie sich zu. Bis sie wieder zurück ist, wird sich alles geklärt haben, und Jeph ist wieder verschwunden.

„Ja, ja, die Globuli nehm ich noch. Mach du dir keine Sorgen und genieße die Großstadt!“

Endlich zu Hause hatte sie wenigstens ihre Medizin für die Nacht samt den empfohlenen Kügelchen eingenommen und war dann sofort eingeschlafen.

* * *

Entschlossen wandte sich Kira wieder ihren Studienunterlagen zu. Bis spätestens Ende kommender Woche musste sie ihre anstehenden Arbeiten eingesandt haben! Sie hatte zwar einiges vor der geplanten Reise nach Paris erledigt, aber es warteten noch ein paar Stunden intensiver Arbeit auf sie. Ihre Krankheit und die gestrigen Ereignisse hatten alles verzögert.

Krankheit!? „Sch...!“ Hatte sie ihre Pillen heute morgen schon geschluckt? Erleichtert stellte sie fest, dass das aktuelle Tablettenfach in der Box, die sie sich wöchentlich sorgsam richtete, leer war.

Auf dem Schreibtisch warteten ihre Unterlagen. Unschlüssig nahm sie die Fragebögen zur Hand, begann mit den Aufgaben. Sie liebte das Schreiben, das Spielen mit Wörtern und Sätzen. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Zwischen ihren Wortbausteinen tummelten sich vermehrt Strichmännchen und Blümchen. So würde ihr die Jury statt einem ordentlichen Zeugnis die Empfehlung geben, sich umgehend an einen Psychiater zu wenden. Sie gab auf.

Da ihre Gedanken sowieso ständig um die Situation im Schrebergarten kreisten, konnte sie sich auch gleich auf den Weg machen. Den Schreibblock, um den er sie gebeten hatte, und ein paar Stifte und Briefumschläge hatte sie schon zusammengesucht. Sie packte eine leere Heftmappe dazu, und — nach kurzem Zögern — das Schreibmäppchen, das Erna ihr vor kurzem geschenkt hatte.

Der nächste Bus fuhr erst um vierzehn Uhr. Sie würde noch eine Kleinigkeit zu sich nehmen, und überrascht stellte sie fest, dass ihr beim Gedanken an Essen das Wasser im Mund zusammen lief. Er hatte bestimmt auch Hunger. Eine Büchse Wurst fand sich im Vorratsschrank. Brot konnte sie unterwegs kaufen. Und in Ernas Sandgrube im Garten fanden sich bestimmt noch ein paar Möhren. Vielleicht gab es auch schon die ersten Radieschen. Ernas Begeisterung für alles was die Erde hergab, hatte sich auf sie übertragen, und sie konnte sich über kleine grüne Spitzen, die ans Licht drängten genauso freuen wie über eine gelungene Redewendung.

So langsam sollte sie sich aber mal aus ihrem schlabbrigen Schlafanzug schälen und sich anziehen. Jeans waren schließlich auch bequem und das T-Shirt von gestern tat es noch. Die Haare, na ja, die konnte man zusammenbinden. Sie bückte sich nach ihren Schuhen. Wieso wurde ihr auf einmal so übel? Das Brot, von dem sie gerade noch mal abbeißen wollte, landete auf dem Tisch, sie hielt sich fest und fühlte sich sterbenselend. Ihre Knie gaben nach. Dann begannen das Herzklopfen und die Schweißausbrüche. Das ganze Programm. Sie schaffte es gerade noch bis auf die Couch, wo sie matt zusammensank.

„Nein, nein!“, wimmerte sie.

Doch!, lästerte eine innere Stimme. Das war die Strafe für deine Nachlässigkeit gestern.

Die Sonne schien ungerührt zum Fenster herein, und im hellen Licht flogen winzige Staubteilchen. Sie legte sich hin und drehte sich zur Wand. Sollten sie doch fliegen. Sie lag nur da. Sie würde jetzt eben nicht losfahren. Sobald sie es schaffte aufzustehen würde sie den Rollladen runterlassen und endgültig die Hoffnung begraben, dass es irgendwann wieder besser werden würde. Und sie würde die Idee, die ihr gekommen war, nicht mit Jeph besprechen können.

Jeph! Er würde auf sie warten, und sie könnte ihm nicht mal Bescheid geben. Ihr Magen revoltierte schon wieder, und sie erreichte gerade noch rechtzeitig das Badezimmer, wo sie sich in hohem Bogen übergab. Ihr Inneres stülpte sich nach aussen. Mehrmals! Sie würgte und spuckte, bis nichts mehr kam. Spülte ewig mit frischem Wasser nach, um den üblen Geschmack zu vertreiben, aß ein Stück trockenes Brot, putzte wütend die scharf riechenden Spritzer weg, danach ihre Tränen und stellte fest, dass sie sich plötzlich viel wohler fühlte. Zaghaft fing sie an, zu glauben, dass der Tag doch noch etwas anderes als Sofapolster für sie bereit hielt.

Ab sofort würde sie sich ganz genau an ihren Medikamentenplan halten! Wie spät war es? Zwanzig Minuten nach dreizehn Uhr. Das würde knapp! Im Treppenhaus fiel sie fast über den Nachbarjungen und vor der Tür rempelte sie einen alten, kurzsichtigen Herrn an, der die Klingelschilder studierte und eine Familie Schmitz suchte. Zu jemandem namens Schmitz würde er gut passen mit seiner Schiebermütze und den ausgeklappten Ohrenschützern. Der musste doch zerfließen bei dieser Wärme. ‚Viel zu warm für die Jahreszeit‘, hatte der Nachrichtensprecher sich wie bald jeden Tag wiederholt.

„Tut mir leid, aber hier wohnen die nicht.“ Sie musste weiter.

Die Tasche auf ihrem Rücken zog heftig nach unten. Papier ist schwer. Wurstdosen, Brot und Äpfel haben auch ihr Gewicht. Der Weg von der Haltestelle bis zu ihrem Ziel brachte sie ins Schwitzen, und sie merkte, dass sie bis auf den Kanten Brot noch nichts im Magen hatte. Aber dem Hunger konnte sie ja bald abhelfen. Beim Gedanken an ein Picknick im Grünen bekam sie Appetit wie schon lange nicht mehr.

Schon von weitem sah sie die geöffnete Tür des Gartenhauses. Die Bank, die unter dem Vordach im geschützten Winkel einer vorgezogenen Seitenwand stand, war sauber abgeräumt. Nur noch eine mit Kleinkram gefüllte Klappkiste war darauf abgestellt. Wo hatte er nur das ganze Material hingetan? Wo war er überhaupt? Und wo waren die Räder....? Nichts bewegte sich, alles war unheimlich ruhig. Es konnte doch nicht sein...? Aber — ein armer Typ ohne Geld hatte sicher ein paar Freunde, die ihm helfen könnten, alles mögliche zu verkaufen...

Beunruhigt lief sie schneller und starrte kurz darauf ungläubig in den sorgfältig geleerten Raum. Nur auf dem Boden sah sie Fußspuren in einer Schicht erdiger Krümel, und auf der Arbeitsplatte stapelten sich die Tüten mit Ernas Häkeldeckchen.


Alles aus den Fugen

Подняться наверх