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Kapitel 7

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Kira

Bin ich von allen guten Geistern verlassen?, fragte sich Kira, während sie schnell eine wärmere Jacke aus dem Schrank holte und eine Packung Kekse und Traubenzucker in den Rucksack warf, bevor sie wieder nach unten eilte. Der Aufstieg, die drei Stockwerke hoch in ihre Wohnung, hatte sie an ihrem Vorhaben zweifeln lassen. Es hatte viel zu lange gedauert, bis sie wieder normal atmen konnte. Das wäre auch ohne diesen Beutel mit dem blöden Briefkasten — war der aus Blei??? — den Jeph ihr einfach dagelassen hatte, anstrengend genug gewesen. Aber das war es nicht, was sie zögern ließ. Sie würde sich anmaßen, über den Besitz anderer Leute zu verfügen. Das Rad ihrer Mutter war zwar schon ewig nicht mehr bewegt worden. Und das von Erna würde sie sich ausleihen. Sie war der großzügigste Mensch, den sie kannte, und hätte sicher nichts dagegen. Aber ihre Hütte einem Fremden zu öffnen, ihr kleines Schmuckstück, so liebevoll behäkelt, so persönlich.

Nur weil der Typ mal ihr Schwarm gewesen war und jetzt trotz seiner Hilflosigkeit immer noch diese faszinierende Ausstrahlung besaß, musste es nicht heißen, dass er sich angemessen verhielt. Sie wusste überhaupt nicht, was sie sich mit ihm eingehandelt hatte. Doch sein verlorener Gesichtsausdruck als er seine Obdachlosenunterkunft erwähnte. Sie konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen.

Der erste Kilometer war schwer, sehr schwer. Obwohl sie die Räder den kleinen Hügel hinauf geschoben hatten, mussten sie oben stehen bleiben. Beide!

„Wir sind so Helden...“, keuchte Jeph. „Komm Mädchen, jetzt gehts bergab!“

So schön, so frei, so luftig. Die Räder surrten, der frische Wind kühlte die Wangen, und das Strampeln war ein Vergnügen. Vorbei an Ampeln, über Kreuzungen und Brücken, durch Alleen. Der Verkehr wurde weniger, die Luft weicher, und bald darauf sahen sie die Gartenanlage vor sich.

Sie war seit Wochen nicht mehr hier gewesen. Diese elende Krankheit hatte auch das verhindert. Im vergangenen Sommer konnte sie Erna viel öfter besuchen. Ihre Mutter hatte sich meist recht schnell aus dem Garten verabschiedet. Diese Art Arbeit mochte sie nicht so gerne, aber sie war dankbar, wenn sie ihre Tochter gut versorgt wusste und sie unaufschiebbare Dinge in Ruhe erledigen konnte.

In ihren besseren Phasen arbeitete Kira an Ernas Geschichte. Während Erna Unkraut jätete, Erbsen pulte und Beeren zupfte, erzählte sie aus ihrem Leben, und Kira machte sich eifrig Notizen. Dann wieder las sie ihrer betagten Freundin bei einer Tasse Tee Passagen aus den bereits fertigen Kapiteln vor, was diese mit größtem Vergnügen kommentierte. Aber sobald Kira auch nur das kleinste Anzeichen von Müdigkeit zeigte, wurde sie energisch auf die Liege gepackt, die Erna extra für sie besorgt hatte. Warm zugedeckt durfte sie den Vögeln lauschen, dem Summen der Insekten, und dem Rattern der Rasenmäher, während die alte Dame in den Beeten hantierte.

Den Geruch von frisch geschnittenem Rasen, feuchter Erde und rauchenden Grillfeuern hatte sie aber noch nie so intensiv wahrgenommen wie an diesem Abend. Die letzten Tage waren für die Jahreszeit viel zu warm gewesen, und in einzelnen Parzellen waren bereits Gärtner am Werkeln.

Sie schoben die Räder über den gekiesten Weg, grüßten mal rechts die Schmids, links die Bauers und hatten bald fast die gesamte Anlage durchlaufen.

„Da hinten, die letzte Parzelle vor dem Wald, das ist unsere. Links davon, hinter der Brombeerhecke ist nur noch die von Herrn Karrer. Aber wie es aussieht, ist er gar nicht da“, sagte Kira enttäuscht.

Sie traten durch den Rosenbogen. Ernas ganzem Stolz. Sahen Beete, die nicht so gepflegt aussahen wie die der Nachbarn, und ein Stück Rasen, dessen sattes Grün für Ende Februar fast unnatürlich wirkte. Die Räder stellten sie vor das Gartenhaus, das Kira auf einmal unglaublich winzig erschien. Erst jetzt wurde ihr Jephs Größe bewusst. Bestimmt war er zwanzig Zentimeter größer als sie. Na ja, in seiner Situation durfte er sich nicht beklagen, wenn er mit angezogenen Beinen schlafen musste.

„Der Schlüssel ist unter einem Stein versteckt. Gleich hab ich ihn.“ Ein kurzer Seitenblick auf ihn reichte, um zu sehen wie erledigt er war. „Und dann machen wir uns erst mal eine schöne Kanne Tee. Den haben wir auch dringend nötig!“

Sie fühlte sich wie eine der Protagonistinnen ihrer geliebten Mittelalterromane, die gerade einen Marathon durch irgendwelche Folterinstrumente hinter sich gebracht hatte. Keinen Meter wäre sie weitergefahren.

„Ach du Sch...!“

„Oh, nein!“

Die Tür war offen. Aber in dieser Hütte würde heute niemand übernachten. Entsetzt starrten sie in das vollgestopfte Innere. Eine Liege war zwar zu erkennen. Sie lehnte zusammengeklappt an der Wand, gehalten von unzähligen Gartengeräten mit blinkenden Zinken und Schaufeln. Der Tisch balancierte oben drüber. Und auch der war noch belegt mit gehäkelten Gardinen und Deckchen, säuberlich zusammengelegt in mehreren Plastiktüten. Auf der Arbeitsplatte unter dem winzigen Fenster stapelten sich turmhoch leere Blumentöpfe, Säcke mit Blumenerde, Düngemittel, Pflanzenschutzmittel, Bindedraht, und noch so einiges von dem was man als Gärtner braucht. Jeder Kubikzentimeter des kleinen Raums war ausgefüllt. Als letztes Bollwerk versperrte der Rasenmäher den Eintritt ins erhoffte Paradies. Jeph hätte schon ordentlich schrumpfen müssen, um sich darin einzurichten.

„Oh nein, das tut mir so leid. Was machen wir jetzt nur?“

Sie war schwach vor Enttäuschung, aber sie konnte sich nicht mal setzen. Die Gartenbank vor der Tür war bedeckt mit einer schwarzen Plane, unter der sich weitere, sicher unentbehrliche Dinge für den Gartenbau abzeichneten.

Das ganze Zeug aus dem Anbau! Sie hatte nicht daran gedacht. Es war ihr vollkommen entfallen. Erna hatte erzählt, dass der kleine angebaute Schuppen, in dem sie ihr Werkzeug aufbewahrte, undicht war, und dass sie Holzbalken und Dachpappe bestellt hatte. Besagter Neffe wollte ihr beim Reparieren helfen. So weit war es offenbar nicht gekommen.


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